Interview: Teure, billige Lebensmittel
Interview: "Billige Lebensmittel sind für die Gesellschaft oft die teuersten!"
Herr Müller, welche Herausforderungen machen es unausweichlich, eine neue Schaden-Nutzen-Bilanz für unser Lebensmittelsystem aufzusetzen?
Die ökologischen und sozialen Folgen der herkömmlichen Art, Lebensmittel zu erzeugen und zu konsumieren sind riesig und diese Kosten werden in den Preisen nicht abgebildet. So hat das Lebensmittelsystem zwischen 30 und 50 Prozent Anteil an den klimaschädlichen Treibhausgasen. Ein Drittel aller produzierten Lebensmittel weltweit werden weggeschmissen, das sind 1,3 Milliarden Tonnen jedes Jahr. Würde man Lebensmittelabfälle als ein Land betrachten, dann wäre es nach China und den USA der drittgrößte Emittent von klimaschädlichen Gasen!
Außerdem sollen in vielen Ländern billige Lebensmittel Sozialpolitik ersetzen. Anstatt Armut wirksam zu bekämpfen, gibt es einen gewaltigen Druck auf Bauern, billigst zu produzieren. Das hat weitreichende Auswirkungen: Viele Bauern insbesondere in Entwicklungsländern sind arm, die Umwelt wird ausgebeutet und ungesunde Lebensmittel führen zu rapide steigenden Gesundheitskosten. Nicht nur in den industrialisierten Ländern nehmen Diabetes und krankhaftes Übergewicht zu. Die Folgen können wir sehen, die steigenden Gesundheitskosten sind in einer anderen Statistik.
Und der Versuch, das industrielle Landwirtschaftsmodell aus Europa oder den Vereinigten Staaten nach Afrika zu exportieren, würde dazu führen, Hunderte von Millionen von Kleinbauern von ihrem Land zu verjagen. Das vergrößert die Slums in den Städten sowie die nationalen und internationalen Migrationsströme. Die Landwirtschaft hat mit 1,5 Milliarden Beschäftigten weltweit immerhin die größte Beschäftigungswirkung. Die Automobilindustrie liegt dagegen unter 50 Millionen Beschäftigte. Es ist also unvermeidlich über die Lebensmittelsysteme der Zukunft nachdenken. Die Frage, wie sich eine Bevölkerung von 10 Milliarden im Jahr 2050 ernähren wird, entscheidet über die Gesundheit der Menschen und des Planeten.
Was war für Sie das überraschende Moment der Studie?
Wie wenig bisher die vorliegenden Erkenntnisse systematisch zusammengefügt wurden. Die Studie bringt die erstaunliche Komplexität unseres Lebensmittelsystems in einen Analyserahmen! Wir haben die Bedeutung der Dienstleistungen der Natur, etwa der Bodenfruchtbarkeit, der Bestäubung von Pflanzen durch Insekten und Bienen etc., für die Produktion von Lebensmitteln einbezogen, haben auch analysiert, wie stark die landwirtschaftliche Tätigkeit in den Naturhaushalt eingreift, wie viele Arbeitsplätze sie schafft, wie Lebensmittelverarbeitung stattfindet und was die gesundheitlichen Folgen sind.
Die Produktion und der Konsum von Lebensmitteln muss in einem System betrachtet werden und kann nicht – wie es heute geschieht auf die Produktion von Tonnen per Hektar reduziert werden.
Was sind die zwei wesentlichen Ergebnisse Ihrer Studie?
Erstens, dass wir unser Lebensmittelsystems nur verstehen und richtig bewerten können, wenn wir es in seiner Gänze, mit all seine Zusammenhängen untersuchen. Eine reine Bilanzierung nach Produktivität pro Hektar greift zu kurz. Zweitens, und das ist die Hauptaussage unseres Berichts, sind die scheinbar billigen Lebensmittel für die Gesellschaft sehr oft die teuersten. Denn in Wahrheit zahlen wir aufgrund versteckter Kosten dreifach für sie. Erstens an der Kasse beim Einkauf. Zweitens über die Kosten für verursachte Umwelt- und Gesundheitsschäden. Drittens tragen wir als Weltgemeinschaft die sozialen Kosten, wenn unser agrarindustrielles System immer mehr Kleinbauern von ihrem Land vertreibt.
Lassen Sie uns diese versteckten Kosten an einem Lebensmittel exemplarisch aufzeigen.
Nehmen wir die Produktion von Mais in den Vereinigten Staaten. Für die herkömmliche Agrarwissenschaft stellt sich diese als hocheffizient dar. Gewirtschaftet wird mit neuen Technologien, gut ausgebildeten Farmern und hohen Erträgen. Schauen wir auf die versteckten Kosten stellt sich das anders dar. Erstens dient ein nur ganz geringer Teil von diesem Mais dem Direktverzehr. Ein Großteil wird als Tierfutter eingesetzt und ermöglicht, zehntausende Tieren in hochkonzentrierter Form billig zu mästen. Diese Tiermast wiederum ist nur mithilfe von Antibiotika möglich. Und wir wissen, dass Antibiotikaresistenzen eine der großen Gefahren für das menschliche Gesundheitssystem sind.
Zweitens, ein großer Teil des Mais wird in Fructose umgewandelt und fließt in die industrielle Produktion von Softdrinks. Diese zählen zu den Hauptverursachern für krankhaftes Übergewicht und Diabetes. Je billiger wir also Fructose produzieren, umso höher fallen die Kosten zur Behandlung dieser menschlichen Erkrankungen aus.
Drittens werden in der Maisproduktion sehr viel Chemikalien und Düngemittel eingesetzt. Diese werden über den Mississippi in den Golf von Mexiko gespült. Große Teils des Golfs von Mexiko sind bereits heute klinisch tot, ohne Sauerstoff. Und zuletzt sei der enorme Kostendruck erwähnt, unter dem die Bauern leiden. Diese Produktion externalisiert also ihre Kosten –– wir zahlen im Umwelt und Gesundheitsbereich einen sehr hohen zusätzlichen Preis.
Wie muss sich die Bewertung unserer Lebensmittelproduktion also ändern?
Wir müssen endlich das gesamte Lebensmittelsystem in den Blick nehmen, mit all den versteckten Kosten. Wir stellen mit unserer Studie einen solchen Bewertungsmaßstab bereit, so dass alle an der Wertschöpfung Beteiligten rationale Entscheidungen treffen können, immer vor dem Hintergrund der Frage, was ihnen der Planet und unsere Gesundheit wert sind. Ziel ist es, von dem falschen Maßstab wegzukommen, der uns alle im Endeffekt sehr teuer zu stehen kommt.
Wie kann Ihre Studie dabei konkret unterstützen?
Aktuell bringen wir unser theoretisches Konzept in die konkrete Anwendung und testen in Feldstudien unter anderem in Indien, dem Amazonas und den Vereinigten Staaten, wie sich unterschiedliche Wirtschaftsformen auf die Gesundheit von Planten und Menschen auswirken. Im Anschluss daran wollen wir Leitlinien formulieren. Um unseren Bewertungsmaßstab in die Realität umzusetzen und das Lebensmittelsystem von Grund auf zu verändern, brauchen wir Verbündete und den kontinuierlichen Austausch mit den Praktikern. Politik, Handel, Produktion, Verbraucherinitiativen, Umweltverbände und landwirtschaftliche Forschung müssen eng zusammenarbeiten.
Das ist eine große Aufgabe. Wie blicken Sie in die Zukunft?
Die Bevölkerung wird sich bis 2050 auf 10 Milliarden Menschen erhöht haben. Es glaubt doch kein Mensch, dass wir diese mit der bisherigen, die Umwelt zerstörende Landwirtschaft auf Dauer ernähren können. Wir sind zu Veränderungen gezwungen. Je früher wir mit ihnen anfangen, desto besser. Und in den reichen Industrieländern müssen wir ein Vorbild werden und nicht das falsche Modell exportieren.
Optimistisch stimmt mich, dass sich im Bewusstsein der Menschen bereits eine ganze Menge getan hat. Und Veränderung fängt im Kopf an. Über Lebensmittel, das heißt Mittel zum Leben, wird heute fundamental anders gesprochen als noch vor zehn Jahren. Insbesondere unter jungen Menschen gibt eine ganze Bewegung um Lebensmittel. Wichtig ist, dass wir in der ganzen Debatte auch die positiven Geschichten erzählen - die kulturelle Bedeutung von Essen, den Erhalt von Biodiversität und sauberen Trinkwasser durch nachhaltige Landwirtschaft.
Dieses Interview ist im aktuellen Slow Food Magazin 5/2018 erschienen.
Foto: © Jeske
Alexander Müller, Diplom-Soziologe, ist Geschäftsführer von „TMG – Töpfer, Müller, Gaßner GmbH, ThinkTankforSustainabilty“ und Leiter der aktuellen TEEB-Studie. Seit 2013 ist er Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung.
Mehr Informationen:
The Economics of Ecosystems and Biodiversity