Genussreise: Tessin
Unsere Reise beginnt in einer Röhre, die wie ein magisches Portal den Süden vom Norden trennt: Eine 57 Kilometer lange Strecke, am tiefsten Punkt 2 300 Meter unter der Erde. Durch den Gotthard-Basistunnel, 2016 eröffnet und zur Zeit der längste Tunnel der Welt, erreicht man schneller und bequemer denn je die »Sonnenstube der Schweiz«. Das hat zweifellos Vorteile. Aber auch Nachteile: Der Tunnel schluckt fast die gesamte Gotthard-Landschaft, die man vormals aus dem Fenster bestaunen konnte, wenn sich der Zug in Spitzkehren hoch zum berühmten Kirchlein von Wassen schraubt.
Schon im Mittelalter war der Gotthard die direkteste Verbindung zu den reichen Städten Norditaliens. Zu überwinden war er nur auf Saumwegen, später dann auf den mit Gneis und Granit ausgelegten Fahrstrassen für die Postkutschen. 1882 wurde der erste Eisenbahntunnel eröffnet, 90 Jahre später der Autotunnel. Die Strecke über den Pass war gefürchtet, bis weit ins 19. Jahrhundert. Manche Reisenden ließen sich die Augen verbinden, um beim Blick in die Tiefe nicht zu Tode zu erschrecken. Ein walisischer Geistlicher, Adam von Usk, reiste 1402 »zum St. Gotthard und seinem Hospiz auf dem Gipfel, wohin ich auf einem Ochsenkarren gezogen worden bin, halbtot vor Kälte und meine Augen verbunden, um die Schrecken des Passes nicht zu sehen. Am Vortag von Palmsonntag erreichte ich Bellinzona in der Lombardei«.
Wir haben also genauso wenig gesehen von der schroffen Alpenwelt wie Adam von Usk. Bei Bodio schießen wir aus dem Tunnel, buchstäblich hinein ins Licht – es ist alles, wie es sein soll: Opalblauer Himmel, die Berge mit Schnee überzuckert, in den tieferen Lagen meint man die warmen Temperaturen selbst durch die Fenster hindurch bereits zu spüren: Frühling liegt in der Luft.
Zu Gast in der »Casa Merogusto«
Malvaglia im Blenio-Tal. Unsere erste Adresse ist schon von weitem zu sehen. Ein herrschaftliches Anwesen mit Garten, wohl um 1900 erbaut. Aus diesem wie aus vielen anderen Tälern sind die Leute in die Ferne gezogen, um sich in Paris oder London ein Geschäft aufzubauen, mit Kastanien oder gastronomischen Unternehmungen. Und um nach vielen Jahren als gemachte Leute zurückzukehren.
In einer solchen Rückkehrer-Villa lebt und arbeitet die Köchin Meret Bissegger. Sie hat sich mit ihrem eigenen Restaurant »Ponte dei Cavalli« im Centovalli 14 Gault-Millau-Punkte erkocht, ist eine Ikone der »cucina naturale«, der Naturküche, und eine der Schlüsselfiguren in der Tessiner Slow-Food-Bewegung. Genauer: Sie ist »zutiefst Slowfooderin«, wie sie selber sagt. »Es geht darum, nah an den Produzenten zu sein und Wissen weiterzugeben, Traditionen zu pflegen.«
Ihre Philosophie am Herd: Kochen mit natürlichen Saisonprodukten, ohne Allüren. Improvisieren mit dem, was in Kühlschrank, Keller und Vorratskammer gerade zu finden ist. An oberster Stelle steht für sie »geschmackvolle Lust«. Ernährung, so ist es bei ihr nachzulesen, »soll eine Quelle der Freude sein, nur so tut sie uns auch gut«. Das klingt ebenso so einleuchtend wie weise. Und alles, was Meret kocht, recherchiert, ausprobiert, plant und weitergibt – seit Jahrzehnten –, folgt diesen Grundsätzen.
Gerade ist sie zurück von einer Recherche-Reise in Süditalien (»Schon so viel Grünes ist da! Wir haben toll gegessen!«) und die letzten Wintertage verwendet sie darauf, um intensiv an ihrem neuen Buch zu schreiben. Nach ihrem Bestseller »Meine Gemüseküche für Herbst und Winter« (2015) folgt nun ein reich bebilderter Band über die Gemüseküche im Frühjahr und im Sommer.
Merets Bücher sind aber nicht einfach Rezeptsammlungen, vielmehr sind es regelrechte Kompendien, in denen enormes Wissen und ausführliche Hintergründe zu jeder einzelnen Gemüsesorte zwischen zwei Buchdeckel gepackt ist. Man liest da etwa staunend von den vielen verschiedenen Kohlsorten, von deren Existenz man bisher gar nicht Kenntnis hatte, die aber gerade als Aufzählung ganz wunderbar klingen: Palmkohl, Schwarzkohl, Grünkohl, Federkohl, Portugiesischer Kohl, Markstammkohl, Strauch-Kohl, Tausendkopf, Ewiger Kohl…
Tavolate-Abende und Kräuterkurse
Legendär sind die »Tavolate« an Merets langem, gemütlichem Holztisch mit Blick in ihre »Schaltzentrale«, die Küche. Die Gäste dürfen schon früh eintrudeln und ihr beim Kochen über die Schulter schauen – oder sogar mithelfen. Ein guter gedeckter »Tavolata-Tisch« bedeutet für Meret: viele kleine Schälchen. Dazu hat sie die indische, die arabische und auch die spanische Küche inspiriert auf ihren vielen Reisen. Probieren, vergleichen, von einem Geschmack zum nächsten springen. Auf der Speisekarte liest sich das dann etwa so (und das ist nur ein ganz kleiner Auszug): Rohes Gemüse mit Spitzwegerich-Dip, Giersch mit blauen Kartoffeln und geröstetem Haselnussöl, Gebratene Spargeln und Bärlauchblüten. Die alten Tessiner Rezepte sind für sie zu wenig ergiebig, »man hat ja sehr einfach gekocht, wenig Gewürze, wenig aromatische Kräuter«. Aber ja, eine typische rote Tessiner Polenta, mit Salz und Wasser, die kocht sie schon. »Dann müssen aber mindestens fünf verschiedene Gemüse mit auf den Teller!«
Mit Blick auf ihre Küche sagt sie, sie sei eine Sammlerin: immer auf der Suche nach Nischenprodukten, die Regale randvoll mit spannenden Zutaten, das Haus vom Keller bis zum Dachboden gefüllt mit Ware, zur Zeit etwa noch Kürbisse in allen Varianten und Artischocken, soeben aus Süditalien mitgebracht.
Apropos Sammeln: Mindestens ebenso verführerisch wie die »Tavolate« klingen die Wildpflanzen-Kochkurse: Die Teilnehmenden streifen unter Merets kundiger Führung durch Wald und Wiese und sammeln säckchenweise alles Essbare in Garten, Wald und Wiese, etwa Sauerampfer, Giersch, Wiesenschaumkraut, Labkraut, Leimkraut, Veilchen, Klatschmohn, Brennnesseln, Spitzwegerich, um nur einige wenige Zutaten zu nennen. Das alles wird später sortiert, gewaschen und gehackt, um daraus Frühlingsgerichte zu zaubern. Wer könnte bei einem »Weisse Melde-Hirse-Ricotta-Gratin« widerstehen?
Jetzt, wo die Natur gerade erst erwacht, ist die beste Zeit, »die Kräuter sind jung und zart und besonders aromatisch«. Auf die Idee, Kräuter und Wildpflanzen auf ihre Essbarkeit hin zu prüfen, ist sie während ihrer Arbeit auf einer Alp gekommen. Das Essen dort oben wurde ihr bald zu eintönig und so erweiterte sie den Menü-Plan kurzerhand selber, mit allerlei wild wachsendem Grünzeug.
Kürbisfestival und Bergkartoffeln
Mit all dem ist aber Merets Aktionsradius und ihr Engagement noch längst nicht erschöpft. Seit Jahren beobachtet sie den unaufhaltsamen Wandel in den Alpentälern. Auf der einen Seite die Abwanderung, die Hofaufgaben, die Rückkehr der Wildnis. Auf der andern die Resorts und touristischen Hot Spots. Seit die Subventionen in der Schweiz nicht mehr auf Tiere gerechnet werden, sondern auf Land, müssen die Bauernhöfe wachsen. »Land wird – wieder – ein rares Gut«, fasst sie zusammen.
Die Anbau-Terrassen im Blenio-Tal sieht man noch, sie sind aber längst überwachsen. Man könnte sie wieder freilegen und nutzen. Oder im Talboden mehr und anderes anpflanzen als bisher. Eines von Merets erfolgreichen Projekten ist das Festival »Le Zucche della Valle del Sole«. An die Bevölkerung, an Schulen verteilt werden an die 60 Sorten Kürbissamen, und im Herbst findet ein grosser Markt mit Degustation statt. Fünf Minuten werden die Kürbisse in Dampf gegart und anschliessend verkostet. Dann wären da noch die Bergkartoffeln (von denen es über 40 Sorten gibt) und die Hochstammbirnen. Alles spannende Angebote für die regionale und gehobene Gastronomie. Das Bleniotal, allein dieses Tal, steckt voller Möglichkeiten, ist Meret überzeugt.
Und so verlässt man ihr Haus mit vielen neuen Geschmäckern auf der Zunge und Geschichten im Kopf – und der Einsicht, dass es in den Bergtälern noch viel mehr Leute mit ihrer Leidenschaft, ihrem Können und ihrem Ideenreichtum brauchen würde, und zwar bald.
»Ciao Capitano!« – Markttag in Bellinzona
Ausgerüstet mit Merets Empfehlungen geht es samstags auf den Markt von Bellinzona. »Schau beim Käse auf die kleinen Stände, auf jene, die nur zwei bis drei Sorten anbieten. Das sind die Produzenten selber, die Älpler.« Die rot-blauen Markisen bringen Farbe in die Stadt. Überall hört man Lachen und fröhlichen Plauderton. Das Erste, was auffällt bei einem Bummel durch die stimmungsvolle Altstadt: Das hier ist ein Markt von Einheimischen für Einheimische, zumindest in der Nebensaison.
Die Kunden werden von den Verkäufern freundschaftlich begrüßt: Wahlweise mit »Ciao, Capitano/Bella/Ragazzi«. Viele bringen eigene Plastikboxen und Verpackungsmaterial mit, um das Gekaufte einzupacken, andere lassen sich Ausgewähltes zurücklegen, um es später abzuholen. Polenta wird in großen Kesseln direkt an den Ständen gerührt, auf Teller geschöpft oder portionenweise abgepackt.
Offen gestanden, mit einem Fotoapparat und praktisch nicht vorhandenen Italienisch-Kenntnissen fühlt man sich sehr fehl am Platz. Doch die Leute sind ungemein freundlich, irgendwie kommt doch sofort ein Gespräch zustande, nicht zuletzt, weil viele Deutsch können – und das noch dazu sehr gut – bewundernswert! Besonders zu empfehlen: »Pane Lento«, eine Bäckerei, die mit Naturhefe arbeitet. »Lento« (langsam) deshalb, weil jedem Teig ein langes Ruhen und Aufgehen gewährt wird, manchmal bis zu drei Tagen. Die Unternehmer sind, erstaunlich genug, ein Arzt und ein Architekt. Aber so, wie sie es erzählen, war die frühere Berufswahl genau das Richtige, um die Kenntnisse nun in die Brotproduktion einfließen zu lassen: Der Arzt, Marius Höckl, betreut das Labor (ja, richtig, das Labor: Jedes Brot weist zum Beispiel einen ganz genau zu bestimmenden und zu überwachenden Feuchtigkeitsgrad auf). Der Architekt, Nicola Cavallini, formt »vergängliche Architekturen« aus Teig, wie er sagt. Also jedem seine Domäne!
Zwei weitere Attraktionen, hervorragend kombinierbar, sollte man sich nicht entgehen lassen. Erstens: Sich auf dem Markt mit einem Picknick ausrüsten und dann zu den Burghügeln Castelgrande, Montebello oder Sasso Corbaro hochsteigen, die Aussicht und die Sonne genießen (und vielleicht einen Blick in die Museen werfen). Die drei Burgen von Bellinzona, ein einzigartiges mittelalterliches Bollwerk, sind UNESCO-Weltkulturerbe.
Zweitens: Den Ausflug mit einem Abstecher in die stimmungsvolle Bar »Il Fermento« abrunden. Auch nicht regelmäßig Biertrinkende dürften, nach einem einzigen Degustationsschluck, schwach werden. Die Bier-Kreationen, zu 100 Prozent im Tessin gebraut, in der »Officina della Birra«, sind einfach zu köstlich. Und wie es sich für die heutigen Craft-Biere gehört: Mit todschicken Etiketten versehen werden Flasche und Inhalt zum Gesamtkunstwerk.
Im Tal der wilden Bäche und des guten Mehls
Locarno ist bloß Umsteigestation, aber da es vom Bahnhof aus nur rund 3 Minuten bis zum Seeufer sind, sollte man vielleicht doch einen Spaziergang einplanen. Die Uferstraße ist gesäumt mit Restaurants und Cafés. Für die Weiterfahrt steht die Centovalli-Bahn bereit, die zunächst bis und mit San Antonio ein bisschen Metro spielt, inklusive reich mit Graffiti geschmückter unterirdischer Haltestellen. Doch dann wird das städtische Umfeld rasch verlassen, der Zug erreicht via Ponte Brolla Intragna: ein Tessiner Dorf wie aus dem Bilderbuch – graue Steinhäuser, schmale Gassen, steile Stiegen, der höchste Kirchturm, ein fabelhaftes Ortsmuseum.
In einem der alten Granithäuser haben Sandra Skubatz und Maurizio Fritschi, sie Hotelfachfrau, er Koch, die stilvolle Unterkunft »Castello del Nucleo« eingerichtet – und da Maurizio im Centovalli geboren ist, etwas weiter hinten im Tal, versorgt er einen großzügig mit Geheimtipps und Erzählungen aus der Region. Kurz: Ein idealer Ausgangspunkt für Ausflüge in diesem und in anderen Tälern. Zum Beispiel ins Onsernone-Tal. Schon die Anfahrt ist ein Abenteuer, das Postauto windet sich auf einer gewundenen, extrem schmalen Straße hinauf. Tipp: In Fahrtrichtung links sitzen, mit Blick hinab in die Schlucht – dort tobt der Isorno.
Halt in Loco Paese, von da sind es noch ein paar Schritte bis zur Farina-Bona-Mühle, die direkt über einer fast senkrecht abfallenden Felswand steht. Dort hinab stürzt auch das Wasser des Bergbaches, der das Mühlrad antreibt. Marco Morgantini ist schon vor Ort, ist vollamtlicher Müller und Kustode, bedient das Mahlwerk, weiß aber auch zu jedem Detail eine Geschichte zu erzählen. Gemeinsam mit Ilario Garbani betreut er die Farina-Bona- Mühlen in Loco und Vergeletto.
Popcorn aus Großmutters Zeiten
Farina Bona bedeutet auf Deutsch ganz einfach: das gute Mehl. Es besteht aus gerösteten Maiskörnern, die anschließend zwischen den Mahlsteinen zu einem äußerst aromatischen, gelblichen Mehl verarbeitet werden. Wie das begann? Mit einer erfinderischen Köchin, so erzählt man. Marco schmunzelt dabei, es ist ja schriftlich kaum etwas überliefert, denn die Menschen in diesen abgelegenen Tälern konnten weder lesen noch schreiben.
Aber Geschichten erzählen konnten sie – und so ist auch jene der Nunzia aus Vergeletto erhalten: Der Mais kam zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die entlegenen Tessiner Täler. Und eines Tages kam Nunzia ganz zufällig auf die Idee, die Maiskörner in der Pfanne über dem Feuer zu rösten, so wie man es immer schon mit Roggen gemacht hat. Was da aus der Pfanne kam, sah aus wie – Popcorn! Kein Wunder, die Kinder liebten den gepoppten Mais und kamen schon vor der Schule bei Nunzia vorbei, um sich die Taschen zu füllen. Die gerösteten Körner wurden von Nunzia gemahlen – und ecco, die Farina Bona war erfunden!
Ilario Garbani setzt sich seit vielen Jahren für Farina Bona ein, dessen Produktion in den Sechzigerjahren eingestellt worden ist. Heute ist das wiederentdeckte Produkt ein sogenanntes Presidio, es trägt das Gütesiegel der Slow-Food-Bewegung. Und er konnte damit einen großen Coup landen: Die Schweizer Detailhandelsriesen Coop und Migros haben die Tessiner Delikatesse in ihr Sortiment aufgenommen, 12 Tonnen im Jahr holen sie bei den Müllern im Val Onsernone ab.
Und die Einheimischen? »Vor allem die Älteren«, erklärt Marco, »sind nicht mehr so versessen auf Farina Bona. Die haben das schon ein Leben lang gegessen, gemischt mit Milch und Wasser«.
Farina Bona ist vor allem eine Einladung zum Experimentieren, im Hausgebrauch, aber auch in der gehobenen Küche: Eissorten, Biskuits und Kuchen bekommen durch sie (etwa gemischt mit herkömmlichem Weißmehl) eine ganz besondere Note. Oder man streut eine Prise direkt aufs Dessert oder in die Suppe. Weil es schon geröstet ist, kann man es in praktisch alles einrühren, auch in kalte Speisen wie etwa in eine Schüssel Quark mit Rohrzucker. Einfach ausprobieren, es kann fast nichts schiefgehen! Wer aber lieber auf bewährte Mixturen von Ilario oder Marco zurückgreifen möchte: »Polenta Onsernone« oder »Minestra alla Farina Bona« sind schon pfannenfertig abgepackt. Buon appetito!
Text: Barbara Piatti, erschienen im Slow Food Magazin 2/2019