Gut und Bio
Kommentar: Außen bio – innen pfui?
17.12.2011 - Italien ist Europas größter Produzent von Bio-Produkten. Der jetzt aufgedeckte Betrug mit gefälschten Zertifikaten aus diesem Land hat die gesamte Branche in eine tiefe Vertrauenskrise gestürzt. "Wenn Bio-Produkte zur bloßen Handelsware werden, haben wir nicht viel gewonnen. Es sollte bei Lebensmitteln nie um das Etikett gehen, sondern um die grundsätzliche Einstellung dahinter. Die beste Antwort ist daher: lokal essen", kommentiert Slow Food Präsident Carlo Petrini.
Die Operation hieß "Gestiefelter Kater", und der Name lässt an Märchen denken, aber leider ist es die Realität: die Beschlagnahmung von 2.500 Tonnen Getreide, Mehl und frischem Obst sowie weiteren 700.000 Tonnen anderer Lebensmittel, alle fälschlicherweise als Bio-Ware ausgewiesen. 10% des nationalen Marktes in diesem Sektor: das Ausmaß ist beeindruckend. Man sollte ausdrücklich darauf hinweisen, dass diese Produkte allesamt aus dem Ausland importiert wurden. Die italienischen Bio-Produzenten trifft keine Verantwortung. Bestenfalls sind gerade sie direkt oder indirekt die Opfer der Affäre: Auf der einen Seite, weil sie in gutem Glauben diese Produkte nutzen wollten, um ihre Tiere zu füttern, oder um sie weiterzuverarbeiten. Auf der anderen Seite, weil das Ansehen der ganzen Branche in den Augen des Durchschnittsverbrauchers gelitten hat, der üblicherweise wenig informiert ist und sich allzu leicht von Verallgemeinerungen und urbanen Legenden beeinflussen lässt. Legenden wie: "Bio kostet zuviel, und man kann sich nie sicher sein, dass es wirklich Bio ist, es gibt zu viele falsche Zertifizierungen." – "Bio ist eine Sache für die Elite, für radikal-schicke Reiche." – "Wie sollen sich die Leute, die beim Discounter kaufen müssen, das leisten?" Nehmen wir dazu noch "die Krise" und dass in Italien "die Bürokratie immer als komplizierter und korrupter macht" und man versteht schnell, dass der Gestiefelte Kater das Einzige ist, was noch gefehlt hat. Man sollte aber auch sehen, dass der aktuelle Skandal nicht nur ein reines Unglück ist. Zum Einen weil die Bio-Produktion Italiens damit eigentlich nichts zu tun hat. Zum Anderen weil es uns dazu anregt, über die wahre Bedeutung von "Bio" nachzudenken. Eine Branche, die ja nicht zuletzt beständig und gewaltig am Wachsen ist. Es ist nämlich letztlich keine Frage der Etikettierung, sondern von Paradigmen und Paradoxen.
Absurde Zertifizierung einer Ausnahme
Jedes Mal, wenn ein Problem mit dem Öko-Landbau aufkommt, frage ich mich, wann eigentlich dieser Irrsinn begonnen hat – wir sind an einem Punkt angekommen sind, wo man als Ausnahme zertifizieren muss, was eigentlich die Norm sein sollte. Anbauen, züchten, die Natur in Lebensmittel umzuwandeln ohne äußerliche, chemische, aus Erdöl hergestellte "inputs" – das sollte doch normal sein. Wer Kunstdünger, Pestizide, Zusatzstoffe und Konservierungsstoffe dazugibt, der sollte seine "Anomalität" melden, zertifizieren und dokumentieren. Das ist eine Frage des Prinzips, und keineswegs eine Unbedeutende. Sie tut eine andere traurige Wirklichkeit auf: Normal ist nicht mehr das natürliche, vollwertige Nahrungsmittel, die Norm sind heute in unserem globalen Lebensmittelsystem Nahrungsmittel, die auf irgendeine Weise künstlich verändert wurden. Nahrungsmittel, die wie man sagt aus der "konventionellen" Landwirtschaft stammen – die Verwendung dieses Begriffes sagt ja schon alles. Wer ökologisch anbauen will, ist nicht "konventionell": er ist absonderlich, auf jeden Fall in der Minderheit, und er muss sich deshalb Zertifizierungen und Kontrollen unterwerfen.
AIAB, der Italienische Öko-Landbau Verein, veröffentlicht zu Recht einige Zahlen, die diese Umkrempelung der Realität, dieses erste große Paradox, gut darstellen. In Italien haben wir auf der einen Seite 47.000 biologisch zertifizierte Betriebe, die sich jedes Jahr 60.000 Kontrollen unterziehen, durch Inspektoren und durch die Sondereinheit der Carabinieri gegen Lebensmittelverfälschung, und je mehr es davon gibt, desto mehr werden eingesetzt. Auf der anderen Seite gibt es über 700.000 "konventionelle" landwirtschaftliche Betriebe, für die von dieser Art von Kontrollen jährlich weniger als 40.000 anfallen. Zuallererst sollten uns diese Zahlen beruhigen, wenn wir Bio-Lebensmittel kaufen, denn nichts anderes wird so scharf überwacht. Aber ich frage mich (wobei ich damit nicht den Fehler machen möchte, den "Konventionellen" für alles die Schuld zu geben), ob all dies nicht zur Schikane für diejenigen wird, die in Harmonie mit der Natur produzieren, so wie es der Mensch seit jeher getan hat, bevor er diesem agroindustriellen Wahnsinn verfiel.
Wie Bio zur Dutzendware wird
Außerdem hat diese Art der "Ghettoisierung" des Bio-Landbaus eine anschauliche Reihe von Nebeneffekten erzielt, die am Ende sogar die grundlegende Integrität des ökologischen Anbaukonzepts bedrohen könnten. Wird Zertifizierung zur Notwendigkeit, so wird sie am Ende ein Label und verliert die Werte, die sie eigentlich vertreten soll – die Fruchtbarkeit der Böden, die ökologische Pflege der natürlichen Systeme, und so der biologischen Vielfalt, der Landschaften, der ländlichen Gemeinschaften. Dadurch wird "Bio" Teil des Konsumsystems wie irgendeine andere Ware, und das einzige Maß der Beurteilung ist der Preis.
Aber Bio kann nicht viel weniger kosten: Man braucht Geld für die Zertifizierung, und das Land ohne Chemiekeulen besser zu bestellen, das kostet mehr Anstrengung und mehr Arbeit. Am Ende gibt es vielleicht auch einen kleineren Ertrag als was man aus einem vollgepumpten und dann bis aufs Letzte ausgequetschten Boden holen könnte. Wenn allerdings nur der Preis zählt, dann gehen diese Überlegungen im Hintergrundlärm verloren und man sieht nur die am Supermarktregal ausgewiesene Zahl – und dann gewinnt immer die niedrigste.
Der Supermarkt, noch so ein Paradox! Vor kurzem war ich in Deutschland, dem Land, das in Europa den größten Umsatz für Bio-Ware hat. Auf dem Land gerade außerhalb von Berlin war ich bei der Ernte von einem Bio-Bauern dabei. Dieser sortierte unglaublicherweise, vor meinen Augen, etwa 50% seiner Produktion aus, weil sie nicht den ästhetischen Standards entsprach, die von den großen Supermarktketten verlangt werden. Eine krumme Karotte, ein Kohlkopf mit ein paar Flecken auf den äußeren Blättern, eine Rübe, die zu klein ist. Ungefähr 50% von hervorragender Bio-Ware, die normalerweise auf dem Kompost landet – mit der wir aber, gemeinsam mit den jungen Leuten von Slow Food Deutschland, fast 2.000 Leute in Berlin umsonst verpflegt haben.
Wenn Bio lediglich ein Label ist, dann wird es vom agro-industriellen Lebensmittelsystem aufgerieben, in der Produktion und im Vertrieb. Dann werden Monokulturen aus reinem Geschäftsinteresse angelegt (die auch im Bio-Anbau nicht wirklich nachhaltig im Hinblick auf die biologische Vielfalt sind). Dann wird im gleichen Maße verschwendet wie bei den "Konventionellen" und Lebensmittel werden zur Handelsware. Was waren denn die vom Gestiefelten Kater beschlagnahmten Produkte wenn nicht commodities, ganz einfach Handelswaren, in industriellen Dimensionen?
So verliert man die hehren Ziele der Bio-Anbauweise aus den Augen, und ebenfalls ihren sozialen und ökologischen Nutzen. Es stimmt, dass die Anhänger der Öko-Bewegung sich langsam zu unterscheiden beginnen zwischen denjenigen, die wirklich überzeugt sind und den "Bekehrten". Letztere haben das Prinzip aus wirtschaftlichen Gründen adoptiert, ohne es je wirklich zu verinnerlichen, dieses Modell einer Landwirtschaft, die das leider schon "konventionelle" vorherrschende Modell zu ändern vermag. Oder besser gesagt, eine neue Art der ökologischen und multifunktionalen Landwirtschaft, die unsere Gemeingüter bewahrt: das Land, die biologische Vielfalt, die Umwelt und die Landschaft.
Lange Lieferketten erleichtern den Schwindel
Wenn aber der Bio-Anbau nicht einhergeht mit einer kurzen Vertriebskette, mit Direktverkauf und lokaler Wirtschaft, dann vermindert sich seine Leistung deutlich, und man öffnet sich außerdem möglichen Schwindlern. Lokalwirtschaft hilft auch dabei, Kosten niedrig zu halten und es ist kein Zufall, dass alternative Formen des Vertriebs und Direktverkauf in Europa erheblich von der Bio-Bewegung vervielfacht worden sind, die diesbezüglich Großes geleistet hat. Aber sobald die Dimensionen von Produktion und Verkauf wachsen, riskiert man, das Ziel aus den Augen zu verlieren. Der gerade vorgefallene Skandal zeigt genau dies auf: mehr als 3.000 Tonnen Lebensmittel, von einem Staat zum anderen importiert. Das sind keine regionalen Lebensmittel. Das ist keine ökologische und multifunktionale Landwirtschaft, und das ist keine kurze Vertriebskette.
Deshalb ist eben das Modell soviel wichtiger als das Label. Das ist nützlich in der Beurteilung denn es lügt nicht, es zeigt die Produktionsweise auf und die darin vertretenen Werte. In diesem Punkt muss die Bio-Branche noch viel leisten, auch im Bezug auf die Zertifizierung. In einem Lebensmittelsystem wie dem derzeit vorherrschenden ist Zertifizierung leider unerlässlich, sobald man über den Direktverkauf hinausgeht, der auf Vertrauensbeziehungen beruht. Aber man muss die kleinen Betriebe schützen: unter den jetzigen Regeln, welche die gleichen sind wie für mittelgroße und große Betriebe, ist die Zertifizierung ein erheblicher Mehrkosten und ein bürokratischer Aufwand, den man nach 12 Stunden Arbeit auf dem Feld nicht alleine stemmen möchte. Es muss einfacher werden. Gruppenzertifizierungen sollten möglich sein (für Kooperativen und Verbände von Kleinerzeugern). Man sollte Zertifizierungssysteme einführen, die auf Partezipationsgarantien zwischen Produzenten und Verbrauchern beruhen, ohne dritte Instanzen. So etwas wurde in Südamerika schon ausprobiert, mit sehr guten Ergebnissen.
Die "Gestiefelte Kater"-Affäre läuft Gefahr, dass wir nur von Labels sprechen, aber – um beim Thema der Märchen und Cartoons zu bleiben – ich möchte hier Jessica Rabbit paraphrasieren: Bio ist nicht böse, es ist das agro-industrielle Lebensmittelsystem mit seinem Vertrieb das es ab und zu so zeichnet. Vielleicht müssen wir den Zeichner ändern, und auch hier – wie in allen Diskussionen um das, was wir essen – sollten wir von zwei kleinen, wunderschönen Worten ausgehen: lokale Lebensmittel.
Text: Aus La Repubblica vom 14.12.2011
Übersetzung: Anke Klitzing, Slow Food Deutschland
Im Bild: Alle Produkte, die das Europäische Bio-Siegel tragen, sind laut Europäischer Kommission "gemäß der EU-Verordnung zum ökologischen Landbau hergestellt worden, und fördern so das Vertrauen der Verbraucher in die Herkunft und Qualität ihrer Nahrungsmittel und Getränke."
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Zum deutschen Bio-Siegel
Slow Food Positionen zur europäischen Agrarpolitik