Interview Slow Food Genussführer 2014

13.11.2014 - Ende September hat der Oekom-Verlag den neuen Slow Food-Genussführer 2015 vorgelegt. Wieland Schnürch (li.), Leiter des bundesweiten Herausgeberteams, spricht im Interview über Koma-Esser und Hausmannskost, über selbstbewusste Leser und neue Formen der Restaurantkritik – und über gutes Essen für alle.

Slow Food Genussführer 2015: „Traditionelle Restaurantkritik halte ich für überholt.“

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slowfood.de: Der Slow Food Genussführer 2015 steht seit Ende September in den Buchhandlungen? Welches Feedback haben Sie bisher auf die neue, deutlich umfangreichere Ausgabe erhalten?

Wieland Schnürch: Das Feedback ist wieder rundum erfreulich. Allerdings kommen die Besprechungen und Kommentare diesmal eher von den regionalen Medien. Das liegt vielleicht daran, dass wir den Genussführer in diesem Jahr nicht auf einer großen zentralen Veranstaltung auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt haben wie im Vorjahr, sondern auf mehreren parallel organisierten Pressekonferenzen in acht verschiedenen Städten. Viele Regionalzeitungen, aber auch viele Food-Blogger haben über die Neuerscheinung berichtet – mit positivem Trend.

Gab es auch kritische Stimmen?

Durchaus, aber interessanterweise gibt es inzwischen mehr Kritik von Seiten der Leserschaft. Das zeigt uns, dass der Führer aufmerksam wahrgenommen und gelesen wird. Natürlich gehen die Meinungen auseinander, was Qualität und Geschmack des Essens in verschiedenen Lokalen angeht, das ist ganz normal. Wir nehmen die Kritik aber ernst und reichen sie an unsere Testgruppen vor Ort weiter.

Was wird denn konkret kritisiert?

Das reicht vom schlechten Service bis zur mangelnden Qualität des Essens. Manchen Gästen hat es in bestimmten Lokalen einfach nicht geschmeckt. Manchem ist auch der Anteil regional geprägter Gerichte in einzelnen Gasthäusern zu klein. Wir haben die ganze Palette möglicher Kritikpunkte.

Die Leser werden also selbstbewusster und auch etwas aufmüpfiger?

Das kann man so sagen. Sie beginnen Ihre Zuschriften oft mit derselben Einleitung. Da heißt es dann: „Wir sind seit vielen Jahren Anhänger von Slow Food und haben mit dem Genussführer gute Erfahrungen gemacht, aber gestern Abend waren wir doch ziemlich enttäuscht…“ Die Leser stehen dem Genussführer überwiegend wohlwollend gegenüber, sie sagen aber auch Ihre Meinung, wenn es mal nicht passt.

Das ist doch auch erwünscht von Ihrer Seite.

Wir ermuntern alle Leserinnen und Leser ausdrücklich, uns Ihre Kritik zu schicken. Auf dieses Feedback sind wir angewiesen, wir wollen wissen, welche Erfahrungen die Gäste in den von uns empfohlenen Lokalen machen. Im Idealfall kommt es anschließend zu einem direkten Dialog zwischen Gast und Wirt.

Und wie läuft der Verkauf des neuen Führers?

Der Verlag ist mit den Verkäufen bisher zufrieden. Genaue Zahlen werden wir nach dem Weihnachtsgeschäft erfahren. Ich bin gespannt.

Mit dem Slow-Food-Genussführer hat sich auch eine andere Form der Restaurantkritik etabliert. Es geht nicht vorrangig um Geschmack, Textur und Komposition einzelner Speisen, woran sich die Restaurantkritiker normalerweise abarbeiten, sondern darum, ob die Richtung stimmt: regional, frisch, authentisch, preiswert, gut. Wird damit die Restaurant-Kritik auf ein anderes Gleis gesetzt?

Ja, das ist ein neuer Ansatz. Es kann doch nicht nur um den reinen Gaumenkitzel gehen, wie das in der traditionellen Restaurantkritik leider noch immer häufig der Fall ist. Wir versuchen ein ganzheitliches Bild zu zeichnen. Wir wollen die Speise auf dem Tisch in ihrem Kontext sehen, inklusive aller Beziehungen zu Produzenten, zur kulinarischen Tradition, zu Verarbeitungstechniken. Wenn sich die Restaurantkritik nur darauf beschränkt, Geschmack und Zusammenspiel der Speisen zu beschreiben, dann ist sie aus meiner Sicht überholt. Die Leser wollen heute auch etwas über die Produkte erfahren, über artgerechte Tierhaltung, über den Einsatz von Bio und die „Philosophie“ der Küche.

Erwartet der Leser nicht auch von Slow Food, dass mal ein Haar in der Suppe ans Tageslicht gezerrt wird? Zur Restaurant-Kritik gehört eben auch die Kritik wie das Wort schon sagt. Slow Food beschränkt sich aufs Lob.

Gerade weil wir uns bei Slow Food nicht als Gastrokritiker im klassischen Sinn verstehen, sondern mehr als Mittler in einem Netzwerk von Produzenten, Händlern, Gastronomen, Verbrauchern und Gästen, wollen wir konstruktiv und selbstbewusst mit den Wirten in einen Dialog treten. Wir verschweigen den Gastronomen gegenüber nichts von möglichen Kritikpunkten, wir posaunen diese Kritik aber nicht hinaus, sondern wollen mit ihnen diskutieren, wie es besser ginge.

Intern reden Sie dann Klartext?

Vergangene Woche haben wir die Genussführer-Urkunde an einen Wirt in München überreicht, verbunden mit einer kleinen Laudatio. Wir haben dann aber auch einige konstruktiv-kritische Anmerkungen gemacht, die der Wirt interessiert zur Kenntnis genommen hat.

Die Restaurantkritiker des Guide Michelin nutzen alle möglichen Alias-Namen wenn sie sich gut getarnt in einem Restaurant anmelden und sie parken ihre Autos – meist mit Karlsruher Kennzeichen – weit entfernt vom Lokal. Wie gehen die Tester von Slow Food die Sache an?

Der einzelne Testvorgang wird oft überschätzt. Da unsere Tester als Gruppe ein Lokal besuchen, um sich über die Ergebnisse untereinander austauschen zu können, bleibt dem Wirt über kurz oder lang nicht verborgen, dass hier Gäste sind, die sich auf besondere Weise für die Speisen interessieren. Unsere Tester sind auch notorisch neugierig und wollen alles Mögliche wissen: Wo kommt das Fleisch und das Gemüse her? Ist die Brühe selbst gemacht? Aber: „Was soll ein Koch noch groß ändern, wenn die Gäste schon am Tisch sitzen?“ hat kürzlich der Michelin-Cheftester Ralf Flinkenflügel in einem Interview sehr richtig angemerkt.

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Klassischer Schweinsbraten mit Kartoffelknödel in einem bayerischen Genussführer-Gasthaus. | © Wieland Schnürch

Jürgen Dollase, der wichtigste deutsche Gastrokritiker, hat dem Genussführer kräftig eins übergebraten. Es sind vor allem zwei Punkte, die ihm missfallen. Erstens: Die Feinheit bleibe auf der Strecke. Es würden zu viele Lokale aufgenommen, die eine deftig-rustikale Richtung favorisieren. Das seien Lokale für den so genannten Koma-Esser, der sich mit stark gewürztem, deftigem Essen mit übergroßen Portionen den Bauch vollschlage bis er, völlig übersättigt, fast ins Koma falle.

Die Bandbreite der regionalen Küche ist groß. Das geht von der sehr feinen Küche bis zur deftigen Boaz’n. Die Gleichung je deftiger das Lokal, desto komamäßiger die Gäste – die geht nicht auf. Ich kann in einem einfachen bayerischen Wirtshaus auch einen zurückhaltend gewürzten, handwerklich sauber zubereiteten Schweinsbraten in normaler Portion essen. Ich empfinde die Kritik Dollases überzogen. Für uns ist wichtig, dass die Grundprodukte stimmen. Und wenn der Wirt nichts Gutes daraus macht, dann wird das unseren Testgruppen auch auffallen.

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Die Münchner Genussführer-Gruppe mit elf Testessern im Gasthof Hörger. | © Wieland Schnürch

Dollase hat seine Kritik konkret gemacht und als Negativ-Beispiel ein Bremer Lokal genannt, das aus seiner Sicht handwerklich schlecht arbeitet.

Hier zeigt sich die Schwäche und Beschränktheit der traditionellen Gastrokritik, wenn allein der subjektive Gaumeneindruck zählt. Herrn Dollase hat in dem Lokal dieses und jenes ganz offenbar nicht geschmeckt. Unsere Tester waren anderer Ansicht und vermelden genau das Gegenteil. Wenn man nun allein vom persönlichen Geschmack ausginge, würde man einem Gasthaus nicht gerecht. Wir plädieren für eine ganzheitliche Betrachtung und setzen auf eine möglichst große Zahl von Einzelbewertungen, um subjektive Faktoren zu reduzieren. Dies gelingt uns bei mehr als 400 Testern, so dass nicht nur der manchmal eher zufällige Eindruck eines einzigen Besuches zu Buche schlägt.

Wie sind denn die Anteile von deftiger und feiner Küche im Genussführer verteilt? Ist das so etwa fifty-fifty oder überwiegt tatsächlich die rustikale Richtung?

Das kann man nicht in Schwarz und Weiß aufteilen. Die Übergänge sind fließend und manche Lokale bieten sogar beides: deftige Hausmannskost, aber auch das eine oder andere feinere Gericht. Oder nehmen Sie das Gasthaus „Maischolle“ in Kühlungsborn an der Ostsee. Dort wird abends tagesfrischer Fisch serviert der morgens oft noch geschwommen ist. Die Zubereitung ist sicher einfach, dennoch hat das Gericht durch seine Frische eine besondere Qualität. Das ist ein großer Wert an sich und da spielt es für mich auch keine Rolle, ob das Sößchen besonders fein ist oder ob da Stoffservietten auf dem Tisch liegen oder nicht.

Aber es wäre doch schön, wenn dieser großartige tagesfrische Seefisch dann auch in einem schönen Ambiente und mit verfeinerter Kochkunst auf den Teller kommt.

Sicher, aber auch eine handwerklich saubere Hausmannskost ist etwas Wertvolles. Auch sie hat ihre Berechtigung und sie hat nichts mit Koma-Essen zu tun.

Zweitens missfällt dem FAZ-Kritiker die Preispolitik des Genussführers. Wer wirklich mit guten Produkten koche, womöglich mit Bio und Top-Erzeugnissen aus kleiner handwerklicher Produktion, der könne nicht billig sein. Slow Food würde solche Betriebe aber aus Preisgründen nicht aufnehmen. Dollase nennt als Beispiel das Restaurant der Hermannsdorfer Landwerkstätten – eine aus seiner Sicht echte regionale Oase.

Die Hermannsdorfer Landwerkstätten sind ein gutes Lokal, aber eine Familie muss dort beim Sonntagsessen schon ziemlich viel Geld liegen lassen. Wir haben stattdessen das Münchner Stadtbistro der Hermannsdorfer in den Genussführer aufgenommen. Dort kann sich jedermann das schmackhafte Essen in Bio-Qualität leisten. Das zeigt, dass es auch eine Nummer preiswerter geht. Wir wollen, dass a l l e besser essen und trinken, das darf keine elitäre Angelegenheit sein, deshalb haben wir eine Preisgrenze eingeführt. Es geht um eine Alltagsküche, die sich jedermann leisten kann.

Wäre es nicht interessant, in einem Sonderkapitel des Genussführers die etwas teureren Stars der regionalen Küche aufzunehmen?

Natürlich denken wir auch darüber nach. Es zählt aber nicht zu unseren vorrangigen Baustellen, solange es noch viele andere preiswertere Lokale zu entdecken gibt.

Andersherum betrachtet: Wenn eine halbe Ente im Lokal nur 8,50 Euro kostet, wird es problematisch, weil zu diesem Kurs weder eine vernünftige Tierhaltung möglich ist, noch eine faire Bezahlung aller Beteiligten.

Richtig. Auch darauf müssen wir achten. Ich glaube aber nicht, dass in unserem Genussführer Lokale mit Preisdumping zu finden sind. „Unseren“ Köchen ist durchaus bewusst, dass Qualität ihren Preis hat. Wir empfehlen deshalb auch keine Billigküche.

Eine Besprechung bei Amazon bemängelt, dass Slow Food – das zeige der Genussführer überdeutlich – ein „Verein der Fleischesser“ sei. Sind die vegetarischen Gerichte in den Genussführer-Lokalen mehr als nur Alibi?

Die regionale Küche in Deutschland ist traditionell fleischbetont, das muss man konstatieren. Wir sind hier nicht in mediterranen Gefilden mit einer entsprechenden Gemüseküche. Inzwischen beobachten wir aber einen Umbruch und eine breite gesellschaftliche Diskussion. Deshalb haben wir verstärkt darauf geachtet, dass in den empfohlenen Restaurants auch vegetarische Gerichte angeboten werden.

Wann wird das erste rein vegetarische Lokal aufgenommen?

Gute Frage! Es spricht überhaupt nichts dagegen, rein vegetarische Häuser aufzunehmen. Sie müssen aber auch unseren Kriterien entsprechen und dürfen nicht nur moralisch sauber sein, sondern auch im Slow-Food-Sinn.

23 Adressen sind aus dem Genussführer rausgefallen, davon einige wegen Geschäftsaufgabe. Wie viele Lokale haben den Ansprüchen nicht mehr genügt?

Es sind etwa ein Dutzend Lokale, bei denen sich herausgestellt hat, dass der Koch auf verschiedene Helferchen der Lebensmittelindustrie dann doch nicht verzichten wollte. Oder dass sich die Küchenleistung verschlechtert hat.

Welche Rolle spielen Bio-Produkte und Nachhaltigkeit künftig bei der Auswahl der Lokale? In der Gesellschaft wird dieses Thema immer wichtiger.

Das ist auch für uns ein extrem wichtiges Kriterium. Wenn Bio-Produkte zum Einsatz kommen, ist das in den Besprechungen der Lokale in der Regel auch ausdrücklich vermerkt.

Interview: Manfred Kriener

Mehr Informationen:
Slow Food Genussführer Deutschland 2015

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Slow Food Deutschland e.V. (Hrsg.)
Slow Food Genussführer Deutschland 2015
448 Seiten, Preis: 19,95 Euro (D), 20,60 Euro [A]
Verlag: Oekom-Verlag, München
ISBN: 978-3-86581-663-4
Erhältlich im Online-Shop des Oekom-Verlags

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