Essay: Genuss, Verantwortung und das Lebensmittelsystem der Zukunft (Teil 3)

18.12.2015 - Wissenschaftler schlagen Alarm: Auf nur noch 60 Jahresernten kann die Erdbevölkerung hoffen, dann sind die Bodenressourcen erschöpft. Die Welternährungsorganisation FAO fordert daher eine radikale Reform des Lebensmittelsystems. Doch wie soll diese gestaltet werden? In einem dreiteiligen Essay stellt Ursula Hudson, Vorsitzende von Slow Food Deutschland, eingehend die Lösungsvorschläge der Slow-Food-Bewegung dar. Lesen Sie im dritten Teil, wie das Nahrungssystem der Zukunft gestaltet werden muss.

Slow Food Essay: Genuss, Verantwortung und das Lebensmittelsystem der Zukunft (Teil 3)

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(Teil 1 dieses Essays finden Sie hier. | Teil 2 dieses Essays finden Sie hier.)

In der Zukunft kann es nur noch um Lebensmittel gehen, die folgende Kriterien erfüllen (siehe Teil 2):

  • Erzeugung aus nachhaltig erzeugten, besten, naturbelassenen Rohstoffen
  • mit Respekt vor der Natur und den Tieren
  • In handwerklicher Produktion, ressourcenschonend, mit möglichst wenig Zusatz-und Hilfsstoffen.
  • Dem Produkt Zeit zur Reifung lassend
  • Mit auskömmlichen Preisen für alle, die an der Wertschöpfungskette beteiligt sind.

Hier brauchen wir steuernde Politik und einen Lebensmittelhandel, der seine gesellschaftliche Aufgabe vor die der Gewinne oder Shareholder-Zufriedenheit stellt – oder zumindest gleichwertig ansieht und danach handelt. Seit Anfang des Jahres ist der Discounter Lidl als Teil des Versuchs einer Imageänderung mit einer Kampagne zur Bewertung und zum Erkennen von ‚guten’ Lebensmitteln an die Öffentlichkeit getreten. Diese und ähnliche Aktionen klammern aber das Handwerk aus und argumentieren mit für einen Hersteller viel zu weichen Geschmacks- und Qualitätskriterien, die dann oft, so etwas beim Fleisch einer kritischen Hinterfragung gar nicht genügen.

Die Preise unserer Lebensmittel reflektiert nicht die externen Kosten ihrer Produktion.

Es kommt noch schlimmer, denn die Lidl-Kampagne argumentiert in erster Linie preisfokussiert. Das ist kontraproduktiv mit Blick auf die notwendige Veränderung des Systems. Es geht hier vielmehr um Image als um Inhalt. An dieser Stelle ein Wort zum Preis: Es gibt, und wir wissen das alle, kein Wirtschaftsmodell, in dem es möglich ist, in großer Menge billige Lebensmittel zu produzieren, ohne dabei die Umwelt zu zerstören. Zu diesem Ergebnis kommt auch das vor Kurzem veröffentlichte ‚Aide-Memoire’ der Global Alliance for the Future of Food (2015). Darin wird auch berichtet, dass der weltweit größte Lebensmittelhersteller Nestlé in einem internen Audit jüngst versucht hat, die wirklichen Umweltkosten und auch die sozialen Kosten seiner Wirtschaftsweise zu erfassen. Die Zahl sei hoch, sehr hoch sogar gewesen, so hoch, dass man sie nicht veröffentlich hat, da die Firma, so hieß es, „in der Öffentlichkeit gekreuzigt“ würde. Doch hat man ein Ungefähres an die Öffentlichkeit gelassen. Die errechnete Zahl liege zwischen Gewinn und Umsatz, tendiere aber Richtung Umsatz: 2014 lag, dem Aide-Memoire nach, der Gewinn von Nestlé bei 15 Milliarden und der Umsatz bei 98.

Das Wirtschafts- und Beratungsunternehmen KPMG hat 2012 einen Bericht zu den von der Industrie ausgelagerten Kosten vorgelegt; die Kosten waren am höchsten bei der Lebensmittelindustrie: 200 Milliarden. Das heißt in Konsequenz: entweder akzeptieren wir, dass es billige Lebensmittel in Menge jenseits ihrer wahren Produktionskosten gibt und wir alle, auch die ärmere Bevölkerungsschicht, für die Umweltschäden, die sozialen Folgekosten aufkommen. Oder wir bepreisen Lebensmittel mit ihren realen Kosten. Doch wenn die Preise von Lebensmitteln real werden, dann fällt das bestehende System an dieser Stelle auseinander. Denn dann wird klar, dass billige Lebensmittel und niedrige Löhne zusammenhängen. Mehr hungrige Menschen als Folge höherer Preise? Privatisierte Gewinne und sozialisierte Schadensbeseitigung?

Es ist eine Systemfrage auch hier. Wie soll der Umbau hin zu einem nachhaltigen Ernährungssystem vor sich gehen: sollen wir für den notwendigen Prozess der Umstellung, hier konkret der Internalisierung der externen Kosten, das Rücklagefond-Modell in Anwendung bringen, wie bei der Energiewende – oder wie soll es gehen? Wie soll die Richtungsänderung herbeigeführt werden? Wo doch viele, darunter auch unser Bundeslandwirtschaftsminister, den Knall noch immer nicht gehört haben, oder zumindest so tun, als wäre alles beim Alten. Sichtbar wird das an der Nicht-Achtung der Empfehlungen seines eigenen wissenschaftlichen Beirats in Fragen der Tierhaltung, und aus Äußerungen wie ‚Bio sei nicht besser als konventionell’, und aus der verstärkten Exportorientierung – auch wenn das zu einem Mehr an Standardisierung und einem Mehr an systemkonsolidierenden Großeinheiten führt, zu einer Befestigung des nicht nachhaltigen Systems – zu dem im Übrigen auch noch volatile Preise und eine auch in Deutschland nicht vorhandene Ernährungssicherheit gehört – von Ernährungssouveränität ganz zu schweigen. Man denke an die innerhalb von drei Tagen leeren Supermarktregale in den Städten, wenn die Lastwagen nicht mehr fahren oder der globale Nachschub nicht mehr funktioniert.

Bild oben: Zu den Umweltkosten industrieller Landwirtschaft gehört auch der Artenverlust. Der Bläuling ist von konventionell landwirtschaftlich bewirtschafteten Flächen verschwunden, dieses Exemplar wurde auf einer Ökofläche in der Gemeinde Haar bei München fotografiert. | © Katharina Heuberger

Wir brauchen eine Lebensmittelwende, die sich an der Energiewende orientiert.

Wir müssen handeln – und wenn wir wie bei der Energiewende auch den ersten Schritt tun müssen. Das International Panel of Experts on Sustainable Food Systems (IPES) unter der Leitung von Olivier de Schutter, dem ehemaligen Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung bei der UN, hat in seinen 10 Grundsätze, wie die Transformation hin zu Nachhaltigen Lebensmittelsystemen zu bewerkstelligen sei, gesamtgesellschaftlich betrachtet Folgendes formuliert: „Producer organisations, retailers and other actors in the food chains must be fully engaged in defining and developing sustainable food systems. The interests of some private sector actors, in particular multinational agribusiness firms, have typically been aligned with existing political arrangements, e.g. policies favoring export-led production systems for bulk commodities and processed foods. This makes it all the more challenging, and all the more necessary, to critically engage agribusiness firms in the debate.“ Dem würden wir bei Slow Food uns sofort anschließen. Wir brauchen den großen Dialog, das Miteinander für eine Veränderung.

Der Lebensmittelhandel ist gefragt und zwar als Akteure, die sich um die Veränderung wirklich bemühen. Doch erinnere ich mich deprimiert an Versuche, auf der Biofach 2015 etwa mit Vertretern der Branche – Rewe, Edeka, Metro, Lebensmittelwirtschaft – ein Gespräch zum Thema Sicherung und Stärkung lokaler Erzeugungsstrukturen zu führen. Denn da war das von diesen Vertretern heraufbeschworene Bild der perfekten Saubermänner vorherrschend, die sich nicht verändern müssen, weil sie eh schon alles richtig machen: Eine in der Öffentlichkeit gerne eingenommene Haltung, die aber nicht deckungsgleich ist mit den Bemühungen um corporate social responsibility, beispielsweise. Was übrigens der Einschätzung der Global Alliance for the Future of Food entspricht, die in ihrem Appell ‚Against Cheap Food’ 2015 ausführt, dass die Lebensmittelindustrie und der Lebensmitteleinzelhandel im Wissen um die Probleme verändernden Maßnahmen, z.B. der Internalisierung der Kosten, grundsätzlich nicht ablehnend gegenüber stünden, sondern eben keiner den ersten Schritt tun wolle. Das heißt, die Lebensmittelindustrie und damit auch der Lebensmittelhandel sind als wirkliche, umfassende Akteure gefordert – nicht nur als einer, der mit einzelnen Begrünungsmaßnahmen in Erscheinung tritt, die im Ansatz zwar löblich sind, die aber, wenn die große und gesamte Veränderung nicht das angesagte Ziel ist, am Ende doch nur auf so etwas wie greenwashing hinauslaufen.

Wir brauchen also den großen Prozess der Veränderung, alle, die wir Teil des Lebensmittelsystems sind, und das JETZT. Die Grundlagen eines künftigen nachhaltigen Lebensmittelsystems müssen sein, so das IPES:

  • Nachhaltigkeit in allen Dimensionen – also auch sozial, kulturell und politisch
  • Vielfältig und widerstandsfähig
  • Demokratisch und befähigend
  • Sozial und technologisch innovativ
  • Immer wieder angemessen überprüft, bewertet.


Eine ganz zentrale Rolle kommt in diesem Prozess Politik, Handel und Industrie zu. Die Politik kann Rahmen setzen und Richtung geben: ihrer Möglichkeiten sind viele – wie wir häufig bei unseren Gesprächen, vor allem in Brüssel, feststellen können. Der Lebensmittelhandel kann aktiv den Umbau des Lebensmittelsystems von nicht-zukunftsfähig auf ein zukunftsfähiges durch Beschaffungspolitik, durch Unterstützung von Erzeugern bei ihrer Umstellung, und vielem mehr mit gestalten. Es geht dabei auch im die Stärkung einer kleinteiligen lokalen Lebensmittelerzeugung und damit lokaler Ernährungssicherheit.

Hier nur einige wenige Beispiele für Maßnahmen aus Slow-Food-Sicht: Zentral wäre eine grundsätzliche Richtungsänderung der Politik, weg von den in ihren Maßnahmen oft konfligierenden Ressorts: Agrar, Gesundheit, Energie, Verbraucherschutz etc. und stattdessen hin zu einer Gemeinsamen Lebensmittelpolitik in Europa. Eine wichtige Maßnahme wäre etwa die Föderung von ausschließlich nachhaltiger Erzeugung – denken Sie an die 60 Ernten. Durch konsequente Vorgaben zur regionalen Beschaffung von nachhaltig erzeugten Lebensmitteln für Gemeinschaftsverpflegung, für kommunale Einrichtungen können Weichen gestellt werden. Das Beispiel Brasilien, wo durch eine solche Maßnahme zahlreiche Kleinbauern und nachhaltiges Wirtschaften unterstützt werden, mag uns hier etwas lehren.

Ernährungsbeiräte können helfen eine gesamtgesellschaftliche Preisdiskussion anzustoßen.

Wir tun gut daran, mehr Menschen im Sinne von Beteiligung und Befähigung zu aktivieren, den Prozess aktiv mit zu gestalten: etwa durch die Einrichtung der Food Policy Councils – der sogenannten Ernährungsbeiräte auf kommunaler Ebene. Zudem müssen wir, auch wenn das ganz unbequem wird, in eine gesamtgesellschaftliche Preisdiskussion eintreten und einen Weg finden, auf dass Lebensmittel ihren wirklichen Preis reflektieren.

Was den Handel angeht, so müssen wir weg von Nachhaltigkeitsclaims allein auf der Basis von Selbstevaluation, so wie das bisher in den allermeisten Fällen betrieben wird. Seriöse Nachhaltigkeit braucht den transparenten Vergleich, und das geht nur durch externe Bewertung – oder zumindest unabhängige Beratung. Greenwashing im Handel findet aus unserer Sicht auch dann statt, wenn nur ein Teil des Angebots als ‘nachhaltig’ herausgehoben wird und dennoch der Löwenanteil der Aktivitäten industriell, nicht nachhaltig weiter geführt werden und zudem keine sichtbaren und glaubwürdigen Anstrengungen da sind, zur wirklich großen Umgestaltung: nämlich alles wirklich ökologisch zu machen. Also fordern wir langfristige glaubwürdige Planung der Umstellung: wer ohne Generationenplan (60 Ernten!) mit Nachhaltigkeit wirbt, ist doch schon im greenwashing drin – oder?

Um unsere Lebensmittel wirklich bewerten zu können, bedarf es dringend und sofort einer umfassenden Transparenz, was die Inhalts-Zusatz-Hilfsstoffe, was den Preis u.a. angeht. Momentan fehlt beispielsweise wie oben ausgeführt die Deklarationspflicht von Hilfsstoffen, die entscheidend zum Erkennen und Kontrollieren des Prozesses sind. Aber es bedarf auch der umfassenden Preistransparenz entlang der Wertschöpfungskette: Wer erhält was und wieviel? Eine Umgestaltung des Ernährungssystems hin auf Zukunftsfähigkeit ist auch eng verbunden mit einer stärkeren regionalen Nahrungsmittelsicherheit und einer verbesserten Widerstandsfähigkeit der Versorgungssysteme. Darin sind die nachhaltig und divers arbeitenden bäuerlichen Betriebe und die Betriebe der handwerklichen Lebensmittelherstellung von elementarer Bedeutung. Der Handel wird Wege finden müssen, mit diesen die lokale Versorgung zu stärken. Ein zukunftsfähiges Versorgungssystem basiert auf nachhaltigen Wertschätzungsketten der Land- und Lebensmittelwirtschaft. Sie sind gekennzeichnet durch geringe räumliche Distanzen und hohe Transparenz.

Slow Food fordert die Wiederherstellung kleinräumiger Erzeugerstrukturen.

Doch damit ein solches Versorgungssystem funktionieren kann, muss die Wiederherstellung der kleinräumigen Strukturen zwischen Ur-Erzeugung und Handel gesichert werden. Denn wie soll kleinräumige, nachhaltige Landwirtschaft gehen, wenn die nächsten Stufen der Wertschätzungskette nicht mehr da sind? Wie soll dann fairer Handel für Landwirte und Lebensmittelhandwerker stattfinden? Wer soll nachhaltig erzeugte Getreidepartien beispielsweise aus der Region verarbeiten, wenn die vorgelagerten Strukturen, etwa Mühlen, und das Wissen und Können des Handwerks verschwunden sind? Ein positives Beispiel wie weit Bemühungen zur Erhaltung und des Wiederaufbaus von lokalen Strukturen und Handwerk, der Herstellung wunderbarer Lebensmittel gehen können, ist freilich das Hohenloher Land. Aber auch hier wie überall gilt: es braucht sie, diese leidenschaftlich bewegten Menschen, Menschen mit Passion, oder Menschen wie Hanns Sachs in Wagners Meistersinger, denen ‚edle Werke’ nicht ‚ohn‘ einigen Wahn gelingen’, die im besten Sinne Vorreiter und Anstifter sind und andere mitnehmen.

Diesen leidenschaftlichen Vorreitermenschen und denen, die sich anstiften haben lassen, möchte ich hier noch einmal ganz ausdrücklich danken. Doch nochmal zurück zu den Notwendigkeiten, die erforderlich sind, damit die Umgestaltung des Lebensmittelsystems gelingen kann: Bildung auf allen Ebenen, von der Grundlegung einer Ernährungskompetenz als Alltagskompetenz der Gegenwart und Zukunft in Kindergärten und Schulen zur beruflichen Ausbildung, auch in der landwirtschaftlichen Ausbildung, dem auf wirklichem Können und wechselseitiger Wertschätzung ausgerichtetem Handwerk (es fehlt uns gegenwärtig beispielsweise an einer tragfähigen Definition von Handwerk) und der universitären Bildung.

Die Zukunft des Essens ist unser aller Zukunft.

Neue Konsumenten – Prosumenten oder Ko-Produzenten – gibt es längst schon. Die brauchen in der Regel gar keinen Lebensmitteleinzelhandel mehr, weil sie sich gemeinsam mit anderen von unten her neue, bessere, nachhaltigere Strukturen geschaffen haben, z.B. mit Community Supported Agriculture, Gemeinschaftshöfen, Bio-Kisten, Einkaufsgemeinschaften, Food Assemblys, Märkten etc. Wir müssen uns alle ernsthaft auf den Weg machen: sofort. Mit altem Denken wird es nicht klappen, uns auf neue Wege zu bringen. „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“ sagt Albert Einstein. Daher sind mutige, entschlossene und verantwortungsvoll handelnde Vorreiter, Akteure gefragt, die keine Angst vor den ersten Schritten haben, sondern vorangehen und zum Umbau des Lebensmittelsystems anstiften. Slow Food und Slow Food Deutschland sind mit dabei. Es muss gelingen, denn es geht ums Ganze: ‚The future of food is the future’ sagen wir bei Slow Food.

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Dieser Essay ist die leicht geänderte Version eines Vortrags, den die Autorin Ursula Hudson (li.) am 22. Oktober 2015 auf dem "Genussgipfel" in Stuttgart gehalten hat.

Teil 1 dieses Essays finden Sie hier.

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