Kommentar Milchquote
Sag zum Abschied leise: servus Milchquote!
Die Milchquote gehörte zur Landwirtschaft wie der Zopf zu Karl Lagerfeld. 31 Jahre lang hat sie uns begleitet, sie war ein Eckpfeiler der europäischen Milchwirtschaft, ein Schutz vor der hemmungslosen Überproduktion und zugleich das untrügliche Signal dafür, dass im Moloch der Agrarindustrie Grundlegendes falsch läuft. Wir versuchen einen Rückblick auf drei Jahrzehnte der Mengenbegrenzung, auf ihre Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen, auf „Sofamelker“ und Milchstreiks, Besamungstechniker und gut gepolsterte Stoßdämpfer für gefährliche Kuhhörner.
Bild oben: Melken mit Hand - heute nur noch als Demonstration alter Techniken praktiziert, wie hier auf der Slow Food Messe in Stuttgart. | © Stefan Abtmeyer
Der Butterberg
Milchseen und Butterberge gehören zum Agro-Sprech der 70er und 80er Jahre. Sie sind der Auslöser für die Einführung der Milchquote zur Begrenzung der Übermengen. Die Überproduktion muss nämlich vom Staat zu Interventionspreisen aufgekauft und in riesigen Kühlhäusern zwischengelagert werden. Die Crux dabei: Die immer größer werdenden Überschüsse verwandeln sich in eine erdrückende Dauerlast. Um sie vor dem Verderb zu schützen, muss die eingelagerte Butter irgendwann wieder auf den Markt geworfen werden. Durch diese Marktrückführungen ist dann plötzlich noch viel mehr Butter vorhanden und es müssen folglich noch größere Mengen Frischbutter eingelagert werden, bis man diese dann wieder auslagert und dadurch noch viel mehr einlagern muss usw. – eine Endlosschleife der Agro-Torheiten.
Die Härtefallregelung
Schon der Start der Milchquote im April 1984 beginnt mit einem typischen Betrugsmanöver. Die verteilte Quote ist weit höher als der europäische Eigenverbrauch. Eine Überversorgung des Marktes ist damit programmiert. Und erneut werden die kleinen Bauern krass benachteiligt. Bei der Zuteilung der Quoten werden Großbetriebe, die ihre Kuhzahlen erhöht und ihre Ställe ausgebaut haben, per Härtefallregelung bevorzugt. Sie erhalten höhere Produktionsrechte als ihnen eigentlich zugestanden hätten. Dagegen werden bei den kleinen Bauern Quotenkürzungen ohne Pardon durchgesetzt.
Der Sofamelker
Kein Betrieb ist gezwungen, seine Milchquote voll auszuschöpfen. Die Quote ist handelbar. Wer den Kuhbestand reduziert oder seinen Betrieb aufgibt, der kann die Quote an andere Betriebe verkaufen. Der Sofamelker ist geboren: Er sitzt Pfeife rauchend gemütlich auf seinem Sofa, während seine Quote in fremden Ställen ermolken wird.
Das Kraftfutterwunder
Milchleistungsfütterung heißt das neue Zauberwort. Der Einsatz von besonders eiweißreichem Kraftfutter nimmt immer mehr zu und verdrängt die Verfütterung von Gras, Heu und Getreide. Aus der „Rauhfutter verzehrenden Großvieheinheit“ namens Kuh wird ein Sojafresser. Das Futter für die heimischen Kühe wächst jetzt nicht mehr vor der Haustüre, sondern in Südamerika. Der Einsatz von 200 bis 300 Kilogramm Kraftfutter je Kuh in den 1960er Jahren verdoppelt und verdreifacht sich. Heute werden in Europa im Schnitt rund zwei Tonnen Kraftfutter je Kuh und Jahr verbraucht.
Bild oben: Sojafeld in Junín in Argentinien. | © Germanramos, Bild unverändert (Wikimedia)
Die Turbokuh
Ende der 1960er Jahr gibt eine anständige deutsche Kuh 3.500 Liter Milch und damit schon mal 1000 bis 1500 Liter mehr als vor dem Krieg. Anfang der 1990er Jahre, die Milchquote ist gerade sechs Jahre alt, liefern deutsche Spitzenkühe bereits bis zu 7.000 Liter Milch im Jahr. Heute liegen wir bei den Topkühen schon im fünfstelligen Bereich. Im landesweiten Durschnitt liegt die Milchleistung im Jahr 2013 bei 7352 Kilogramm je Kuh, das sind zirka 7300 Liter. Die Tiere sind deutlich größer und schwerer geworden, das Euter hat XXL-Format. Bergweiden mit entsprechend steilem Gefälle wie etwa im südlichen Schwarzwald sind für die EU-Turbokuh nicht mehr geeignet; sie würde schlicht abstürzen und sich die Beine brechen. Die Hochleistungskühe stehen heute oft nur noch fünf Jahre im Stall, dann werden sie ausgemustert. Früher wurden die Kühe bis zu zehn Jahre gemolken, teilweise noch länger.
Der Stoßdämpfer
Im modernen Laufstall für Milchkühe geht es zuweilen recht eng zu. Die Kühe sind massiger geworden, sie stehen dicht beieinander und können sich gegenseitig verletzen. Auch die Tierhalter sind gefährdet. Deshalb, aber auch um Platz zu sparen und noch mehr Tiere unterzubringen, werden die Kühe enthornt. Dies geschieht auch in vielen Biobetrieben. Die schmerzhafte Prozedur, beim Jungtier durch Ätzen oder Brennen des Hornansatzes durchgeführt, ist seit Jahren Gegenstand heftiger Proteste. Auf Demeter- und Neuland-Höfen ist sie untersagt. Findige Bauern haben nun eine Art Stoßdämpfer entwickelt. Der wird wie ein flauschiges Präservativ über die Kuhhörner gezogen und verhindert auf diese Weise schlimme Verletzungen. Leider hat sich der Stoßdämpfer nur in wenigen Betrieben durchgesetzt. Dagegen hat die Zucht hornloser Rinder ziemlich Fahrt aufgenommen.
Der Besamungstechniker
Auf der Grünen Woche in Berlin werden gern leibhaftige Bullen vorgeführt. Die dürfen auch mal eine Holzattrappe besteigen und dabei vor lüsternem Publikum ihren Samen spenden. Eine richtig lebendige Kuh dürfen Sie schon lange nicht mehr begatten. Im modernen Stall schwingt der Besamungstechniker den Taktstock, das Erbgut ruht im flüssigen Stickstoff bei minus 190 Grad. Der Dienstleister führt das Besamungsgerät bis zum Muttermund der Kuhgebärmutter, wo die Besamungspipette entladen wird. Dieser Vorgang „ist nicht einfach; es ist warm, weich und finster und wir sehen nicht, was wir tun; das erfordert ein hohes Maß an Routine und Übung", verrät ein Befruchtungstechniker der „Zeit“. Mit Hilfe der neuen Methode können einzelne Spitzenbullen Millionen Nachkommen zeugen – eine gravierende genetische Verengung zu Lasten gesunder Vielfalt und Biodiversität.
Das Bauernsterben
„Strukturwandel“ heißt das neue Unwort der Landwirtschaft. Es beschreibt das Massensterben der kleinen und mittleren Bauernhöfe. Die Ställe werden immer größer, die Tierzahlen steigen und wer nicht wachsen will, muss weichen, so die Doktrin des Bauernverbandes. Nicht nur in Deutschland sterben die Höfe. In Österreich zum Beispiel geht die Zahl der Milchviehbetriebe von 140.000 – beim Start der Milchquote 1984 – auf heute 30.000 zurück. In Deutschland melken heute noch knapp 78.000 Milchviehbetriebe, im April 1984 sind es 370.000 gewesen.
Die Laufstallrevolution
Die Weidehaltung geht in ganz Europa zurück. Während in Deutschland zu Beginn der 1980er Jahre noch 90 Prozent der Kühe wiederkäuend über die Weide schlendern und die Sonne genießen, schrumpft dieser Anteil mit der Propagierung von Laufställen und hohem Kraftfuttereinsatz in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in rasantem Tempo. In vielen Regionen ist der Weidegang heute bereits die Ausnahme. Nach einer im Juli 2013 vorgelegten Studie des Forschungsinstituts Lei-Wageningen haben im Nordwesten unserer Republik nur noch 15 Prozent der Kühe ausgiebigen und 35 Prozent reduzierten Weidegang, während die übrigen 50 Prozent das ganze Jahr über ausschließlich im Stall leben müssen. Bis 2025 droht dieses Schicksal fast allen Kühen, wenn der Trend anhält. So verschwinden die Kühe aus den Landschaften und aus unserem Blick. In reiner Stallhaltung mit entsprechendem Kraftfuttereinsatz sollen sie mehr Milch geben. Dass auch die Futter- und Tierarztkosten höher sind, dass Tierwohl, die Kulturlandschaft und auch die Klimabilanz leiden, das alles wird gern unterschlagen.
Der Kuhkomfort
Kühe gehören auf die Weide! Weil sie das immer seltener dürfen, versuchen die Großbetriebe ihre Laufställe neu zu möblieren und dort den „Kuhkomfort“ zu erhöhen. So werden Gummimatten ausgelegt, damit die Tiere nicht ausrutschen und bequemer herumlaufen können. Kuhmatratzen und Liegematten sollen wärmedämmend sein und Verletzungen der Haut und der Gelenke vermeiden. Denn die moderne Kuh ist extrem krankheitsanfällig. Euterentzündungen sowie Klauen- und Gelenkkrankheiten sind weit verbreitet. Moderne Laufställe haben auch Kuhbürsten, an denen sich die Tiere schaben können. Klimaanlagen, Ventilatoren und Duschen sollen gegen die Sommerhitze helfen.
Bild oben: Kühe an der Bürste - künstlicher Kukkomfort statt Weidegang. | © Deutscher Bauernverband
Die Weideschlachtung
Manchmal gibt es auch kleine Fortschritte, die sich, fast unbemerkt, wie ein blinder Passagier einschleichen. Aber dann doch für Schlagzeilen sorgen. Rinder, die für den Schlachthof bestimmt sind, dürfen inzwischen auch auf der Weide geschossen und anschließend gestochen werden. Ohne Transport- und Schlachthofstress. Sie dürfen, wenn sie denn Weidegang haben, dort sterben, wo sie gelebt haben. Für den Kugelschuss im Grünen braucht es allerdings waffenrechtliche Erlaubnisse, Sachkundenachweise und Genehmigungen der Ordnungsämter, nicht immer ist das leicht zu bekommen. Nicht nur der Tierschutz profitiert, auch die Fleischqualität gewinnt bei dieser tierfreundlichen Schlachtung. Im allgemeinen Hygienewahn, der gerade den Milchsektor fest im Griff hat, ist dies eine beachtliche Entwicklung.
Das Melkkarussell
Die Frage, wie eine Maschine das Saugen des Kalbes am Euter imitieren kann, ist schon in den 1950er Jahren mit den ersten Melkmaschinen beantwortet worden. Das Melken von Hand wird ersetzt. Der nächste Schritt ist der zu Beginn der 1990er Jahre installierte Melkroboter. Jetzt wird das Melkgeschirr automatisch und ganz ohne die Hilfe des Bauern mit Hilfe von Laserstrahl und optischen Sensoren vollautomatisch ans Kuheuter arretiert. Gleichzeitig werden die Daten der Kuh erfasst, vor allem ihre Melkleistung. Den Betrieben bringt die Automatisierung Arbeitserleichterung und eine größere Flexibilität. Inzwischen gibt es große Melkkarussells, wo bis zu 70 im Kreis stehende Kühe gleichzeitig gemolken werden – von einer einzigen Person.
Bild oben: Kreisverkehr mit Kühen - das moderne Melkkarussell gilt als besonders effizient. | © Deutscher Bauernverband
Der Milchstreik
Die Milchquote hätte gut funktionieren können, aber sie ist stets zu hoch angelegt und sie wird in vielen Ländern nicht eingehalten. Als Folge bricht der Milchpreis immer wieder ein. Überproduktion und Preisverfall entwickeln sich zu chronischen Nebenwirkungen. In den schlimmsten Krisenjahren erhalten die Bauern teilweise nur noch 25 bis 30 Cent für den Liter bei Selbstkosten um die 40 Cent. Im Mai des Jahres 2008 eskaliert die Lage. Zehn Tage lang gehen die Bauern in den Milchstreik, verfüttern die ermolkene Milch oder schütten sie auf die Straße und in die Güllegruben. Der neue Bundesverband Deutscher Milchviehhalter – die Alternative zum Bauernverband, der nur die Großen unterstützt – hat die Bauern mobilisiert. Die Beteiligung am Milchstreik ist erstaunlich groß, ebenso die Sympathie in der Bevölkerung. Noch nie haben so viele Bauern an einer politischen Protestaktion teilgenommen – und selbstbewusst gezeigt, dass sie nicht nur wehrlose Opfer sind.
Bild oben: Milch auf die Felder - Protestaktion während des ersten Milchstreiks. | © Bundesverband Deutscher Milchviehhalter
Die Weltproduktion
Jetzt sollen die von der Milchquote befreiten Großbetriebe den wachsenden Weltmarkt entern, so die Hoffnungen des Deutschen Bauernverbandes. Seit Einführung der Milchquote in der EU hat sich die weltweite Milchproduktion um mehr als 50 Prozent erhöht: von 482 Millionen Tonnen auf rund 800 Millionen Tonnen heute. Inzwischen ist Indien zum weltweit größten Milchproduzenten aufgestiegen, der 16 Prozent der globalen Gesamtmenge liefert. Es folgen die USA, China, Pakistan und Brasilien. Während in Asien der Milchausstoß stark zunimmt, wächst er in Afrika nur langsam. Die Länder mit der größten Überschussproduktion sind Neuseeland, USA, Frankreich, Australien, Irland und Deutschland. Die Länder mit dem größten Importbedarf sind China, Italien, Russland, Mexiko, Algerien und Indonesien.
Als Lektüre sehr zu empfehlen ist das Buch von Andrea Fink-Keßler: Milch – vom Mythos zur Massenware im oekom-Verlag.
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Slow Food Thema: EU-Agrarpolitik
Slow Food Thema: Tiere in der Landwirtschaft