Der wahre Preis der Lebensmittel

30.5.2016 - Die industrielle Landwirtschaft verursacht Kosten, die nicht von ihr getragen oder in die Zukunft verlagert werden – zu Lasten von Mensch, Tier und Umwelt. Es ist daher allerhöchste Zeit für eine Agrarwende nach dem Muster der Energiewende, fordert die Slow Food Deutschland Vorsitzende Ursula Hudson.

Kommentar: Der wahre Preis der Lebensmittel

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Deutschland gilt als wohlhabend und leidet dennoch unter einer besonderen Form der Armut. Die biologische Vielfalt nimmt ab, rund ein Drittel aller vorkommenden Arten stehen auf der Roten Liste und sind damit akut in ihrem Bestand gefährdet. Dies konstatiert das Bundesamt für Naturschutz in seinem „Artenschutz-Report 2015“. „Das nationale Ziel, den Verlust der biologischen Vielfalt aufzuhalten, ist bisher verfehlt worden“, heißt es in dem Papier. „Es besteht daher dringender Handlungsbedarf.“

Artenkiller Landwirtschaft

Für das Artensterben werden in der Regel viele Ursachen aufgeführt, darunter abstrakt anmutende wie Klimawandel, Bodenversiegelung oder Industrialisierung. Der Artenschutz-Report benennt konkrete Verursacher. Auf der Tabelle der Artenkiller ganz oben stehen – ausgerechnet – die deutsche Land- und Forstwirtschaft. Wie kann dies sein? Gilt Bauern und Förstern nicht die romantische Vorstellung, dass sie ein Leben nahe an der Natur führen? Nun, im Geburtsland der Romantik ist dies schon lange nicht mehr der Fall. Ein wesentlicher Grund dafür ist der gewaltige Bodenhunger der Land- und Forstwirtschaft. Rund die Hälfte der gesamten Fläche Deutschlands wird für den Ackerbau, die Vieh- und Weidewirtschaft sowie den Obstanbau genutzt. Ein weiteres Drittel der Gesamtfläche ist beforstet, nicht einmal zwei Prozent der Wälder bleiben ungenutzt.

Kulturland, Naturland

Deutsche Landschaften sind also Kulturlandschaften. Als solche waren sie bis vor einigen Jahrzehnten auch weitgehend intakte, artenreiche Ökosysteme – von Menschenhand geschaffen an Stelle der ursprünglichen Urwälder und Grassteppen. Ein Beispiel für ein solches Biotop im Dienste der Landwirtschaft ist die Wiese. Der Bauer hält die Fläche durch regelmäßige Mahd offen, wodurch sich hochspezialisierte Blumen-, Gräser-, Kräuter- und Insektenarten ansiedeln können. Von ihnen wiederum leben nicht minder spezialisierte Vögel, Nager und Räuber – wenn sie heute noch das Glück haben, eine solche Menschenwiese zu finden. Leider ist die extensive Wiesenbewirtschaftung für die meisten Bauern mittlerweile zu teuer und daher genauso vom Aussterben bedroht wie sehr viele der mit ihr verbundenen Arten.

Von der Wiese zur Wüste

Die Wiese stirbt, für die kostbare Bodenressource gibt es höher rentierende Verwendungen. Wiesenland wird zu Ackerland (Stichwort: Vermaisung) oder zum Dumpingplatz für die Gülleflut aus der Massentierhaltung. Der Effekt ist in beiden Fällen gleich: Aus einem blühenden, vielfältigen Lebensraum wird eine grüne Wüste der Mais- oder Grasmonokultur. Weil Acker- wie Grasbewirtschaftung gleichermaßen dem Düngewahn unterliegen, tragen die Folgen aber noch weiter. Stickstoff gelangt durch Kunstdünger und Gülle in die Umwelt. Die Arten sterben nicht nur auf dem ehemaligen Wiesengrund, sondern werden durch stickstoffliebende Gewächse wie Brombeeren und Brennnesseln auch im Wald verdrängt. Laut dem Sachverständigenrat für Umweltfragen ist fast ein Drittel der Grundwasserkörper in Deutschland mit zu viel Nitrat belastet. Sichtbares Zeichen für die Überdüngung ist etwa der Schaum am Meeresufer durch Algenblüte. Reaktive Nitratverbindungen fördern zudem die Ozon- und Feinstaubbildung in den Städten.

Wenn niemand bezahlt, zahlen alle

Am Beispiel der Wiese wird deutlich, dass unsere heutige, hochintensive Form der Landwirtschaft Schäden zeitigt, die weit über das Agrarsystem hinausgehen. In der Wirtschaftstheorie spricht man von sogenannten Externen Effekten: Auswirkungen ökonomischer Entscheidungen, für die niemand bezahlt oder einen Ausgleich erhält. Sie werden daher nicht in das Entscheidungskalkül des Verursachers einbezogen – die wahren Kosten der landwirtschaftlichen Erzeugung sind im Ladenpreis nicht enthalten! Nirgends wird dieses Missverhältnis so deutlich wie beim Fleisch. Laut dem „Fleischatlas“ der Heinrich-Böll-Stiftung vertilgen die Deutschen pro Kopf heute viermal so viele Schnitzel, Steaks und Hühnchen wie noch Mitte des 19. Jahrhunderts – und doppelt soviel wie vor 100 Jahren. Jeder Deutsche verdrückt im Schnitt 90 Kilogramm Fleisch pro Jahr – doppelt so viel, wie von Ernährungswissenschaftlern empfohlen. Gleichzeitig sind die Preise deutlich gesunken. Gaben die Deutschen 1973 noch etwa vier Prozent ihrer gesamten Konsumausgaben für Fleisch aus, liegt dieser Wert heute nur noch bei zwei Prozent.

Die Kosten dieses Billigwahns – durch Stickstoffüberdüngung oder explodierende Diabetes-2-Erkrankungen – werden auf andere abgeschoben oder in die Zukunft verlagert. Was kann dagegen unternommen werden? Der Sachverständigenrat für Umweltfragen fordert in seinem Stickstoff-Gutachten, den Nitrateintrag in Deutschland zu halbieren – nur so könnten internationale Standards und Verpflichtungen eingehalten werden. Zur Zielerreichung soll gleich ein ganzes Bündel von 40 Einzelmaßnahmen beitragen, darunter konkrete Mengenvorgaben für Bauern in der Düngeverordnung (sie wird gerade überarbeitet), aber auch die Abschaffung der Mehrwertsteuerbegünstigung bei Lebensmitteln.

Agrarwende durch Lastentransparenz

Letzteres stellt einen Versuch dar, zumindest einen Teil der externen Kosten der landwirtschaftlichen Produktion zu internalisieren, damit sie für Erzeuger wie Abnehmer transparent werden. Die Forderung nach Abschaffung der steuerlichen Lebensmittelsubvention – für die es viele gute Argumente gibt – ist zugleich aber auch ein besonders heißes Eisen: Unser täglich Brot wird niedriger besteuert, damit es sich auch der Ärmste leisten kann.

Essen ist ein hochpolitischer Akt, wie wir sehen. Wollen wir die Agrarwende herbeiführen und das bisherige Lebensmittelsystem durch ein klügeres und zukunftsfähigeres ersetzen, das Mensch, Tier und Umwelt gleichermaßen gerecht behandelt, können wir uns einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion dieser Problematik aber nicht verschließen. Deutschland hat dies schon einmal getan, als es um die Energiewende ging. Die Ergebnisse können sich im Großen und Ganzen sehen lassen, wie ich meine. Warum sollte uns dies beim Thema Landwirtschaft nicht auch gelingen?

Dieser Kommentar der Slow Food Deutschland Vorsitzenden Ursula Hudson ist im Slow Food Magazin 3/2016 erschienen. Jetzt am Kiosk!

Im Bild oben: Intakte, artenreiche Wiese auf Magerboden bei München – in Deutschland mittlerweile eine Seltenheit | K. Heuberger

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