Salon: deRadika - Think fast, eat slow

5.8.2017 – Die Eröffnungsveranstaltung der Salon-Reihe „deRadika - Think fast, eat slow“ fand Anfang der Woche in Berlin statt. Das Projekt deRadika ist eine Kooperation der zwei Journalistinnen Elisabeth Weydt und Elise Landschek und der Kulturmanagerin Lisa Maria Weber mit dem Verein Slow Food, unterstützt durch die Akademie Schloss Solitude im Rahmen des Ideenwettbewerbs Advocate Europe. deRadika will das Radikale sezieren und mit Menschen in ganz Europa auf die Suche nach der Wurzel des Radikalen gehen. Ein Bericht von Sharon Sheets, Slow Food Deutschland.
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Im Salon treffen sich Teilnehmer zum Gespräch. Diskussionsstoff liefern vier Kurzfilme, die verschiedene Aktivisten aus unterschiedlichen Ländern und ihre Radikalität porträtieren. Zwischen den Filmen gibt es Raum für Debatte und Austausch. Begleitet wird der Salon von einem Abendessen im Sinne der Slow-Food-Philosophie: Radikal gut, sauber, fair. Nach Berlin wird es diesen Sommer weitere Salons in Sofia, Belfast und Stuttgart geben.

Bild oben: Eröffnungsveranstaltung der Salon-Reihe „deRadika - Think fast, eat slow“.

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Auf Herz & Nieren geprüft

Das Restaurant Herz & Niere, Slow-Food-Unterstützer in Berlin Kreuzberg, war Gastgeber des Auftakts zu „deRadika - Think fast, eat slow“. Passend zum Thema Radikalität fand der erste Abend der deRadika Salonreihe bei Gastronomen statt, die im Slow-Food-Sinne arbeiten und sich mit der Ganztierverarbeitung einem radikalen Ansatz der maximalen Wertschätzung und Verschwendungsvermeidung verschrieben haben. Tierische Produkte werden bei Herz & Niere von Kopf bis Fuß gekocht und auch im Gemüsebereich spiegelt sich das Konzept radikaler Nachhaltigkeit wider: Die Restaurantbetreiber bauen Gemüse auf einem eigenen Acker an, produzieren eigene Säfte, fermentieren und stellen eigenen Essig her. So stellen sie die meisten ihrer angebotenen Speisen mithilfe einer eigenen Kreislaufwirtschaft her. Auf der Speisekarte des Abends standen z. B. krosser Schweinerüssel und Blutschokolade. Wobei es natürlich auch eine vegetarische Variante gab.

Bild oben: Herz & Niere Restaurant der Ganztier- und Ganzgemüseverarbeitung in Berlin Kreuzberg.

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Welche Rolle spielt Slow Food im Kontext des Abends?

Ganz so offensichtlich scheint der Zusammenhang zwischen Radikalität und Slow Food auf den ersten Blick nicht. Denn, so bestätigte es sich auch während der Diskussion des Abends, die meisten assoziieren eher etwas Negatives mit Radikalität. Wie sich die Kooperation von Slow Food mit den Initiatoren des Salon deRadika thematisch eingliedern lässt erklärte Ursula Hudson, die Vorsitzende von Slow Food Deutschland, zu Beginn der Veranstaltung:

„Slow Food ist eine Bewegung, die sich seit über dreißig Jahren für einen Systemwechsel im Bereich der Lebensmittelproduktion einsetzt. Damit sind wir beim Thema Radikalität angelangt. Slow Food will einen Paradigmenwechsel hin zu einem guten, sauberen und fairen Ernährungssystem, denn das Ernährungssystem das bei uns vorherrscht - das industrielle – mit Massenproduktion, Monokulturen, intensivem Einsatz von Antibiotika und Pestiziden in der Landwirtschaft etc., führt uns in eine Sackgasse, denn es ist vorwiegend nicht zukunftsfähig: gravierende Probleme wie Bodendegradation, Biodiversitätsverlust, Wasser- und Klimaprobleme u.v.m sind darauf zurückzuführen, wie wir unsere Lebensmittel produzieren. Die Zukunft unserer Ernährung, Ökosysteme und Erzeuger steht dadurch schlicht auf dem Spiel und ein weiter so wie bisher ist deshalb keine Option, wenn wir zukünftigen Generationen noch Lebensmittel zusichern wollen. Die Agrarindustrie produziert nicht nur auf Kosten der Umwelt und Gesundheit von Mensch und Tier, sondern hängt auch eng mit der Verursachung von Ressourcenknappheit zusammen, was schon jetzt vielerorts Menschen im globalen Süden dazu treibt ihre Heimat zu verlassen. Deshalb geht Slow Food an die Wurzel des Problems. Wir brauchen Menschen, die da mitmachen und die sich aufstellen und sagen ‚Wir setzen uns für ein besseres, zukunftsfähiges Lebensmittelsystem ein‘.“

Deswegen erkannte Slow Food in der Zusammenarbeit mit deRadika einen fruchtbaren Boden und wählte für den Abend das Lokal Herz & Niere mit zukunftsfähigem Ansatz der Ganztier- und Ganzgemüseverarbeitung.

Bild oben: Slow Food Deutschland Vorsitzende Ursula Hudson spricht zur Kooperation mit deRadika.

Unterschiedliche Formen von Radikalität

Die vier Filme, während des Salons zeigen, wie externe Umstände wie politische Unterdrückung von Minderheiten, Krieg, schlechte Lebensbedingungen, Ungleichheiten und persönliche Wertesysteme gleichermaßen Menschen in die Radikalität treiben können. Und sie das wiederum dazu bringt, andere Gruppen auszugrenzen und zu dämonisieren. Ein Ex-Islamist spricht über seine Beweggründe; eine Aktivistin der Rechten Identitären Aktion rechtfertigt aus voller Überzeugung die Ablehnung von Immigranten in Deutschland mit der Notwendigkeit kulturelle Unterschiede zwischen Völkern beizubehalten. Im Gegensatz dazu zeigt ein Interview mit einem griechischen Umweltaktivisten, dass auch altruistische Beweggründe wie die Besorgnis um die Unversehrtheit unserer Umwelt und Ökosysteme zu radikalen Einstellungen und Taten führen können. Bei den Befragten in den Filmen steht die gewaltsame einer gewaltfreien Radikalität gegenüber. Gemeinsam ist den Interviewpartnern aber, dass sie Widerstand leisten wollen gegen ein als ungerecht empfundenes System von dem sie direkt am eigenen Leib oder indirekt innerhalb des Familien- oder Freundeskreises betroffen sind.

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Radikalismus im nachhaltigen Sinne wird vom System ausgeschlossen

An der Berliner Runde nahmen unter anderem Vertreter vom Arabischen Kulturzentrum, Greenpeace, Gangway, Restlos glücklich, Alnatura, Slow Food Youth, dem Internationalen Pastoralen Zentrum und dem Bildungsprojekt für Migrantinnnen und Flüchtlinge ‚Jack‘ sowie einige Journalisten teil. Die auf die Filme folgende Diskussion der Teilnehmer machte deutlich, dass sehr verschiedene Wahrnehmungen von Radikalität vorherrschen. Für viele ist Radikalität immer mit einem negativen Wert behaftet, für einige findet Radikalisierung nur im negativen Sinne statt und ist verknüpft mit dem Wunsch sich zu integrieren und ein Gefühl des dazu Gehörens zu empfinden. Andere wiederum verstehen Radikalität auch positiv als Motivator, um Systemkritik zu äußern und Wandel umzusetzen. Eine Mutmaßung, die während des Abends mehrmals geäußert wurde ist, dass es im globalen Norden vielleicht für viele auch eine mangelnde Identifizierung mit wirklich schwerwiegenden, lebensbedrohlichen Problemen dieser Welt ist, der mithin von radikalem und gewaltsamem Handeln abhält. Denn in vielerlei Hinsicht leben wir noch immer auf Kosten der anderen, sind kaum noch von Kriegen betroffen und leiden – aktuell – noch weit weniger sichtbar an den Folgen von Klimawandel und schweren Umweltkatastrophen wie Dürren oder Hungersnöten. Die vorwiegend negative Wahrnehmung von und gewisse Distanz zu Radikalität könnte deshalb auch mit unseren weitgehend guten Lebensumständen zusammenhängen. Zusätzlich beeinflussen die Medien unsere Wahrnehmung, so wird Radikalität wie beim G20, sofort von vielen verurteilt ohne die Beweggründe zu hinterfragen. Zudem stehen die ausgrenzenden und fremdenfeindlichen Formen von Radikalität oft im Zentrum der Berichterstattung. Aus Sicht vieler Diskutanten mache G20 deutlich, dass etwas radikal systemkritisches in diesem kapitalistischen System kaum eine Chance hat, sondern radikal unterdrückt wird. Unserer Gesellschaft fehle gänzlich ein Wort für antikapitalistische Systemkritik, für Radikalität im positiven Sinne, wenn es um Umweltschutz und ein zukunftsfähiges System geht. Und hier müssen wir als Verbraucher ansetzen.

Bild oben: Diskussion zum Thema Radikalität.

Sollten wir alle unser Schneckenhaus verlassen und etwas systemkritischer sein?

Zurecht kommt bei der Abschlussdiskussion unter den Teilnehmern die Frage auf, ob wir selbst manchmal nicht zu unbeteiligt sind, widerspruchslos mitansehen und absegnen, wie Ökosysteme und die Lebensgrundlagen vieler Menschen zerstört werden, wie wir unseren Planeten selbst zerstören? Würde uns da nicht allen manchmal ein wenig mehr Radikalität gut tun, um wirklich etwas zu bewegen? Und die Welt auch für kommende Generationen als bewohnbar und lebenswert zu erhalten? An welchen Punkt müssen wir persönlich gelangen, persönlich betroffen sein, damit wir uns zur Wehr setzen? Müssen wir die persönliche Betroffenheit am eigenen Leib erst spüren, bevor wir uns für eine Sache einsetzen können, auch wenn es dann vielleicht schon zu spät ist, um unseren Planeten noch aus der aktuellen Klima- und Umweltkrise rauszuholen? Das waren einige der Fragen, über die abschließend diskutiert wurde und über die es sich als verantwortungsbewusster Verbraucher durchaus lohnt, mal grundlegende Gedanken zu machen.

Alle Bilder: © Ingo Hilger

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Küchenchef Christoph Hauser bereitet das Menü des Abends zu.

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Vorspeisenvariationen aus Hauptstadtbarsch, Fichtennadeln und Rapsblüte.

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Für jeden Gang gab es natürlich auch eine vegetarische Variante.

Mehr Informationen auf der Website von deRadika:

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Die vier Interviews sind auf der Event-Webseite frei zugänglich und können bei ähnlichen Events zur Veranschaulichung genutzt werden:
https://deradika.de/stories/

Alle Informationen zum Salon „deRadika - Think fast, eat slow“ finden Sie hier:
https://deradika.de/about

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