Slow Food Kommentar: Das böse V-Wort
Kommentar: Das böse V-Wort
Die Verzichts Vokabel, das böse V-Wort, wird immer wieder gern bemüht, um verantwortungsvolle Ernährungsstrategien zu diskreditieren. Verzicht ist ein angstbesetzter Begriff, der gesellschaftlich auf wenig Gegenliebe stößt. Verzicht, das klingt nach Fahrrad-Hosenklammer, nach Kerzenlicht und kaltem Hintern. Für die Ernährung heißt das: Hier der pralle Einkaufskorb des fröhlichen Genussmenschen mit Fisch und Fleisch, Wurst und Käse satt – dort die sauertöpfischen Verzichtsmoralisten mit Dinkelauflauf und Kamillentee.
Im Bild oben: Saisonales, farbenfrohes, wärmendes und schmackhaftes Wintergericht - Kürbissuppe. Ein Verzicht? | © Katharina Heuberger
Wir verzichten! ... auf Vielfalt, Qualität, Gesundheit und Glück
Was bei dieser Sichtweise immer wieder und ganz systematisch ausgeblendet wird: Gerade der Status quo unserer gegenwärtigen Lebensweise wird mit ständigen gravierenden Verzichtsleistungen erkauft. Wir müssen, angesichts unseres absurd hohen Fleischkonsums, auf eine artgerechte Haltung unserer Nutztiere verzichten. Wir verzichten auf intakte Ökosysteme, auf ein schönes Landschaftsbild mit vielen Tieren auf der Weide. Wir verzichten zunehmend auch auf biologische Vielfalt, auf den herrlichen Jackpot der Natur mit all ihren Spielarten.
Wir verzichten nicht nur auf glückliche Kühe, sondern vor allem auch auf glückliche Landwirte, Tierhalter, Fischer. Auch die eigene Gesundheit bleibt teilweise auf der Strecke, wie die Zunahme ernährungsbedingter Krankheiten von Diabetes bis Adipositas zeigt. Wir verzichten auch auf die Gesundheit unserer Nutztiere, auf ihr Wohlbefinden, ihre Integrität. Wir verzichten auf das gute Gefühl beim Essen, das zunehmend mehr Menschen nur dann haben, wenn auch die „inneren“ Werte eines Lebensmittels stimmen. Es reicht eben nicht, wenn das Produkt nahrhaft ist und schmeckt. Zur Qualität eines Lebensmittels gehört nicht nur die schöne Optik und der feine Gaumenabdruck. Qualität heißt auch, dass die Herstellung der Nachhaltigkeit gehorcht, ohne Pestizidorgien und Antibiotika, ohne Tierquälerei – dafür mit fairer Bezahlung in der gesamten Herstellungs- und Handelskette. Die Produkte und Lebensmittel sollen authentisch sein und nicht durch künstliches Geschmacks-Tuning verfälscht werden. Sie müssen gesund sein und dürfen nicht mit hohen Zucker- und Fettanteilen suchtähnliche Abhängigkeiten schaffen.
Beim Fisch verzichten wir seit vielen Jahren auf angemessene Erträge der Wildfischerei. Unsere überdimensionierten Schiffsflotten haben die Meere in vielen Regionen der Welt weit übernutzt. Deshalb stagnieren die Wildfänge seit den 1990er Jahren oder gehen sogar zurück. Es ist reine Mathematik: Mit kleineren Fischportionen auf unserem Teller könnten wir dafür sorgen, dass die Fischbestände sich erholen und nach einigen Jahren wieder intakt sind. Die Konsequenz: Selbst bei einer streng nachhaltigen Fischerei wären dann womöglich größere Entnahmen möglich. Wer dagegen bei ohnehin schon abgefischten Meeren die immer kleineren Fische vor der Geschlechtsreife wegfängt, darf sich am Ende nicht wundern, wenn die Erträge weiter schrumpfen.
Im Bild oben: Selten geworden – eine Herde Rotes Höhenvieh auf einer artenreichen Wiese. Das Rote Höhenvieh ist Passagier in der Arche des Geschmacks, einem internationalen Projekt der Slow Food Stiftung für Biodiversität. | © Rotviehof am Jurasteig, Familie Graml
Ein wenig Verzicht könnte langfristig viele Teller füllen.
Ein wenig Verzicht könnte sich im besten Fall umkehren zur reich gedeckten Tafel. Es ist immer wieder erstaunlich, dass selbst so einfache Zusammenhänge ignoriert werden. Denunziert werden nicht die Gier und Maßlosigkeit, sondern der verantwortliche Umgang mit Ressourcen, die Vernunft. Aber was steht eigentlich unserer Vernunft im Wege, um uns herum und in uns selbst? Dass weniger mehr sein kann, spürt jeder. Und dass unser gegenwärtiger Fleisch- oder Fischkonsum nicht zukunftsfähig ist und auf Kosten anderer erkauft wird, ist keine neue Erkenntnis. Dann ziehen wir daraus doch endlich Konsequenzen und freuen uns über die neue eigene Ernährungskompetenz – oder über die spannende Wegstrecke des Erlernens von Kompetenzen auf dem Teller und weit über seine Ränder hinaus! Freuen wir uns über die Bereicherung durch das Weniger. Dann schmeckt’s auch gleich besser!
Eine Bewegung formiert sich.
Menschen, die gut, sauber und fair essen und z. B. Fleisch und Fisch in Maßen genießen, sind natürlich alles andere als Kostverächter. Mit dieser Einstellung bin ich nicht alleine! Eine neue Studie der Universität Göttingen hat ergeben, dass 10 Prozent der Deutschen mittlerweile als „Foodies“ charakterisiert werden können, Menschen also, die sich durch eine überdurchschnittliche Kochleidenschaft, eine rege Teilnahme an kulinarischen Events sowie ein ausgeprägtes Genussempfinden von anderen Verbrauchergruppen unterscheiden. Zudem zeichnet sie eine Vorliebe für neuartige Lebensmittel und Gerichte sowie ein hohes subjektives Wissen über und ein großes Interesse an Ernährung aus.
Weitere 20 Prozent wurden von den Forschern als „Foodies light“ bezeichnet – insgesamt sind also fast ein Drittel der Deutschen einer vernünftigen Ernährungsweise zugetan. Damit könnten wir alle viel bewegen, doch ist, auch das ist Aussage der Studie, was wirkliche Lebensmittelkenntnis angeht, noch viel Luft nach oben. Nehmen wir es als Herausforderung! Gutes, sauberes und faires Essen, so darf man wohl sagen, ist Trend, ist von der Avantgarde fast schon auf dem Weg zum Mainstream und breitet sich in immer weitere Bevölkerungsgruppen aus. Dies beinhaltet sicherlich auch Verzicht in einzelnen Bereichen, was aber durch die Vielzahl von möglichen Entdeckungen und Wiederentdeckungen mehr als wettgemacht wird.
Bildung statt Belehrung
Eines muss aber klar sein: Andere Ernährungsformen können nicht ex cathedra verkündet werden, was das Desaster des Veggie-Days im Bundestagswahlkampf 2013 exemplarisch gezeigt hat. Vielmehr muss klar kommuniziert werden, was die Auswirkungen einer übermäßigen Ernährung sind! Dies beinhaltet nicht nur die 60 Kilogramm jährlichen Fleischverzehrs pro Kopf, welcher laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. um fast die Hälfte verringert werden sollte, sondern z. B. auch die externalisierten Kosten durch den übermäßigen Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden bei konventionellem Anbau, sowie die Erzeugung von Tierleid, wenn frisch geschlüpfte Hühnchen geschreddert werden und Schweine nie das Tageslicht sehen.
Insofern ist die Forderung an die Politik gerade im Wahljahr 2017 klar: Wacht auf und tut etwas! Bildet Verbrauchern wirklich, ganzheitlich, nicht mit verengtem Blick auf Nährstoffe und Pyramiden, bildet sie so, dass sie wissen, was gute und zukunftsfähig erzeugte Lebensmittel sind, dass sie wissen, wie gut solche Lebensmittel schmecken. Lebensmittelbildung muss zu freudvollen und verantwortungsvollen Ess-Entscheidungen befähigen.
Dazu gehört, zu erkennen und erfahren zu haben, dass Geschmacksvielfalt nicht aus den Laboren der Lebensmittelchemiekonzerne, den Baukästen von Zusatz- und Hilfsstoffen kommt, sondern nur dann entstehen kann, wenn es da draußen eine große Vielfalt an Sorten und Rassen gibt, Getreide, Gemüse, Obst und auch Tieren, die dann schonend, kenntnisreich weiterverarbeitet werden. Und diese Vielfalt ist an jedem Ort der Welt kulturell gebunden anders: D. h., wenn es bio-kulturelle Vielfalt gibt, dann besteht Voraussetzung für wirkliche Geschmacksvielfalt.
Genuss braucht seine Zeit.
Geschmack und Qualität entstehen auch nur dann, wenn Lebensmittel und ihre lebendigen „Grundlagen“ Zeit zum Wachsen und Reifen haben. Ochsen etwa, die mehrere Jahre auf die Weide dürfen, Käse, der natürlich reifen darf und nicht in Folie geschweißt wird, Fleisch und Wurst, die Zeit zur Reife bekommen, Sauerteig-Brot mit langer Gehzeit und so fort. Solche Lebensmittel bilden Geschmacksfülle und -tiefe aus, mit ihnen lernt man Freude an gutem Essen. Solche Lebensmittel sind Gewinn und Bereicherung und sie machen Lust darauf, die Zusammenhänge vom Teller hinaus in die Verarbeitung und die Urerzeugung, d. h. die Landwirtschaft, zu erkennen.
Also: Wacht endlich auf und bildet – befähigt zur Erkenntnis, dass Essen extrem politisch ist und dass Systemdenken erforderlich ist, wenn sich wirklich etwas verändern soll. Am wichtigsten ist die kulinarische Bildung der nachwachsenden Generation! Bringt den Bürgern den Wert von ressourcenschonend erzeugtem, von regionalem und saisonalem Essen nahe, lasst die Menschen endlich wieder Hand anlegen, kochen, gut und nahrhaft essen! Wenn in Brasilien 30 Prozent der Nahrungsmittel, welche in Schulkantinen verbraucht werden, von lokalen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern stammen müssen – warum gelingt ein solches Projekt nicht in Deutschland? Was könnte denn z. B. das Höfesterben besser aufhalten und die Beziehung der jungen Generation zum Essen und zur Landwirtschaft besser stärken als das Wissen, von welchem Hof die Milch stammt und was die Kuh gefressen hat?
Lernen, was man isst.
Kurz und gut: Nur mit durchdachten, ganzheitlich und langfristig angelegten Strategien, die Wissensaufbau, Kompetenz und unmittelbare Erfahrung rund um Essen in den Mittelpunkt stellen, kann eine Situation geschaffen werden, die ökologisch nachhaltige Produktion mit besserer, fairerer, freudvollerer Ernährung kombiniert. Dies ist ambitioniert, ja, aber nicht weniger erwarten wir von den zur Wahl stehenden Parteien!
Quelle: Text mit freundlicher Genehmigung des Forums Umwelt und Entwicklungaus aus dem Rundbrief 4/2016 Gutes Essen – schlechtes Essen. Strukturwandel wohin? Seite 24f
Mehr Informationen:
Rundbrief 4/2016 des Forums Umwelt & Entwicklung (PDF)