95 Thesen für Kopf und Bauch: Wie der Lebensmitteleinkauf nachhaltig gelingt
Wenn wir für Milch weniger als für Mineralwasser bezahlen, Leberwurst billiger als Hundefutter ist, dann ist nicht nur unser Lebensmittelsystem, sondern auch unser Einkaufsverhalten aus dem Gleichgewicht geraten. Das ist für Slow Food Deutschland e. V. und Misereor Anlass genug, um darüber den Dialog weiter anzustoßen. Deshalb kamen in Gießen Ursula Hudson (Vorsitzende Slow Food Deutschland), Sebastian Wenzel (Einkaufsführer-Kommission Slow Food Deutschland) sowie Lucia Werbick (Politik und globale Zukunftsfragen, Misereor) mit Georg Rieck, Geschäftsführer Klatschmohn Naturkost GmbH sowie rund 45 Gästen zusammen. Die Moderation übernahm Sven Johannsen, Gründer und Aufsichtsrat der Regionalwert AG Rheinland und Mitglied des Ernährungsrats Köln.
Die Verbraucher in Deutschland gehören in Europa zu denjenigen, die am wenigsten für Lebensmittel ausgeben. „Das ist für unsere Lebensmittelindustrie natürlich eine willkommene Einladung, getreu dem Motto ‚billig, billiger, am billigsten‘ fortzufahren. Abnehmer für dieses System haben sie leider weiterhin zu Genüge,“ bedauerte Ursula Hudson zum Einstieg der Diskussion. Dabei täuschen diese Niedrigpreise über den wahren Preis hinweg. Die Dumpingpreise hinterlassen ihre Spuren bei Mensch, Tier und Umwelt und zwar deutlich. Wahre Qualität von Nahrungsmitteln und entsprechenden Genuss, globale Gerechtigkeit sowie Umwelt- und Klimaschutz gibt es nur gegen eine faire Bezahlung und eine wohlüberlegte Auswahl von Lebensmitteln. Doch ist der Anteil derer, die hinschauen und das wissen, weiterhin zu gering.
Bild oben: Klatschmohn-Geschäftsführer Georg Rieck heißt die rund 45 Gäste des Abends in seinem Laden willkommen.
Industrie-Bio: ein Widerspruch in sich
Klatschmohn-Geschäftsführer Georg Rieck berichtete, dass auch die Bio-Branche schon seit langem nicht mehr frei sei vom Preisdruck. „Unter den Bio-Produzenten nimmt der Anteil an Großunternehmen zu, viele kleine werden aufgekauft. Bio wird in immer größeren Mengen produziert und angeboten. Es gibt heute keinen Discounter mehr, der nicht seine eigene Bio-Marke führt und das zu günstigen und möglichst wettbewerbsfähigen Preisen. Hier entsteht der Zwang zu Wachstum und Effizienzsteigerung. Den fangen die Landwirte durch Spezialisierung und Mechanisierung auf. Der Bio-Gedanke fußt aber auf der Idee des Ökosystems, dessen Merkmale Kleinteiligkeit, Biodiversität und Vielfalt sind. Das ist das Gegenteil vom industrialisierten System! Industrie-Bio ist ein Paradoxon und Widerspruch in sich,“ so Rieck. Gegen den Trend, Bio auf immer größeren Flächen anzubauen, setzte sich auch Sebastian Wenzel von der Slow Food-Einkaufsführer-Kommission zur Wehr. Für ihn sind 500 Hektar das Maximum, auf welchen der Nahrungsmittelanbau noch qualitätssichernd funktioniert.
Bild oben: Georg Rieck arbeitet seit Jahren sehr vertrauensvoll mit regionalen Erzeugern zusammen. Das ermöglicht es ihm, seinen Kunden verschiedene Produkte anzubieten, die regional und auch saisonal hergestellt sind.
Auch auf die Mitverantwortung der Verbraucher kommt es an
„Meine Hoffnung ist der Verbraucher. Natürlich brauchen wir eine Systemveränderung, die durch die politischen Entscheidungsträger gestützt und gesetzlich verankert wird. Gar keine Frage, aber ohne die Verbraucher und ihre Mitverantwortung geht hier nichts. Sie müssen Druck machen, den Wandel mittragen, eben auch monetär“, so Hudson. Dafür braucht es ihrer Meinung nach Aufklärung und Wissensvermittlung. Sie ist sich sicher, dass immer mehr Verbraucher nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis bereit wären angemessene Preise für ihre Grundnahrungsmittel zu bezahlen, wenn sie wissen, wo ihr Stück Fleisch oder ihr Brot herkommt, welche Geschichten, Gesichter und Köpfe dahinter stecken und auch die geschmacklichen Unterschiede wahrnehmen und schätzen lernen. Außerdem, erklärte Hudson, müssten Konsumenten verstehen, dass sie für einen fairen Einkauf nicht zwangsläufig tiefer ins Portemonnaie greifen müssen. „Diese Annahme hält sich leider hartnäckig. Deshalb setzen wir in der Bildungsarbeit von Slow Food schon bei Kindern und Jugendlichen an. Wir machen ihnen die Zusammenhänge unserer Ernährungswelt verständlich und versuchen sie von einer Wertschätzung des Essens zu überzeugen. Wenn sie diese aufbringen, wird sich vieles von selbst ändern. Ich bin um jeden Menschen froh, den wir von unseren Zielen überzeugen,“ berichtete die Vereinsvorsitzende.
Lucia Werbick von Misereor übernahm an diesem Abend den Blick über den Tellerrand und erklärte anschaulich, wie stark die Menschen im globalen Süden unter dem Konsumverhalten der Industrienationen litten. Denn die industrielle Landwirtschaft und damit die Art, wie wir wirtschaften und Handel betreiben, beraubt immer mehr Menschen ihres Lebensraums sowie ihrer Existenzgrundlage. Unsere Exportprodukte sind häufig um vieles günstiger als die vor Ort hergestellten Lebensmittel. Als Beispiel nannte sie den Export von billigem Milchpulver aus Europa nach Burkina Faso. Der führt dazu, dass immer mehr kleine Molkereien in Burkina Faso schließen. Eine aufrüttelnde Tatsache. Die Gesprächsrunde ebenso wie die anwesenden Gäste ließen sich jedoch nicht entmutigen. Denn sie gehören zu denen, die es anders machen und es besser versuchen. Zum Schluss berichtete Georg Rieck den Teilnehmenden noch begeistert von seinen ganz persönlichen Erfahrungen in der langjährigen und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit regionalen Erzeugern. „Das geht inzwischen teils über in die nächste Generation. Ich bin begeistert, dass die Kinder meiner Erzeuger sich für das Handwerk ihrer Eltern interessieren und es fortsetzen. Da erlebe ich hautnah, dass es geht, nach fairen Bedingungen, ökologisch und zu angemessenen Preisen zu produzieren. Und das macht mir jeden Tag aufs neue Spaß,“ so Rieck. Einen leichten und genussvollen Ausklang des Abends gab es bei einem Buffet im Bistro seines Ladens.
Bild oben: Die Diskussionsrunde klang mit einem gemeinsamen Imbiss aus. Die Gäste diskutierten dabei rege weiter über Fragen des täglichen Lebensmitteleinkaufs.
Hintergrund:
Martin Luther hat vor 500 Jahren mit 95 Thesen auf die Missstände in der vorreformatorischen Kirche hingewiesen und damit auch die Reformation eingeleitet. Als Beitrag zum Reformationsjahr 2017 haben Slow Food Deutschland e. V. und Misereor die „95 Thesen für Kopf und Bauch“ veröffentlicht. Gemeinsam machen sie damit auf den dringend notwendigen Wandel unseres Lebensmittelsystems und unseres Konsumverhaltens aufmerksam. Während das Luther-Jubiläum abgeschlossen ist, setzt sich die Suche nach einer Nahrungsmittelproduktion, die im Einklang mit Mensch, Tier und Umwelt weltweit steht, fort. Um gemeinsam über Mittel und Wege zu debattieren, braucht es den gesellschaftlichen Diskurs.
Über Misereor
Als Werk für Entwicklungszusammenarbeit der katholischen Kirche kämpft Misereor für Gerechtigkeit, gegen Hunger, Krankheit und Ausgrenzung sowie deren Ursachen. Gemeinsam mit einheimischen Partnern unterstützen wir Menschen unabhängig ihres Glaubens, ihrer Kultur, ihrer Hautfarbe. Seit der Gründung 1958 wurden über 107.000 Projekte in Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika gefördert. Misereor setzt sich für ein Ernährungssystem ein, das die bäuerliche Landwirtschaft stärkt, die Umwelt schützt, Diversität erhält und die Rechte armer Konsumentinnen und Konsumenten in den Mittelpunkt stellt. Misereor hat das Spendensiegel des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI). www.misereor.de
Misereor ist Mitglied im Bündnis Entwicklung Hilft: www.entwicklung-hilft.de
Alle Bilder: © Bernhard Bartmann
Mehr Informationen:
Veranstaltungsreihe "95 Thesen für Kopf und Bauch"
Slow Thema: Agrarpolitik – Informationen, Aktionen und Positionen