Kommentar: Der Schleier um unsere Lebensmittel
Kommentar: "Der Schleier um unsere Lebensmittel"
Prämierungen für Lebensmittel durch die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft, kurz DLG, waren für meinen Einkauf noch nie ein verlässliches Qualitätsmerkmal. Mein Misstrauen ihr gegenüber schürt die DLG nicht zuletzt selbst und wurde erst kürzlich mit dem Skandal um die bewusst aus minderwertigen Fleischabfällen, viel Wasser und einer minimalen Menge von Fleisch fabrizierten Wurst bestätigt. War diese Wurst doch von der DLG mit einer Silbermedaille ausgezeichnet worden – so wie viele andere standardisierte Produkte, die mich an der Prüfkompetenz der DLG stark zweifeln lassen. Individuelle, charakteristische, im Sinne von Slow Food »echte« Lebensmittel, wie z.B. die nordhessische Ahlewurst, gehören nicht zu den Produkten, die von der DLG geprüft werden.
Meine Skepsis in Bezug auf die Silberauszeichnung macht auf ein Problem aufmerksam, welches nicht nur auf die DLG zutrifft: Die Deklarationspflicht unserer Lebensmittel ist höchst lückenhaft, erlaubt die Irreführung des Verbrauchers und fördert diese geradezu.
Legale Schlupflöcher unserer Lebensmittelindustrie
Seit der Vereinsgründung ist die Kennzeichnung von Lebensmitteln, die wir täglich zu uns nehmen, für Slow Food von allerhöchster Bedeutung. Negativbeispiele wie jüngst die doch mit Silber prämierte Wurst lassen das Thema auch in der öffentlichen Wahrnehmung hochkochen. Die Angaben zu verwendeten Zusatzstoffen, Eigenschaften und Herstellungsmethoden auf unseren Lebensmitteln sind weder vollständig noch hinreichend verständlich. Insbesondere bei hochverarbeiteten Lebensmitteln ist die Transparenz über die Wertschöpfungskette nicht gewährleistet.
Die Kennzeichnung zählt zu den legalen Schlupflöchern unserer Lebensmittelindustrie, welche die Produzenten mit steigender Anzahl an Verbrauchern, die Zutatenlisten skeptisch gegenüberstehen, zu nutzen wissen.
Mit dem »Clean Label« propagieren sie Natürlichkeit, wo keine drin ist, umgehen E-Nummern, verwenden Zutaten, die nicht deklarationspflichtig sind. Beispiele dafür gibt es zu Genüge. Hefeextrakt etwa: Er entfaltet im Produkt die Wirkung eines Geschmacksverstärkers, muss als solcher aber nicht ausgewiesen sein. Und hinter der Kennzeichnung »natürliches Aroma« verbirgt sich die bunte Palette von rund 2 000 Aromastoffen, über deren Rohstoffe und Zusammensetzung Labels keine Rückschlüsse zulassen. Worüber uns die Lebensmittelverpackung hingegen beinahe marktschreierisch aufklärt, ist der Kaloriengehalt sowie der Anteil an Salz, Zucker und Fett.
Aus Slow-Food-Perspektive frage ich mich, was uns das derzeitig mangelhafte System der Lebensmittelkennzeichnung bringt? Für uns greift es viel zu kurz, den Fokus auf noch vereinfachtere Nährwertangaben für verpackte und verarbeitete Produkte zu legen. Das dient der Verdummung und Täuschung von Verbrauchern. Und die Verschleierung wahrheitsgemäßer, für Mensch, Tier und Umwelt wirklich relevanter Angaben verhindert den Zugang zu notwendigem Wissen, um bessere Entscheidungen für ein anderes Ernährungssystem zu treffen.
Slow Food fordert echte Transparenz auf dem Warenetikett
Was nun? Verzichten wir auf diese Komplexität, halten es wie Michael Pollan und stellen ein Lebensmittel mit mehr als fünf Zutaten oder Inhaltsstoffen zurück ins Regal – und achten drauf, dass auch mit »weniger« noch viel Hochverarbeitetes produziert werden kann. Wenn wir selber frische Grund zutaten von ökologisch arbeitenden Landwirten, Lebensmittelhandwerkern und Erzeugern aus der Region zubereiten und bewusst genießen, bräuchten wir weder Ampeln noch Zuckersteuer. Dann ist das Lebensmittel in seinem Ursprung sichtbar und transparent, braucht keine Hilfs- und Zusatzstoffe, die es in der industriellen Fertigung zu sich nimmt.
Davon haben wir schon ganz viele Menschen überzeugt, aber eben noch nicht flächendeckend. Bis dahin liegt noch ein weiter Weg vor uns. Deswegen ist Slow Food an einer Lösung innerhalb des bestehenden Systems interessiert, welche Komplexität reduziert, zugleich wirksam an der Transparenzschraube dreht. Unsere Minimalforderung: Die Herkunft der einzelnen Bestandteile sowie die Information, ob das Erzeugnis aus echten oder künstlich, gar gentechnisch hergestellten Inhaltsstoffen besteht, unverschleiert auf dem Warenetikett anzugeben.
Es muss ein praktikabler Weg gefunden werden, die Zusatzstoffe aller Zutaten aufzuführen. Eine gesetzlich festgeschriebene Haltungskennzeichnung für Nutztiere ist unumgänglich. Transparenz muss auch für verpackungsfreie Lebensmittel wie Brot und Essen in der Gastronomie gelten. Damit wären wir bei der Ur-Forderung von Slow Food: wissen, wo unser Essen herkommt, wer es gemacht hat. Für die Umsetzung brauchen wir einheitliche Richtlinien, politische Entscheidungsträger, die sich nicht wegducken – und eine Orientierung an den Italienern: Diese bringen die EU-Deklarationsregulierung ins Wanken, indem sie künftig kennzeichnen, ob die Inhaltsstoffe in typisch einheimischen Erzeugnissen aus italienischer Produktion stammen oder nicht.
Dieser Kommentar von Ursula Hudson ist im aktuellen Slow Food Magazin 3/2018 erschienen.
Foto: © Holger Riegel
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