Kommentar: Fürs Klima – Ausstieg aus unserem Ernährungssysteme

23.11.2018 - Im Oktober erschien der aktuelle Bericht des Weltklimarates. Kein Zweifel: Das international vereinbarte Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen, rückt in immer weitere Ferne. Erreichen lässt es sich noch, indem wir den Ausstoß von Klimagasen, insbesondere CO2, sofort und entschieden senken. Ein Kommentar von Ursula Hudson, Vorsitzende von Slow Food Deutschland.

Kommentar: Fürs Klima – Ausstieg aus unserem Ernährungssystem

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Immerhin: Der Hoffnungsfunke ist im Keim noch nicht erstickt. Die Reaktionen der politisch Verantwortlichen nach Veröffentlichung des Berichts? Betroffen über die Ergebnisse forderten sie zunächst einmal, diese ernst zu nehmen. Sie kündigten weitere Anstrengungen an, riefen zu mehr Ehrgeiz, entschiedenem, schnellem und weitreichendem Handeln auf, damit unser Planet nicht aus dem Gleichgewicht gerate... der Bericht für sie sei ein "Weckruf". Ihre Reaktionen ließen mich nicht nur nahezu erschaudern, sondern teils auch verunsichert zurück: Ist unsere Erde nicht schon längst aus der Balance? Steht unser Wecker nicht seit Jahren im Schlummermodus statt auf Alarm?

Ein Land Namens "Lebensmittelverschwendung"

Nachdem ich einen Blick auf die "Hausaufgaben" geworfen hatte, die aus diesem Bericht abgeleitet wurden – Ausstieg aus der Kohle, Abschied von Verbrennungsmotoren und, und, und – geriet ich erst recht ins (Ver-)Zweifeln. Wie kann es sein, dass wir – Klimabericht für Klimabericht – einen entscheidenden Ausstieg verschweigen? Den aus unserem Ernährungssystem! Dies nämlich zählt zu den Hauptantreibern des Klimawandels. Allein die Landwirtschaft verursacht weltweit etwa ein Drittel aller globalen Treibhausgase. Ihre industriellen Auswüchse mit Massentierhaltung, Monokulturen, hohen Einsätzen an Stickstoffdünger und Pestiziden mindern Wasser-, Luft- und Bodenqualität, führen zu einem Verlust an Biodiversität und Artenvielfalt. Hinzu kommen die systemimmanente Überproduktion und Verschwendung von Lebensmitteln. Ein Drittel der Gesamtproduktion landet nicht auf unseren Tellern.

Gäbe es ein Land Namens "Lebensmittelverschwendung", wäre es nach China und den USA der drittgrößte Emittent von klimaschädlichen Gasen, so die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen.

Begrenzte Ressourcen, grenzenloser Appetit

Wenn es ums Essen geht, sind wir grenzenlos und kindlich naiv. Wir verschließen die Augen davor, dass die Ressourcen endlich sind, kleiden das alte System mit einem neuen Mantel und schaffen die falschen Anreize. Geben wir uns der Illusion weiter hin, dass wir bei der Ernährung um einen grundlegenden Wandel umhinkommen, wird sich das Klima-Szenario verschärfen – und zwar eklatant. Deshalb muss Schluss damit sein, unser Ernährungssystem auszuklammern, wenn es um das Einhalten der Klimaziele geht. Wir brauchen politische Maßnahmen sowie ökonomischen und gesellschaftlichen Ansporn, damit die Art, wie wir Lebensmittel produzieren, verteilen und konsumieren jetzt und in Zukunft Bestand hat. Die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel müssen in eine ökologische Landwirtschaft und diversifizierte Betriebe fließen. Wir brauchen eine ganzheitlich ausgerichtete Ernährungspolitik – ressourcen- und klimaschonend. Diese muss sich wie ein roter Faden durch alle Ressorts auf allen Ebenen, weltweit, EU-weit, regional bis lokal, ziehen.

Statt einen solch umfassenden Systemwandel anzupacken, beackert unser Landwirtschaftsministerium einzelne Teilbereiche, technischer Fortschritt klingt dabei immer gut. Aktuell gilt die Digitalisierung als Schlüssel für die weitere Entwicklung der Agrarwirtschaft. Durch Präzisionslandwirtschaft ließen sich Wasser, Pestizide und Düngemittel gezielter einsetzen – sicher richtig und in Gänze nicht unwichtig. Doch diese technischen Fortschritte im alten System lösen nicht unsere Aufgabe, sowohl die bestehende als auch die wachsende Weltbevölkerung nährstoffreich und innerhalb der Grenzen unseres Planeten zu ernähren. Kontraproduktiv dafür ist auch unser westlicher Ernährungsstil mit seinem maßlosen Konsum an tierischen Produkten – billig und zulasten von Mensch, Tier und Umwelt erzeugt.

Für den Austritt aus der Komfortzone

Wir brauchen eine fleischreduzierte, stärker pflanzenbasierte Ernährung mit Hülsenfrüchten, Nüssen und verschiedenen Getreiden als Protein- und Eiweißquellen. Ähnlich effizient wäre die drastische Reduzierung der Lebensmittelverluste und -verschwendung. Wir brauchen Wachsamkeit, Einsicht und entschlossenes Handeln, damit wir die große Chance nutzen, unsere Lebensmittelwirtschaft zukunftsfähig zu machen. Das mag für den einen oder anderen unbequem sein, weil es heißt, die eigene Komfortzone zu verlassen. Die Politik hat Sorge, ihre Wähler könnten sich bevormundet fühlen. Die Wirtschaft bangt um Einbußen. Doch wenn wir den Wandel positiv erzählen und mit Vorbild vorangehen, dann ist das Gegenteil der Fall: Statt um Bevormundung geht es um Transparenz, Souveränität und Genuss in den eigenen vier Wänden, der Gastronomie und der Gemeinschaftsverpflegung. Es geht um neue, "grüne" Arbeitsplätze, um ein Bildungssystem, das Menschen von klein auf über ihr existenziell wichtiges "Mittel zum Leben" schult. Wenn wir das verstanden haben, kommt sie näher – die Begrenzung der Erderwärmung.

Dieser Kommentar von Ursula Hudson ist im aktuellen Slow Food Magazin 5/2018 erschienen.
Foto:
© Holger Riegel

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