Pralle Herrlichkeit: Es geht um die Wurst

6.2.2018 – Der Kunsthistoriker und Kulturmanager Wolfger Pöhlmann hat eine „deutsche Kulturgeschichte der Wurst“ geschrieben. Nicht zu deftig, nicht überwürzt, jederzeit delikat und mit vielen großartigen Abbildungen. Aber leider vom Aroma des Abschieds umweht. Manfred Kriener hat sie gelesen.

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Was verdient ein deutscher Metzgergeselle? 13 Euro Stundenlohn, ist das möglich? Wieviel Wurst essen die Deutschen im Jahr? Wirklich Millionen Tonnen? Kann es sein, dass die Frankfurter in Wahrheit Wiener sind? Die Würstchen natürlich. Und: Wo genau verläuft eigentlich der Weißwurstäquator? Wolfger Pöhlmann beantwortet Ihnen alle Fragen und auch solche, die Sie noch nie gestellt haben, wenn Sie im Metzgerladen stehen.

Wir Deutschen essen tatsächlich 2,5 Millionen Tonnen Wurst im Jahr und sind natürlich: Wurstweltmeister. Wir beißen in jedem Winkel des Landes zu, die Vielfalt ist mit 1.500 Sorten wahrlich ehrfurchtgebietend. So spannen die gefüllten Bändeldärme eine kulinarische Nabelschnur quer durch unser Land. Pöhlmann hangelt sich entlang dieser Schnur, besucht handwerkliche Metzgereien in (fast) allen Regionen und zeigt uns den Kulturschatz in ganzer Schönheit. Halberstädter Würstchen, Kronacher Bierwürmer, Steindorfer Spiralwürste, Christbaumwürschtle, Felsenkieker, Bauernseufzer, Balzheimer Lutherische, Britzer Knublinchen, Rostocker Hafenleberwürste: Seine Wurststreifzüge veknüpft er dabei niveauvoll mit Kunst und Literatur. So befreit er die Wurst von ihrem unfeinen fettig-prolligen Image. Statt Fettspritzer und Geschmacksverstärker gibt’s Informationen, Anekdoten, Gedichte, Gemälde, jederzeit originelle und manchmal ein bisschen verrückte Kunst. Die Wurst wird Seite für Seite rehabilitiert, schließlich ist sie für die Wiedervereinigung verantwortlich, die bei Pfälzer Saumagen von Kohl und Gorbatschow dingfest gemacht wurde.

Bild oben: Nordhessische Ahle Würschte – eine Wurstspezialität in der Arche des Geschmacks, einem internationalen Projekt der Slow Food Stiftung für Biodiversität. | © Gerhard Schneider-Rose

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Elend und Krise sind schnell beschrieben

Wolfger Pöhlmann zeigt uns, was wir mit dem Untergang des Metzgerhandwerks verlieren. Doch sein Buch ist keine Jeremiade. Ihm genügen wenige Seiten, um das Elend der Massentierhaltung, die Erbärmlichkeit der Discounterware und die Krise des Handwerks zu beschreiben. Alles andere ist eine Hymne an die Wurst und ihre pralle Herrlichkeit.

Es fehlt auch nicht an philosophischen Betrachtungen. Hier sucht Pöhlmann bei der Philosophin Elisabeth von Samsonow Zuflucht: Für die ist die Wurst die Inkarnation des Fleisches, in deren Form sich der ideale Leib ausdrückt. Alles was Körper an ihm war, sei zu einer wundervoll gleichmäßigen Masse umgewandelt worden. In seinen eigenen Darm gesteckt, offenbare sich ein neues Selbstverhältnis dieses Körpers, der sich nun in höchstem Altruismus als Speise anbiete. Am Ende sei die Wurst „das Beste was man als Körper sein kann.“ Und wehe, wenn sie dann auch noch schmeckt… 

Bild oben: Autor Wolfger Pöhlmann. | © Martina Bieräugel

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Der gute Handwerker wird zum Künstler

Es ist anrührend, die vielen Metzgerinnen – ja, es sind auch etliche tüchtige Frauen darunter – und Metzger mit ihren weißen Hütchen und Schürzen in ihrem Wurstuniversum zu sehen. Ein wenig unbeholfen halten die meist völlig unbekannten kleinen Erzeuger ihre Würste in die Kamera. Pöhlmann zögert nicht, diese Menschen als Künstler zu bezeichnen, auch wenn er ein abmilderndes „gewissermaßen“ davorschiebt. Im Kontext des Buches wirkt das weder lächerlich noch exaltiert.

So blitzt noch einmal der Stolz eines Handwerks auf, das einst das angesehenste überhaupt war. Die Frage, was davon übrig bleiben wird, muss Pöhlmann gar nicht erst stellen. Sie umhüllt das Buch ganz von selbst wie eine zarte Pelle, meist unausgesprochen und doch omnipräsent. Denn kaum einer der handwerklichen Qualitätsmetzger, die hier so liebevoll in Szene gesetzt werden, expandiert noch. Die meisten arbeiten im Rückwärtsgang. Die Dumpingpreise der Discounter, die harten Arbeitsbedingungen, der fehlende Nachwuchs, die strengen Hygienevorschriften, aber auch die mangelnde Wertschätzung einer Gesellschaft drängen sie in die Defensive. Welcher junge Mensch ist heute noch bereit, als Metzgergeselle bei einem Stundenlohn von 20, 15 oder gar 13 Euro zu arbeiten?

Bild oben: Metzgerei in Erfurt. | © Wolfger Pöhlmann

Die neue Wurst als schnittfestes Wasser

Die im heißen Dampf rot aufblühenden Metzgerhände konkurrieren heute mit einem Maschinenpark, der immer groteskere Formen annimmt. Das Kapitel zur IFFA, der Internationalen Fleischwirtschaftlichen Fachmesse in Frankfurt/Main, gehört zu den stärksten des Buchs. Dort sind die Folterwerkzeuge der Industrie zu bestaunen. Ihr gelingt es immer perfekter, Fleisch in der Wurst einzusparen, Wasser zu aromatisieren und schnittfest zu machen. Hygieneschleusen und Nachgartunnel, Durchlaufmürbeschneider und Netzrafferautomaten, Entsehnungs- und Darmreinigungsanlagen geben sich ein Stelldichein. Auch der praktische Rektumsfreischneider darf nicht fehlen oder der vollautomatische Bauch- und Brustbeinöffner. Dazu der eine oder andere Nackenkneifer und das praktische Zwei-Arm-System zum Entfernen von Flomenresten mit oszillierenden Messern. Das ist die Zukunft. Das Schwein in der vollautomatisierten Produktionsstraße mit normierten Würsten, die hinten im Sekundentakt rauspurzeln. Leider können sich auch die „Guten“ den Verlockungen der Automation nicht dauerhaft entziehen.

Was Pöhlmann nicht schafft und leider auch nicht versucht, ist der Frage nachzugehen, wie die Abwärtsspirale des Metzgerhandwerks gestoppt werden könnte. So findet die Kulturgeschichte der Wurst kein Happyend. Stattdessen hängt das Aroma der Trauer und des Abschieds auch über den besten der beschriebenen Betriebe. Es mag ausweglos erscheinen und doch wäre ein ernsthafter Rettungsversuch die Anstrengung wert. Wer wüsste das besser als Pöhlmann, der große Wurstfanatiker, der sich schon zu seiner Konfirmation ein ganzes Pfund Leberkäse auf einmal wünschte.

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Eine Sammlungsbewegung für die Guten

Die Überlebenshilfe müsste als gesellschaftliche Tangentiale angelegt sein, also möglichst viele gesellschaftliche Stakeholder und Unterstützer vereinen. Sie sollte unideologisch daherkommen und nicht überambitioniert, um möglichst viele bei dieser Sammlungsbewegung der letzten echten Wursthersteller mitzunehmen. Einige Vorschläge dazu formulieren sich beinahe von selbst: So braucht es eine Definition des guten handwerklichen Metzgers mit klaren Kriterien und einem eigenen Emblem jenseits des vom Verband verliehenen roten „f“. Das reklamieren auch viele für sich, die sich von Qualität und Handwerk längst verabschiedet haben. Ebenso notwendig wären eine eigene Messe und ein Köchelverzeichnis für die „Guten“ im Land. Mit solch einem Kompass – darin wären auch viele Adressen aus diesem Buch – könnten wir Pöhlmann Wurststreifzüge nachvollziehen, hätten Orientierung auf unseren Reisen und – jederzeit was Anständiges zu beißen.

Bild oben: Metzger mit Ostheimer Leberkäs, einer unterfränkische Wurstspezialität in der Arche des Geschmacks von Slow Food. | © Stefan Abtmeyer

Wolfger Pöhlmann: „Es geht um die Wurst – Eine deutsche Kulturgeschichte“, Knaus-Verlag, 464 Seiten, 26 Euro

Mehr Informationen:

Slow Thema: Genuss und Wertschätzung – Informationen, Aktionen, Positionen

Arche-Passagier Nordhessische Ahle Wurscht in traditioneller Herstellung

Arche-Passagier Ostheimer Leberkäs

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