Biokulturelle Vielfalt ganz praktisch: „Esst, was ihr retten wollt“

16.11.2020 - Ein alter gemischter Satz aus Wein-Franken, Leberwurst vom Rhönschaf oder Sauermilchkäse aus Ostwestfalen: Vielfalt auf unseren Tellern und in unseren Gläsern ist nicht nur ein nachhaltiges Zeichen gegen uniforme Industrie-Landwirtschaft – sie garantiert auch mehr Genuss. Ein Slow-Food-Abend Mitte November mit vielen einst traditionellen und heute bedrohten Lebensmitteln, den Arche-Passagieren.

Archeverkostung_hochkant (c) luka luebke.jpegAls Gerd Sych und seine Mitstreiter*innen vom Slow Food Convivium Mainfranken-Hohenlohe vor sechs Jahren auf den alten Weinberg ganz im Süden des fränkischen Weinbaugebiets stießen, war der Begriff „Weinberg“ allenfalls eine optimistische Übertreibung. Die Reben wucherten wild, die Stickel, an denen sie hochwachsen sollten, waren marode, der Gesamteindruck der Anlage, nun ja, verwahrlost. Ganz anders heute: Die Reben sind gesund, geben im Sommer und Herbst ein properes Bild ab. 3.000 Stickel, also Holzpfähle, haben die Engagierten neu eingeschlagen, und mittlerweile entsteht dort wieder Wein. Und zwar ein ebenso erstklassiger, wie besonderer: der alte fränkische Satz, ein weiß ausgebauter Wein aus 18 klassischen und historischen Rebsorten. Noch eine Rarität, etwa 360 Flaschen entstanden im Jahr 2019 - ein kräftiges Zeichen, dass eine alte fränkische Weintradition wiederauflebt und zwar sehr markant. Oder wie Luka Lübke, Bremer Köchin und Mitglied der Chef Alliance von Slow Food, sagt: „Ein Wein für Anspruchsvolle, den man nicht eben mal wegtrinkt.“

Und ein Wein, der damit für zwei Dinge stellvertretend steht: Viele traditionelle Lebensmittel haben Ecken und Kanten, die sie einzigartig machen. Und wie so oft ist es die Kombination aus alten Verfahren und Sorten sowie dem außerordentlichen Engagement von begeisterten Menschen, wie in diesem Fall Gerd Sych und seinen Mitstreitenden, die die Vielfalt auf unseren Tischen und damit die Vielfalt in der Land- und Lebensmittelwirtschaft sichert. Das ist eine der wichtigsten Botschaften eines virtuellen Slow-Food-Genussabends unter Moderation von Luka Lübke und Beteiligung vieler solch Engagierter, die sich quer durch Deutschland für den Erhalt möglichst vielfältiger und traditioneller Genussmittel engagieren. Sie füllen mit Leben, was sich Slow Food von Beginn an als Schwerpunktthema aufgegeben hat: Den Erhalt der biokulturellen Vielfalt. Dazu gehört die Förderung des Zusammenspiels aus Arten- und Sortenvielfalt der Natur und der Vielfalt von Anbauformen, des Lebensmittelhandwerks und unserer kulinarischen Traditionen.

 

Auf der Arche des Geschmacks in eine vielfältige Zukunft

Nichts verdeutlicht diese Vielfalt und das Engagement für selbige so sehr wie die Arche des Geschmacks. Unter diesem Namen hat Slow Food Deutschland seit 1996 77 alte Sorten, Lebensmittel und Zubereitungsarten, die vom Aussterben bedroht sind, versammelt. Weltweit schützt der Verein so mehr als 5.000 Passagiere. Voraussetzung: Die Sorten sind charakteristisch für die kulinarische oder handwerkliche Tradition einer Region und zumindest in kleinem Umfang noch käuflich erwerbbar. Einige dieser Passagiere standen im Mittelpunkt der Verkostung.

Wie eben der Alte Fränkische Satz, bei dessen Anbaumethode bis heute schleierhaft ist, warum sie eigentlich in Vergessenheit geraten konnte. Denn anders als bei reinsortigen Weinen wachsen hier Reben verschiedener Sorten in einem Weinberg, werden gemeinsam gelesen und gekeltert. So entstehen nicht nur aromatische Weine mit Charakter, sondern auch sehr robuste. Ist in einem Jahr das Klima mal für eine Sorte schlecht, gleicht sich das durch andere Sorten wieder aus. Resilienz und damit die Eigenschaft, auf sich ändernde Umweltbedingungen gut reagieren zu können, zeichnet viele dieser alten, bedrohten Sorten aus.

So auch das Rhönschaf. Eine alte Mehrnutzungsschaf-Rasse, die früher sowohl Wolle und Fleisch gab als auch die Landschaft der Rhön pflegte. Dann geriet sie in Vergessenheit, weil „moderne“ Schafe in den Einzeldisziplinen scheinbar mehr Leistung und damit Ertrag erbringen. Heute gibt es auf der Rhön wieder mehrere tausend dieser Schafe mit dem charakteristischen schwarzen Kopf, weil Menschen wie der Bio-Schäfer Josef Kolb aus ihrem Fleisch wieder tolle Produkte herstellen. Etwa eine grobe Leberwurst, die nicht nur während der Verkostung überzeugte – sondern auch hervorragend zu dem Alten Fränkischen Satz passt.

 

Schützt und nutzt das klassische Handwerk

Dabei sind es nicht nur alte Rassen und Sorten wie eben das Rhönschaf, oder die in den badischen Sonnengebieten reifende und von Claudia Höß vorgestellte Bühler Zwetschge, die auf der gleichnamigen Bodensee-Insel wachsende Aroma-Zwiebel Höri Bülle, die Markus Bruderhofer vorstellte, sowie der von Christoph Schuster präsentierte Nelkenapfel aus der Lausitz, die die biokulturelle und kulinarische Vielfalt ausmachen. Es sind auch Handwerksverfahren und die Menschen dahinter. Wie etwa Thomas Menn, Landwirt und Käser aus Ostwestfalen. Er fertigt den Nieheimer Käse, ein Sauermilchkäse von wortwörtlich raumgreifendem Duft.

Auch er entstand in einer typischen traditionellen Lebenssituation, die die Menschen früher fast automatisch nachhaltig und ganzheitlich handeln ließ. Bei der Käseproduktion zerteilt sich die Milch in fetthaltige und fettfreie Flüssigkeiten. Nur die fetthaltigen braucht man für klassischen Schnitt- oder Schmierkäse. Aber auch die übrige Sauermilch eignet sich fürs Käsen, der Käse ist denn eben nur fettärmer, hat eine andere Konsistenz und einen anderen „Duft“, wie Luka Lübke das Aroma ganz leicht beschönigend beschreibt. Trotzdem entsteht so eine Spezialität von langer Tradition und großem kulinarischen Wert. Die Nieheimer Variante überzeugt dadurch, dass sie nach der Verkäsung in Kümmel und Salz gerollt wird und dann kurz reift. „Früher hat man sie noch mit getrocknetem Hopfen, der nach dem Brauprozess übrig war, eingewickelt“, erzählt Thomas Menne. „Aber das macht heute eigentlich niemand mehr.“ Schon allein, weil viele der früher typischen Regionalbrauereien in der Nähe nicht mehr existieren.

Der Käse aus echter handwerklicher Fertigung dagegen erfreut sich nach vielen Rückschlagen in der Vergangenheit einer wachsenden Fanschar. Was er mit einem Produkt aus dem Süden, das ebenfalls eine Kombination aus Tradition und Handwerk entstammt, gemein hat: der Hutzel. Im fränkischen Fatschenbrunn dörrt Franz Hümmer Birnen von Streuobstfeldern nach traditioneller Methode zu Trockenobst. So bewahrt er ein altes Handwerk und eine traditionelle Kulturlandschaft voller Tier- und Pflanzenarten. Auch die wäre ohne die Hutzeln bedroht. Was dagegen hilft? Was Luka Lübke als Abschluss dieser Verkostung, für die Markus Bruderhofer die Pakete fein kuratiert hatte, festhielt: „Esst, was ihr retten wollt.“

Text: Sven Prange

***
>>Zur Aufnahme der Podiumsdiskussion "Biokulturelle Vielfalt schmecken - mit dem Slow Food-Arche-Verkostungspaket"

>>Mehr zur Arche des Geschmacks

>>Mehr zu Terra Madre Salone Del Gusto

Inhaltspezifische Aktionen