Vielfalt auf dem Feld, Vielfalt im Ofen: Wie ein Unternehmen Arche-Passagiere wieder nutzt

13.11.2020 - Viele alte Sorten und Slow Food Arche-Passagiere sind zwar im Vergleich mit industriellen Produkten ‚aufwendiger‘ in der Verarbeitung, erhalten aber die Genuss-Vielfalt einer Region. Vor allem, wenn sich Lebensmittelhandwerker*innen und Erzeuger*innen zusammentun. Wie das Bäckerhaus Veit aus Südwestdeutschland zeigt – dort stehen mit Höri Bülle, Schwäbischem Dickkopf-Landweizen und Ermstäler Knorpelkirsche gleich drei Arche-Passagiere auf den Zutatenlisten.

Dickkopfweizen Beuren Haldenhof (c) Backhaus Veit.jpegIrgendwann standen sie dann mit Taucherbrillen in der Backstube. Zwölf Bäcker der Bäckerei Veit an ihren Arbeitsplätzen, in den Händen Messer zum Zwiebelschneiden für die Dinnete, ein schwäbischer Teigfladen mit Schmand und Zwiebelbelag. Denn diese Zwiebeln, die hier auf der Dinnete landen sollen, hatten es in sich: Schön rötlich, eigentlich mild im Geschmack – aber mit allerlei verwachsenen Häutchen zwischen den Zwiebeln, die entfernt werden müssen. So wie die Höri Bülle, eine Zwiebel von der Insel Höri am Bodensee, nun mal ist: Sehr lecker, aber in der Verwendung auch sehr mühsame Handarbeit, die in der Menge auch gestandenen Bäcker*innen die Tränen in die Augen treibt. Handarbeit, die sie im Bäckerhaus Veit dennoch gerne in Kauf nehmen. Nicht nur, weil mit der Zwiebel ganz aus dem Südwesten Deutschlands besonders genussvolle Dinnete gelingen. Sondern weil die Bäckerei Veit so auch zum Erhalt einer alten, aber mittlerweile selten gewordenen Sorte beiträgt.

Die Höri Bülle ist eine Rarität geworden. Wer den Slow Food Arche-Passagier deswegen, wie die Bäckerei Veit, verwendet, trägt aktiv zum Erhalt der Sortenvielfalt bei. Und bei der Bäckerei Veit, die mit 54 Fachgeschäften und Cafés zwischen Stuttgart und dem nördlichen Rand der Schwäbischen Alb ihre Kund*innen versorgt, haben sie inzwischen eine gewisse Erfahrung mit dem Zwiebel-Passagier. Seit Jahren setzt sich der Familienbetrieb für den Erhalt und die Nutzung alter Sorten ein. Neben der Höri Bülle sind schon länger zwei weitere Arche-Passagiere von Slow Food im festen Zutatensortiment der Bäckerei: der Schwäbische Dickkopf-Landweizen und die Ermstäler Knorpelkirsche. Damit zeigt die Bäckerei, wie Lebensmittelhandwerker*innen aktiv zum Erhalt der biokulturellen Vielfalt beitragen können. Denn Veit erhält nicht nur die Arche-Passagiere, sondern arbeitet dafür auch aktiv mit Landwirt*innen und Streuobstflächenbesitzer*innen aus seiner Nachbarschaft zusammen. Das ist genau die Art regionaler Vielfalt und Vernetzung, die Slow Food mit seinem Schwerpunkt auf die biokulturelle Vielfalt fördern möchte.

Netzwerken für die Sortenvielfalt

Bei Veit stand am Anfang die Erkenntnis des Seniorchefs, dass in modernen Backbetrieben manches dann doch sonderbar läuft. Richard Veit jedenfalls wollte schon 2003 für seine Apfelkuchen nicht, wie es in vielen Bäckereien üblich ist, Dunstäpfel aus China verwenden. Also legte die Bäckerei eine eigene Apfelplantage mit 2.700 Bäumen an. Weiter ging es später mit dem Bezug von Walnüssen aus dem Ermstal für das Ermstäler Hutzelbrot oder Hauszwetschgen für die Zwetschgenkuchen. Schließlich liegt vor den Türen der Bäckerei das größte zusammenhängende Streuobstgebiet Europas. Veit ist zwischenzeitlich Mitglied im Schwäbischen Streuobstparadies und setzt heimische Ware ein, wo es nur geht.

„Wobei regionaler Einkauf immer sehr einfach klingt“, sagt Susanne Erb-Weber, die als Marketing-Fachfrau die Ausrichtung der Bäckerei auf alte und regionale Zutaten seit Jahren begleitet. „Sie müssen zunächst einmal die Netzwerke wieder knüpfen, in denen die Beschaffung gelingt. Darauf ist ja heute niemand mehr eingestellt.“ Und Netzwerke knüpfen, das heißt in Sachen alter Sorten vor allem: Belastbare Beziehungen zu den Landwirt*innen, und im Falle Schwabens, Streuobststückles-Besitzer*innen herstellen.

Beim Obst und den Walnüssen aus dem Ermstal arbeitet Veit dafür mit einem Koordinator zusammen, der das Streuobst vieler Kleinsterzeuger*innen zunächst sammelt, sortiert und dann anliefert. „Es kommt schon sehr drauf an, was für Partner man hat und dass man mit denen Hand in Hand arbeiten kann“, sagt Erb-Weber. „Man kann hier nicht wie im Bäckereigroßhandel eine Preisliste aufklappen und bestellen, was man will.“

Alte Sorten, neue Methoden

Dafür entstehen Beziehungen, die wirtschaftlich, sozial und ökologisch auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sind. Bei Veit ist man jedenfalls überzeugt: Durch die Rückbesinnung auf regionale Zutaten haben sich auch Prozesse und Ansichten innerhalb der Bäckerei geändert. „Das hat sicherlich dazu geführt, dass wir uns alle mit dem Erhalt alter Sorten auseinandersetzen“, sagt Erb-Weber. Und dass die Bäckerei neben den alten Streuobstsorten insgesamt ihr Herz für alte Nutz-Sorten, die am Markt auf Grund von Industrialisierung und Preisdruck immer seltener geworden sind, geöffnet hat.

richards-rotkornle_freisteller (c) Backhaus Veit.j pg.jpegBei Veit war der Schwäbische Dickkopf Landweizen der erste Slow Food Arche-Passagier, der auf einer Zutatenliste auftauchte. Vor zwölf Jahren war das. Heute gibt es bereits zwei eigenständige Dickkopf-Brote und zwei Dickkopf-Krustis aus der alten Sorte. Ein ganz einfacher Weg war das nicht: Für die Bäcker*innen nicht, weil die Rezepturen erst entwickelt werden mussten. Für die Kund*innen nicht, weil die nicht gerne kaufen, was sie nicht kennen. Und für den Einkauf bei Veit nicht, weil zunächst Entwicklungsarbeit unter den Landwirt*innen geleistet werden musste.

„Man geht ja mit dem Landwirt beidseitig ins Risiko, wenn man eine Sorte wieder anbauen will“, sagt Erb-Weber. Veit fand schließlich einen Landwirt, den die Zusammenarbeit überzeugte. Der wiederum warb irgendwann einen zweiten an und der dritte und vierte kamen dann dazu, weil sich das Thema rumsprach. Heute gibt es eine Warteliste an Höfen, die für Veit anbauen wollen. Der Erfolg des Produkts kombiniert mit der Aussicht auf langfristige, fair bepreiste Lieferverträge, sprechen eben für sich.

Ähnlich viel Überzeugungsarbeit erforderte der zweite Arche-Passagier bei Veit: Die Ermstäler Knorpelkirsche. Ein klassisches Streuobstprodukt, sehr geschmacksintensiv, optimal abgestimmt auf Klima und Boden am Fuße des Nordrands der Schwäbischen Alb. Nur mit einem Problem behaftet: „Sie können die nur schwer vermarkten, weil das Verhältnis von Fleisch und Kern nicht gängigen Vermarktungskriterien entspricht“, sagt Susanne Erb-Weber. Wenn man die Frucht aber zu Saft verarbeitet und dann in der Bäckerei verwendet, entstehen tolle Produkte.

Mittlerweile hat die Bäckerei Erfahrung in der Einführung von Erzeugnissen aus alten Sorten. So kam in diesem Jahr für eine Aktion im Oktober die Höri Bülle hinzu, von der Veit den Erzeuger*innen gleich mal zwei Tonnen abgekauft hat. Die rote Speisezwiebel gehört in der Bodenseeregion eigentlich zum kulinarischen Inventar, ist aber auch etwas ins Abseits geraten. Das hätte beinahe zum Aussterben der Zwiebel geführt, wenn sich nicht lokale Initiativen und Slow Food mit der Arche des Geschmacks ihrer angenommen hätten. Sie halfen und helfen dabei, die Höri Bülle wieder ins Bewusstsein zu holen. Das ist wichtig: Denn mit jeder dieser alten Sorten, die nicht mehr in der Lebensmittelerzeugung verwendet werden, sinkt die Artenvielfalt wieder ein Stück. Und wird auch die Ernährungssicherheit ein Stückchen labiler: Denn je größer die Sortenvielfalt, desto krisenresistenter ist die menschliche Ernährung. Ganz abgesehen von den regionalen Wertschöpfungskreisläufen, die nur durch regional verankerte Sorten und ihre besonderen Verarbeitungsprozesse gesichert werden.

Bei Veit hat es dazu geführt, dass das Unternehmen schon fast mehr als eine Bäckerei ist. Quasi ein kleines Labor zur Zukunft der Ernährung. Einige Kilometer vom Unternehmenssitz entfernt betreibt Veit mittlerweile mit Jan Sneyd, einem Experten für alte Sorten, eine Art Versuchsgarten. Dort werden alte Sorten daraufhin getestet, ob sie für einen zukünftigen Anbau und die künftige Verwendung in der Bäckerei attraktiv sind. Der Nachschub aus dem Versuchsgarten in die Backstube jedenfalls wird also nicht knapp.

Text: Sven Prange

***

>>Mehr zur Arche des Geschmacks

>>Mehr zum Thema Biokulturelle Vielfalt

Inhaltspezifische Aktionen