Deutschlands Ernährungsstrategie: Gesund, nachhaltig, fair ... und gut!

19.03.2024 - Folgenden Artikel zu Deutschlands Ernährungsstrategie hat Slow Food Deutschland Vorsitzende Dr. Nina Wolff für die deutschsprachige Fachzeitschrift Ökologisches Wirtschaften geschrieben.

Kartoffeln (c) Pexels.jpgPreiskrise, Tierleid, Klima- und Bauernproteste: Aus ganz verschiedenen Blickwinkeln wurde Ernährung jüngst zu einem vermehrt diskutierten Thema. Für manche noch immer verbunden mit der Frage, ob man uns nun ans Schnitzel wolle, und was der Staat in unseren Kühlschränken zu suchen habe. Die Auswirkungen unseres individuellen Einkaufs- und Ernährungsverhaltens auf Umwelt, Gesundheit, Tierwohl, Teilhabe- und Entwicklungsmöglichkeiten aber werden zunehmend bewusster, und auch der Wunsch nach mehr Gerechtigkeit entlang der Wertschöpfungskette sowie bei der individuellen Versorgung ist groß. An erster Stelle aber steht bei 99 Prozent der Bevölkerung nach wie vor, dass Essen vor allem schmecken muss.[1]

Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung die Erarbeitung einer Ernährungsstrategie in den Koalitionsvertrag der aktuellen Legislaturperiode einbezogen, und dabei die „Freude am guten Essen“ als Antrieb definiert. Nach einem Beteiligungsprozess mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Wirtschaft, Verbraucherschutz, Gesundheit und Umwelt im Zeitraum Juni 2022 bis Februar 2023 liegt seit dem 17. Januar 2024 die Ernährungsstrategie der Bundesregierung für „Gutes Essen in Deutschland“ vor. Damit soll es für alle Menschen möglich und einfach werden, sich gut zu ernähren.[2]

Für staatliche Rahmenbedingungen ist es höchste Zeit, denn viel steht für die Gesundheit von Mensch und Planet Erde auf dem Spiel: Weil Menschen, Böden, Tiere, Wasser und Umwelt systemisch miteinander verbunden sind, kann es gesunde Ernährung nur auf einem gesunden Planeten geben. Aktuell aber steht die Ernährungsweise in Deutschland in Zusammenhang mit etwa einem Fünftel unserer Treibhausgasemissionen und ist mitverursachend für den Verlust von Arten- und biologischer Vielfalt.[3] Und auch die individuelle Gesundheit vieler Menschen und insbesondere Kinder muss in den Fokus gerückt werden. Fehl- und Überernährung haben in allen Bevölkerungsschichten und Altersgruppen fatale Folgen für die Gesundheit einer wachsenden Zahl von Betroffenen, und aus den von Ernährung mitverursachten Krankheiten ergeben sich in der Summe erhebliche staatliche Gesundheitskosten.

Unsere Ernährung hat zudem eine soziale Dimension: Nicht erst seit der rapiden Teuerung von Lebensmitteln in der jüngeren Vergangenheit haben wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen deutlichen Einfluss auf die Möglichkeiten, sich gesund zu ernähren. In einem fairen Ernährungssystem ist Ernährung erst dann gut, wenn sie für alle zur Verfügung steht.

Mit der neuen Ernährungsstrategie nun soll das gesamte Ernährungssystem verändert werden. Leitbild hierfür ist eine stärker pflanzenbetonte Ernährung mit möglichst ökologisch erzeugten, saisonal-regionalen Lebensmitteln und möglichst wenig Lebensmittelverschwendung.

Die Wegmarken dafür sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu gesunder Ernährung und die planetaren Grenzen – sprich die ökologischen Belastungsgrenzen der Erde. Um den daraus erwachsenden Anforderungen gerecht zu werden, muss der Umschwung auf eine vermehrt pflanzliche Kost mit wenigen tierischen Erzeugnissen gelingen. Hauptbestandteile sind Gemüse, Obst, Getreide, Hülsenfrüchte und Nüsse. Dieser Ansatz, den auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung teilt, gilt wissenschaftlich und medizinisch nun als der Königsweg.

Ein wichtiger Hebel bei der gewünschten Umstellung ist die Gemeinschaftsverpflegung. Da ein Großteil der Deutschen mindestens einmal werktäglich in Mensen oder Kantinen isst, ebnet sie den Weg zu nachhaltigem und gesundem Essen. Wenn in Kitas, Schulen, Betrieben, Kliniken und Senioreneinrichtungen eine gute Ernährung vorgelebt wird, kann daraus eine neue soziale Norm entstehen. Als wichtigstes Instrument legt die Strategie eine verbindliche Umsetzung der Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung in den Kantinen bis 2030 fest. Und auch das Angebot an ökologisch erzeugtem Essen soll vergrößert werden.

Neben der ökologischen wird auch die nicht minder drängende soziale Frage von der Ernährungsstrategie aufgenommen: Eine ausreichende, gesundheitsförderliche und nachhaltige Ernährung soll allen Menschen zugänglich sein, einschließlich Menschen aus armutsgefährdeten oder von Armut betroffenen Haushalten. Etwa drei Millionen Menschen sind in Deutschland von Ernährungsarmut betroffen, worunter eine qualitativ oder quantitativ unzureichende Ernährung verstanden wird.[4] Als weitere Gruppen mit besonderen Bedürfnissen identifiziert die Ernährungsstrategie Kinder und Jugendliche, Menschen mit Fehl- oder Mangelernährung und Menschen mit Einwanderungsgeschichte.

Beim Thema Lebensmittelverschwendung bezieht die Strategie sich auf das sowohl global als auch für die EU und Deutschland gesetzte Ziel einer Halbierung von Lebensmittelabfällen bis 2030. Die notwendige Verhaltensänderung soll insbesondere in privaten Haushalten erbracht werden, in denen mehr als die Hälfte der Abfälle stattfinden.

Was aber rechtfertigt nun, dass der Staat in die Rahmenbedingungen einer so privaten Angelegenheit wie dem Essen eingreift? Galt nicht der „mündige Verbraucher“ als das ernährungspolitische Leitbild schlechthin, mit der Folge, dass sich staatliche Intervention auf die Förderung "verantwortungsvoller Verbraucherentscheidungen" beschränkte? Diesem Ansatz lag die Vorstellung zugrunde, bereits eine Sensibilisierung und Aufklärung der Verbraucher*innen bewirke die Änderung ihres Ernährungsverhaltens. Dass Vebraucher*innen allein auf Grundlage von Informationen eine vernünftige Wahl treffen, hat sich indes als Trugschluss erwiesen. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der wirksamste und gerechteste Weg zur Änderung der Ernährungsgewohnheiten darin besteht, die Bedingungen zu ändern, unter denen Ernährungsentscheidungen getroffen werden.

Eine zentrale wissenschaftliche Empfehlung besteht daher darin, Verbraucher*innen durch die Gestaltung angemessener Ernährungsumgebungen bei der Realisierung einer nachhaltigeren Ernährung stärker als bisher zu unterstützen.[5] Die Ernährungsumgebung beeinflusst den gesamten Verhaltensprozess unserer Ernährung weitreichend. Konkret zählt dazu beispielsweise das Angebot gesundheitsfördernder, sozial-, umwelt- und tierwohlverträglicher Lebensmittel oder Gerichte überall da, wo Essen stattfindet. Wichtige Ansatzpunkte sind neben der strategischen Ausrichtung von Einrichtungen der Gemeinschaftsgastronomie und der Suche nach Möglichkeiten zur Nivellierung ungleicher sozioökonomischer Möglichkeiten auch die Gestaltung der Konsumlandschaft, also all jene Elemente der Ernährungsumgebung, die Lebensmittelhandel, -industrie, -werbung und -kennzeichnung betreffen.

Ergänzend zur Schaffung nachhaltiger Ernährungsumgebungen soll die individuelle Handlungsebene durch strikter nachhaltige und gesunde Ernährungsempfehlungen, Maßnahmen der Ernährungskommunikation/-information, Ernährungsbildung, Prävention sowie durch das Zusammendenken von Ernährung und Bewegung gestärkt werden.

Es ist nicht von der Hand zu weisen: Mit der Ernährungsstrategie hat das Politikfeld „Ernährung“ in Deutschland eine entschiedene Aufwertung erfahren. Um nachhaltiges und gesundes Essen gesellschaftlich als das neue Normal sicher zu positionieren, muss die Strategie in Anbetracht der Dringlichkeit von Klima-, Artenvielfalts- und Gesundheitskrise nun zügig umgesetzt werden. Hierfür braucht es einen sinnvollen Durchführungsplan mit Arbeitspaketen, zeitlicher Terminierung und effizientem Management ebenso wie eine ausreichende Finanzierung. Aber vor allem darf das nicht verloren gehen, was die Strategie als ihre Mission definiert: die Freude am guten Essen. Denn nur mit Freude und Genuss kann der unbestritten notwendige Wandel gelingen.

Autorin: Dr. Nina Wolff


[1] BMEL Ernährungsreport 2023, S. 24 ff.
[2] Ernährungsstrategie der Bundesregierung 2024
[3] UBA Towards healthy and sustainable diets in Germany 2023
[4] WBAE Gutachten Ernährungsarmut 2023
[5] WBAE Gutachten 2020

Inhaltspezifische Aktionen