„In Afrika sprießen überall Gärten, das ist eine Revolution“: Edward Mukiibi und Pirmin Spiegel über die zentrale Bedeutung von Nutzgärten
Was verbindet Misereor und Slow Food?
Pirmin Spiegel: Vor einigen Jahren haben Misereor und Slow Food Deutschland zum Jubiläumsjahr von Luthers Reformation 95 Thesen für Kopf und Bauch präsentiert und eine Reformation des globalen Ernährungssystems gefordert. Denn Ernährungsindustrie und Chemiekonzerne behaupten immer wieder aufs Neue, dass wir mehr und hochindustrielle Lebensmittel brauchen, um in Zukunft bis zu zehn Milliarden Menschen ernähren zu können.
Von unseren Partnern in Afrika, Asien und Lateinamerika wissen wir, dass der größte Anteil der Lebensmittel, der weltweit Menschen satt macht und gesund erhält, aus lokaler Landwirtschaft mit kleinteiligen Strukturen stammt. Diese familiäre Landwirtschaft und ihre teilweise gemeinschaftlich bewirtschafteten Gärten und Felder sind immens wichtig für die globale Ernährungssicherheit und ebenso für den Erhalt der Artenvielfalt. Den kleinen, unabhängigen Produzenten, die so viel für unsere gesunde Ernährung und unsere Ökosysteme tun, vor Ort und auf der internationalen Bühne mehr Gewicht und Gehör zu verschaffen, das verbindet Slow Food und Misereor.
Sie sind beide in einer Bauernfamilie aufgewachsen, der eine in der Pfalz und der andere in Uganda. Was haben Sie in Ihrer Kindheit über Gartenarbeit und Selbstversorgung gelernt?
Edward Mukiibi: Unsere Farm lag in der Nähe des Viktoriasees. Ich habe als Kind von meinen Eltern gelernt, welche Leistung darin steckt, gesunde Nahrungsmittel anzubauen. Welche Entwicklungsmöglichkeiten darin liegen, sich um sein Land zu kümmern – nicht nur, um Nahrung herzustellen und den Boden zu nutzen, sondern auch, wie man den Boden und sein Ökosystem tatsächlich schützen und fördern kann. Auf unserer Farm haben wir ganz verschiedene Sorten angebaut: Kaffee, Bananen, Bohnen, Gemüse, es gab unterschiedliche Obstbäume und auch Kakao. All das wuchs nebeneinander. Dieses Nebeneinander hat uns dabei geholfen, uns auch dann selbst zu versorgen, wenn es aus Klimagründen Probleme mit der Ernte gab. Denn irgendwas war immer reif, mal Bohnen, mal Süßkartoffeln. So habe ich schon als Kind erlebt, welche Vorteile ein vielfältiger Anbau bietet, um satt zu werden. Deshalb baue bis heute immer noch die gleichen alten Sorten an.
Heißt das, Sie sind Präsident von Slow Food und gleichzeitig Landwirt?
Mukiibi: Genau. Ich bin aktiver Landwirt, das ist mein erster Beruf. Ich arbeite jedes Wochenende im Garten, wenn ich zu Hause in Uganda bin. Letztes Wochenende haben wir zum Beispiel Mais und Bohnen gepflanzt. Wir bewirtschaften außerdem eine Bananenplantage und bestellen einen großen Garten.
Und Sie, Herr Spiegel?
Spiegel: Nach dem Abitur habe ich kurz Landwirtschaft studiert, aber ich bin kein aktiver Landwirt. Trotzdem prägt mich die Erdverbundenheit meiner Kindheit bis heute, sie gehört zu meiner DNA. Ich kannte in unserem Dorf in der Pfalz jeden Acker und jedes Bächlein, unser Hof hatte von allem ein bisschen: Einen Garten mit Gemüse, Obst, Kräutern und Beeren, Felder mit Rüben, Weizen und Wein und auch ein paar Kühe. Ich bin mit dem Trecker auf die Wiese gefahren, habe Gras gemäht, das Vieh gefüttert und überall mitgemacht. Das hat mir sehr geholfen, als ich später in Brasilien viele Jahre mit Bauernfamilien gelebt habe, die kleinere Flächen vielfältig bewirtschafteten.
Herr Mukiibi, Sie haben für Slow Food in Uganda vor knapp 15 Jahren eine Art Garten-Revolution initiiert: Worum geht es in Ihrem Projekt Gärten in Afrika?
Mukiibi: Das Projekt haben wir gestartet, weil wir erlebt haben, dass für viele Schul- oder Dorfgemeinschaften, eigene Gärten der Schlüssel dafür sind, sich ausgewogen ernähren zu können. Und wir wussten, wie wichtig es ist, dieses Wissen und die Fähigkeiten an die nächste Generation weiterzugeben, damit sie erhalten bleiben. Und wir wollten damit auch das schlechte Image überwinden, das bis dahin mit Landwirtschaft verbunden war: Als ich zur Schule ging, wurden wir zur Strafe für schlechtes Benehmen auf den Schulacker geschickt. Wir wollen unserer Jugend dagegen klarmachen, dass eine lokale, unabhängige und vielfältige Landwirtschaft Zukunft hat und sie selbst Teil der Lebensmittelerzeugung auf ihrem Kontinent werden kann.
Wie erfolgreich ist Ihr Projekt?
Mukiibi: Unser Hauptziel war es, zu zeigen, wie wichtig Gärten für unseren Kontinent sind. Inzwischen gibt es in 35 afrikanischen Ländern mehr als 5.000 aktive Gärten, sie sprießen überall. Das ist wirklich eine Revolution bei uns. Wir erleben auch, mit welcher Leidenschaft und Begeisterung viele Gemeinschaftsgärtner*innen inzwischen ihr Saatgut tauschen und teilen und dass diese Gärten zu Orten der Begegnung werden, auch um sich politisch auszutauschen. Wir sehen, wie Kinder sich in Slow Food Gärten treffen und enthusiastisch über einzelne Anbausorten diskutieren oder darüber sprechen, welchen Nährwert diese oder jene Pflanze hat. Sie lernen dort so viel. Diese Gärten erleichtern es den Menschen, sich wieder damit auseinanderzusetzen, was sie essen und wie man Lebensmittel anbaut. Das Thema wird so wieder zu einem Teil ihrer Realität.
Was können wir hier bei uns von Afrika über regionale Versorgung lernen?
Spiegel: Ich sehe das Gärten-in-Afrika-Projekt als mächtige Inspiration: Auch unsere Städte und Gemeinden brauchen mehr öffentliche Räume, in denen Menschen gemeinsam etwas anpflanzen und einen eigenen Beitrag zu ihrer Ernährung leisten und dadurch Nahrung wieder schätzen lernen. Urban Gardening, Vergrünung, Balkonanbau und lokale, solidarische Landwirtschaftsgemeinschaften – das sind alles Schritte und Beiträge hin zu einer verträglicheren und nachhaltigeren Produktion von Lebensmitteln. Wir brauchen diesen Weg, um weniger intensiv und industriell hergestellte Lebensmittel zu konsumieren und die damit einhergehenden versteckten Kosten wie die Auslaugung der Böden, Wasserverbrauch, Treibhausgasemissionen oder Verlust der Artenvielfalt zu verringern.
Herr Mukiibi, welche Unterstützung brauchen Ihre Ideen aus Ländern wie Deutschland?
Mukiibi: Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass Menschen aus Deutschland und Europa verstehen, dass die Politik in ihren Ländern Auswirkungen auf uns haben. Zum Beispiel, wenn Milch, Fleisch oder Eier aus Europa exportiert werden und dann in Tassen und auf Tellern in Westafrika landen. Das ruiniert unsere lokale Produktion vor Ort, auch wenn es nicht beabsichtigt ist. Europäischen Wähler*innen sollte bewusst sein, dass sie sich auch für uns für bessere politische Entscheidungen einsetzen. Wir wollen zum Beispiel ein Institut für afrikanische Ernährung aufbauen, um das vorhandene Wissen zu sammeln und besser zu verteilen und weitergeben zu können. Und um Gemeinschaften, die auf Selbstversorgung setzen wollen, Hilfe anzubieten. Dafür brauchen wir Ressourcen. Es wäre gut, wenn der globale Norden Initiativen wie diese unterstützt.
Verborgener Hunger existiert nicht nur im globalen Süden, sondern ist auch in Deutschland ein wachsendes Problem: Oft sind es Kinder, die übergewichtig und unterernährt zugleich sind, weil ihnen Vitamine und Mineralstoffe fehlen: Haben Sie eine Lösung dafür?
Mukiibi: Verborgener Hunger ist auch in Afrika ein wachsendes Problem, vor allem bei Schulkindern. Das sehen wir zum Beispiel in Malawi und Sambia, wo 90 Prozent der Schulkinder täglich nur ein Gericht aus Mais und Bohnen zu essen bekommen. Und auch in Uganda beobachten wir, dass Kinder, die zur Schule gehen, zwanzig Tage im Monat nur Reis und Bohnen essen ohne andere Lebensmittel und Nährstoffe zu sich zu nehmen.
Woran liegt das?
Mukiibi: Das liegt am Verlust der Artenvielfalt. Dort, wo es Schulgärten wie von unserem Projekt Gärten in Afrika gibt, können wir dieses Problem überwinden und gesundes und nährstoffreiches Essen anbieten, indem wir dort neben Bohnen ganz verschiedene Gemüsesorten anbauen wie Süßkartoffeln, Bananen, Frühlingszwiebeln, Paprika oder Avocados. Diese traditionelle mehrdimensionale Anbauweise bewahrt die Kinder vor verborgenem Hunger und versorgt sie mit allem, was sie brauchen. Das gilt ebenso für die Gemeinschaftsgärten: Überall dort, wo große Monokulturen angebaut werden, haben Sie lange Hungerzeiten oder verborgenen Hunger. Unsere Erfahrungen zeigen klar: Dort, wo es Vielfalt im Garten gibt, können sich Menschen gesund und ausreichend ernähren.
Was ist Ihre Lösung, Herr Spiegel?
Spiegel: Für eine „Lösung“ sollten alle Involvierten zusammenkommen. Notwendig dafür ist: Es sollte verbindliche Richtlinien dafür geben, dass jedes Kind, in Deutschland ebenso wie überall auf der Welt, zumindest eine gesunde und ausgewogene Mahlzeit in Kindertagesstätte oder Schulen erhält. Diese Mahlzeit sollte kostenlos sein, weil jedes Kind das Recht auf eine gesunde Ernährung hat. Außerdem fordern wir gemeinsam mit Slow Food eine agrarökologische Wende, weg von der kapitalintensiven Landwirtschaft, hin zu mehr Vielfalt und kleineren Strukturen. Zur Ernährungswende gehört auch eine stärker pflanzenbasierte Ernährung, so dass nicht mehr 40 bis 50 Prozent der Agrarflächen weltweit für den Anbau von Futtermitteln verwendet werden. Und wir müssen die Lebensmittelverschwendung eindämmen – die bei uns, weil zu viel weggeworfen wird, und die im globalen Süden, weil oft die Infrastruktur fehlt, um Lebensmittel zeitgerecht weiter zu verarbeiten oder zu verbrauchen und sie zu häufig zu verrotten drohen.
Herr Mukiibi, Sie haben einmal gesagt: „Mich stört, wenn der globale Norden glaubt, er müsse die Welt ernähren.“ Was stört Sie daran?
Mukiibi: Ich glaube, dass die Verantwortung und auch die Möglichkeiten, den Hunger in Afrika und anderswo zu beenden, in den Ländern des globalen Südens liegen. Ja, wir brauchen mehr Hilfe und mehr Unterstützung, um das soziale Gefälle zwischen dem Norden und dem Süden zu überwinden. Aber die Zukunft der afrikanischen Ernährungssysteme liegt in der Hand von afrikanischen Bäuerinnen und Bauern – wir brauchen lokale Lösungen für lokale Probleme.
Entwicklungszusammenarbeit steht in der Kritik. Sie sei nicht mehr zeitgemäß, heißt es: Wie sehen Sie das?
Spiegel: Ich stimme zu, dass eine Entwicklungszusammenarbeit, die paternalistische Strukturen und Abhängigkeiten unterstützt, überwunden werden muss.
Mukiibi: Richtig. Eine Entwicklungszusammenarbeit, die neokoloniale Tendenzen unterstützt, lehnen wir ab. Aber eine Entwicklungsarbeit, die Gemeinschaften und Menschen vor Ort stärkt und sie darin unterstützt, unabhängiger und widerstandsfähiger zu werden, ihre Rechte einzufordern und mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen, erleben wir als sehr hilfreich. Diese Art der Entwicklungszusammenarbeit, wie sie auch Misereor leistet, heißen wir willkommen.
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Hintergrund:
Edward Mukiibi ist 2022 zum internationalen Präsidenten von Slow Food gewählt worden. Zuvor war der Agrarökonom aus Uganda Stellvertreter von Slow Food Gründer Carlo Petrini. Der Sohn einer Bauernfamilie gilt als einer der einflussreichsten Agronomen Afrikas. Es ist ihm gelungen, mit Slow Food Initiativen wie etwa dem Projekt Gärten in Afrika Ugandas Landwirtschaftssektor zu reformieren und ihn nachhaltiger zu machen. Das ostafrikanische Land gilt mit seinen fruchtbaren Böden und dem milden Klima als Gemüsegarten Ostafrikas. Bis vor wenigen Jahren setzte die Regierung noch auf den Ausbau der industrialisierten Landwirtschaft, inzwischen ist Uganda eines der wenigen Länder weltweit, die eine agrarökologische Wende umgesetzt haben.
Pirmin Spiegel ist seit 2012 Hauptgeschäftsführer des katholischen Werkes für Entwicklungszusammenarbeit Misereor. Das Werk setzt sich weltweit für Gerechtigkeit, globale Solidarität und die Bewahrung der Schöpfung ein. Der Sohn einer pfälzischen Bauernfamilie studierte zunächst kurz Landwirtschaft, dann Philosophie und Theologie. Fünfzehn Jahre lebte er als Landpfarrer mit Bauernfamilien im Nordosten Brasiliens an der Grenze zum Amazonasgebiet. In dieser Zeit hat er ein duales System mit aufgebaut, das Schule und Landwirtschaft verbindet, den Kindern bessere Bildungschancen ermöglicht und sie gleichzeitig in agrarökologischen Methoden der Landwirtschaft ausbildet. Ende Juni verlässt Pirmin Spiegel nach 12 Jahren Misereor.