Klimawandel: Notstand am Mittelmeer
Jetzt liegt die Lagune still unter der Augustsonne, als wäre nichts geschehen. Doch Ende Juli hat ein großes Fischsterben apokalyptische Züge angenommen. Die italienischen Medien sprechen wahlweise von „Inferno“ und „Disastro“. Videoaufnahmen zeigen ein Meer aus Fischkadavern soweit das Auge reicht. Ungezählte Tonnen Fische, die qualvoll erstickt sind und über viele Tage im Wasser trieben. Zuvor, so heißt es, seien sie auf panischer Suche nach Sauerstoff zu Tausenden an die Wasseroberfläche geschwommen. Doch bei Wassertemperaturen von nie dagewesenen 35 Grad war die Lagune von Orbetello umgekippt. Der reiche Fischbestand des Gewässers, in dem auch viele Aquakultur-Anlagen stehen, hatte keine Chance.
Für die Region wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Der Gestank der Verwesung war kilometerweit bis in den Nachbarorte Feniglia und Ansedonia zu riechen. Auch dort waren die sonst dicht bevölkerten Strände fast leer. Unter großen Anstrengungen wurden die Kadaver schließlich zusammengetrieben und entsorgt. Es werde viele Jahre dauern, sagen die örtlichen Fischer, bis die Fischbestände sich erholen, ein Millionenschaden und eine Katastrophe für das Leben in der Lagune.
Naturschutzgebiet mit artenreicher Vielfalt
Nicht nur für die Fischerei, auch für den Tourismus ist das ein schwerer Schlag. Die malerische Lagune, unweit von Grosseto, gilt als Perle der Toskana. Ein Badeparadies und Naturschutzgebiet mit mehr als 200 Vogelarten, die im Süß- und Salzwassergemisch der Lagune heimisch sind. Der Strand von Orbetello zählt zu den schönsten Italiens. Doch stinkende Kadaver und Urlaubsfreuden vertragen sich schlecht. Und wer will sich im 35 Grad warmen Wasser noch erfrischen? Die Tourismus-Branche ist alarmiert.
Unmittelbar nach der Katastrophe hatte die örtliche Bürgerinitiative „Collettivo Kairós“ zu einer Protestkundgebung aufgerufen. „Wir wollen die Bürger*innen darauf aufmerksam machen, was mit unserer Lagune passiert ist, ihnen eine Stimme geben“, erklärt Stella Traupe vom Kairos-Kollektiv, „wir müssen das Umweltbewusstsein schärfen“. Mehr als 300 Einwohnerinnen und Einwohner versammelten sich auf der überfüllten Piazza del Plebiscito, um den Rücktritt des gesamten Gemeinderats zu fordern. Ihm wird vorgeworfen, die Katastrophe zu verharmlosen, um den Tourismus nicht zu gefährden.
Jetzt soll nach den komplexen Ursachen des Fischmassakers gesucht werden. „Wir müssen lernen, die Lagune als Ökosystem zu verstehen, von dem wir ein Teil sind“, erklärt die Initiative. Die hohen Temperaturen sind offenbar nur ein Teil der Misere. Die Einleitung von kommunalen Abwässern und die Exkremente und Futterreste der Aquakulturen kommen dazu, sie werden für die sauerstoffzehrende Eutrophierung der Lagune mit verantwortlich gemacht.
Viele Mittelmeer-Regionen sind Hitzeopfer
Orbetello ist ein spektakulärer Hotspot der großen Krise am gesamten Mittelmeer. Das landumschlossene Meer erwärmt sich schneller als die großen Ozeane. Schon vergangenes Jahr wurden Wassertemperaturen im offenen Meer von bis zu 30 Grad gemessen. Im Schnitt war das Mittelmeer vier Grad wärmer als das langjährige Mittel. Und 2024 ist weltweit nochmals wärmer (s. Grafik).
Auch andere Regionen am Mittelmeer leiden unter der Hitze. Auf Sardinien klingeln in den Lagunen von Oristano die Alarmglocken. In Apulien ist die gesamte Muschelproduktion in Gefahr. Und die Fischer an fast allen Küstenabschnitten Italiens fahren– bei hohen Treibstoffkosten – immer weiter hinaus, weil die Fischbestände sich in kühleres Wasser zurückziehen. Zudem sind in den vergangenen Jahren 800 gebietsfremde Fischarten ins Mittelmeer eingewandert, die teilweise große Probleme bereiten. Darunter sind viele tropische Arten. Weil es für diese Fische keinen Markt gibt, sind sie für die Fischer uninteressant. So verschiebt sich die Fauna des Mittelmeers. Schon macht das Schlagwort der „Tropikalisierung“ die Runde.. Die Meere sind „die Frontlinie des Klimawandels““, sagt UN-Generalsekretär António Guterres. Und: „Wir müssen das Wettrennen gegen den Notstand der Ozeane gewinnen.“
Autor: Manfred Kriener