Dieser Artikel hat keine Titelzeile, denn...
Diese Lebensmittel werden hergestellt von Landwirten, die mit ihren Anbaumethoden weder Luft noch Wasser belasten, in deren Stallungen Tierwohl an oberster Stelle steht, und die mit dieser qualifizierten, verantwortungsvollen Arbeit genug Geld verdienen für einen angemessenen Lebensstandard. Es geht darum, die gemeinsame EU Agrarpolitik in eine ganzheitliche EU Ernährungspolitik umzuwandeln.
Die Revolution von unten hat längst begonnen, die Slow-Food-Bewegung ist Teil davon, genauso wie jeder von uns, der hinterfragt wo und wie Lebensmittel produziert werden und dann beim Einkauf entscheidet, was er oder sie essen möchte – und was lieber nicht. Kleine, tägliche Veränderungen sind wichtig, aber gerade jetzt besteht die Chance, die Visionen, Ideen und Lösungen engagierter Landwirte, Konsumenten und Graswurzelorganisationen bei der EU in Brüssel einzubringen und die anstehende Reform der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) mitzugestalten.
Hätten Sie bis hierher gelesen, wenn GAP in der Titelzeile aufgetaucht wäre? Gelangweilt, frustriert oder ärgerlich sind die gängigen Reaktionen beim Thema EU Agrarpolitik. Bürokratie ist in der Regel nicht aufregend, aber es fließt nun mal mehr als ein Drittel des EU-Gesamtbudgets in den Agrarhaushalt. Und was mit diesem Geld gemacht wird, ist nicht nur wichtig für die rund 22 Millionen Landwirte in der EU, sondern es hat konkrete Auswirkungen auf die Ernährung und Gesundheit von 500 Millionen EU Bürger und die Umwelt, in der wir alle leben: auf Wasser-, Luft- und Bodenqualität, auf soziale Strukturen, auf die Frage, ob jemand in einer ländlichen Umgebung leben will oder kann, ob es dort Arbeitsplätze gibt oder nicht.
Schlecht für Gesundheit und Umwelt
Es sind grundsätzliche Belange, die uns alle angehen, aber nach mehr als einem halben Jahrhundert EU Agrarpolitik, nach Butterbergen und Weinseen, nach Intervention, Quoten und »Greening« ist es nicht verwunderlich, wenn mancher nicht mehr die Energie hat, sich noch aufzuregen. Dabei hat Ende der 50er-Jahre alles einmal so gut angefangen, mit dem Versuch, die Situation der ländlichen Bevölkerung zu verbessern und langfristig die Ernährungssicherheit in den Mitgliedsstaaten zu gewährleisten.
Inzwischen sind es die Nahrungsmittel-, Agrarchemie- und die Agrartechnikindustrie, die als Lobbygruppen bestimmen, was und wie Landwirte produzieren. Die Industrialisierung der Landwirtschaft liegt in ihrem Interesse: immer weniger Landwirte, die auf immer größeren Flächen mit immer mehr Agrarchemie und immer größeren Maschinen für immer weniger Gewinn immer mehr produzieren. Die Folgen dieser Industrialisierung der Landwirtschaft sind Wasser- und Luftverschmutzung, schlechte Böden, Massentierhaltung, Artensterben, Verlust an Biodiversität. Gewinner sind Nahrungsmittel- und Agrarkonzerne, denen es gelungen ist, die Kosten, die die industrielle Landwirtschaft verursacht, auf uns alle abzuwälzen. Wir zahlen für die Beseitigung von Umweltschäden z.B. über erhöhte Wassergebühren.
Und wir zahlen mit unserer Gesundheit. Der Konsum hoch verarbeiteter, industriell und in großen Mengen kostengünstig hergestellter Lebensmittel und Fertiggerichte führt in Kombination mit schlechten Ernährungsgewohnheiten dazu, dass inzwischen mehr als die Hälfte der Erwachsenen in der EU und rund ein Drittel aller europäischen Kinder zwischen sechs und neun Jahren übergewichtig sind. Die Zahl der Bürger, die von Typ 2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen betroffen sind, nimmt zu.
Ganzheitlich und gemeinsam
Der schlechte Gesundheitszustand von Menschen und Umwelt sind nur zwei der Problembereiche innerhalb Europas. Sie wären lösbar, wenn man in Brüssel statt einer gemeinsamen Agrarpolitik eine ganzheitliche Ernährungspolitik betreiben würde. Diese These vertraten kürzlich der ehemalige UN Sonderbeauftragte Olivier De Schutter und der Begründer der Slow Food Bewegung, Carlo Petrini, in einem Kommentar für die online Nachrichtenplattform »Politico«. Die EU, gemeinsam mit Länderregierungen und Kommunen wären dabei richtunggebend. Sie müssten bestehende Initiativen und Maßnahmen unter einem Dach vereinen und ein ganzheitliches »Ernährungsgebäude« ausbauen und erweitern. Das Ergebnis wären neue »grüne« Jobs und Berufsfelder, eine Reduzierung der Umweltschäden und die Förderung der Gesundheit der Menschen in der EU. Vieles ließe sich bereits mit der Umschichtung schon eines kleinen Teils der bisherigen Subventionen bewerkstelligen.
Ein grundsätzliches Umdenken ist notwendig, damit das gelingt. Eine gemeinsame Ernährungspolitik setzt ins Zentrum politischen Handelns, was für jeden von uns lebenswichtig ist: gesunde, nährstoffreiche, nachhaltig produzierte Lebensmittel. Essen, das uns im Sinne des Wortes ernährt und nährt.
Beispiel Niedersachsen
Umdenken kann und sollte in Form von Regularien, Gesetzen und Kontrolle, die deren Einhaltung sicherstellt, »von oben« kommen. Wie viel sich mit »Zuckerbrot und Peitsche« in kurzer Zeit verändern lässt, hat der ehemalige niedersächsische Landwirtschaftsminister Christian Meyer vorgemacht. »Agrarfabriken« in Niedersachsen haben immer wieder für negative Schlagzeilen gesorgt. Meyer erklärte zunächst Kontrolle zur Priorität, Verstöße gegen die Einhaltung bestehender Gesetze und Regularien wurden geahndet. Um das zu bewerkstelligen, schuf er mehr als 100 neue Stellen in Kontrollbehörden. Gleichzeitig begann er konsequent Ökolandbau, diversifizierte Familienbetriebe und nachhaltige, regionale Produktion von Lebensmitteln aus regionalen Rohstoffen zu fördern. Der Bau großer Stalleinheiten hingegen wurde nicht mehr bezuschusst.
Umfragen haben immer wieder ergeben, dass Tierschutz für Verbraucher extrem wichtig ist: Niemand will Eier, Milch oder Fleisch von Tieren essen, die unter unwürdigen Bedingungen gehalten wurden oder Schmerzen erlitten. Meyer führte deshalb die »Ringelschwanzprämie« ein: Wer Schweine mit einem intakten, nicht verbissenen Schwanz beim Schlachthof ablieferte, konnte eine Prämie kassieren. Mit dieser einfachen Methode lässt sich sicherstellen, dass die Tiere unter vergleichsweise guten Bedingungen gehalten werden: nur mit genug Platz im Stall und einem geringen Stressniveau bleiben Schweine gegenüber ihren Artgenossen friedlich.
An der Basis hat das Umdenken längst begonnen. Immer mehr Menschen interessieren sich dafür, woher die Lebensmittel kommen, die sie kaufen und essen. Sie besuchen Bauernhöfe, sehen, wie dort gearbeitet wird, beziehen Milch, Eier, Fleisch und Gemüse direkt, kaufen auf Wochenmärkten bei Landwirten, die sie kennen und denen sie vertrauen, achten auf Label, stellen im Supermarkt Fragen zu Herkunft und Verpackung. In Deutschland gibt es rund 180 Höfe mit solidarischer Landwirtschaft (SoLaWi), bei denen sich Stadtbewohner ihren Ernteanteil sichern können und gleichzeitig den Erzeugern die Abnahme garantieren.
Nichts geht ohne Netzwerke
Ein ganzheitliches Ernährungssystem braucht Netzwerke, die Verbindungen schaffen – zwischen uns, den Essern, und Produzenten, Köchen, Schulen und anderen Institutionen, die Mahlzeiten bereitstellen, zwischen Kommunen, dem Gesundheitssektor, Planern, Städtebauern, Gesetzgebern und Politikern. Eine der vielen Organisationen die helfen, dieses Netz zu knüpfen ist Slow Food, das z.B. mit dem Terra Madre Netzwerk rund 2 000 Lebensmittelgemeinschaften aus Landwirtschaft, Fischerei und Handwerk in über 160 Ländern verbindet, denen es wichtig ist, traditionelles Wissen, Prozesse und Erzeugnisse zu erhalten. Sie schützen einmalige Geschmacks- und Sortenvielfalt, sie schaffen Bedarf und Nachfrage und sichern damit deren Fortbestand.
Zur Bekanntheit regionaler Nahrungsmittel trägt auch die Slow Food Chef Alliance bei. Die dort engagierten Köche legen Wert auf kurze Lieferwege, verpflichten sich dazu, Lebensmittelabfälle so weit wie möglich zu vermeiden und pflegen den direkten Kontakt mit Erzeugerinnen und Erzeugern aus ihrer Region.
Was ein Ernährungs-Netzwerk alles einschließen kann, zeigt das Beispiel von Denver im US Bundesstaat Colorado. Dort arbeitet die örtliche Slow-Food-Gruppe mit dem Ernährungsrat, der Stadtverwaltung und verschiedenen anderen Organisationen zusammen. Die Stadt gibt Zuschüsse für kommunale Gärten, urbane Landwirtschaft und Schulgärten. Schüler lernen kochen mit Gemüse, das sie selbst gezogen haben. Arztpraxen können Gelder für Kochkurse für einkommensschwache Eltern und ihre Kinder beantragen. Es gibt Richtlinien für Institutionen und Behörden, lokale und regionale Produkte bevorzugt einzukaufen. Mikro-Kredite erleichtern den Einstieg in ein urbanes Gartenbau- oder Nahrungsmittelprojekt.
Regulative Hürden, z.B. Vorschriften, die für Großbetriebe gelten, wurden gelockert – wer im Garten fünf Hühner hält, darf sie an die Nachbarn verkaufen. Es gibt ein Gartenprojekt für Migranten – ein eigenes Beet, die Möglichkeit ein wenig Gemüse anzubauen hat Kontakte geschaffen und vielen die Integration erleichtert. Im Frühherbst kommen Freiwillige zusammen und helfen bei der Obsternte, beim Einkochen und Herstellen von Marmelade – die Produkte werden meist für einen guten Zweck verkauft. Aus unverkäuflichem aber noch verwertbarem Obst und Gemüse aus Supermärkten werden Mahlzeiten für Menschen gekocht, die obdachlos sind oder kein Geld für Lebensmittel haben. Und in den Beeten im Park vor dem Sitz der Landesregierung wachsen Gemüse und Beeren statt Blumen.
Vielleicht sollte die Titelzeile für diesen Artikel lauten: »Was Denver kann, können wir auch« oder »Ein ganzheitliches Ernährungssystem statt verfehlter EU Agrarpolitik«? Gemeinsam und mit gutem Essen kriegen wir das hin.
Bild © Slow Food Archiv