Globale Ernährungszusammenhänge: Dr. Iris Schöninger im Interview
Slow Food: Warum gibt es überhaupt Hunger? Gibt es Zusammenhänge zwischen Armut und unserem Lebensstil? Welchen Einfluss haben unsere Konsum- und Produktionsgewohnheiten auf den globalen Süden?
Schöninger: Hunger hat viele Ursachen: vor allem Armut. Das heißt, dass Menschen entweder zu wenig Geld haben, um sich Lebensmittel kaufen zu können oder aber als Bäuerinnen und Bauern zu wenig anbauen können, um davon zu leben. Landrechte spielen eine große Rolle, aber auch Vertreibungen, wenn beispielsweise Regierungen Land an Firmen verpachten und die Landnutzer – kleinbäuerliche Produzenten – anschließend von ihrem Land vertrieben werden. Andere Ursachen sind gesellschaftliche Ausgrenzung, ungerechte Welthandelsstrukturen. Aber auch zunehmend Kriege und bewaffnete Konflikte wie auch Auswirkungen des Klimawandels.
Es werden ausreichend Lebensmittel produziert, um die Weltbevölkerung ernähren zu können. Doch die Ärmsten der Armen haben dazu keinen Zugang mangels Geld oder Land. Darüber hinaus werden in großem Stil Ressourcen verschwendet, weltweit gehen rund ein Drittel der Lebensmittel verloren: in den Industrieländern vor allem durch Lebensmittelverschwendung, in ärmeren Ländern nach der Ernte mangels guter Lager- und Transportmöglichkeiten. Außerdem nutzen gerade reichere Länder „virtuelles Land“ in anderen Ländern, so auch Deutschland beispielsweise für den Anbau von Soja für Tierfutter, von Palmöl für den Tank oder für Rohstoffe wie Kaffee, Kakao oder Baumwolle. Von 22 Millionen Hektar Land, das wir nutzen, liegen gerade einmal zwölf Millionen Hektar in Deutschland.
Slow Food: Welche Alltagstipps würden Sie Verbraucherinnen und Verbrauchern an die Hand geben, die ihr Konsum- und Kaufverhalten sozial und ökologisch nachhaltiger gestalten möchten?
Schöninger: Wichtig ist, dass man anfängt, Dinge im eigenen Alltag positiv zu verändern. Ich kann damit beginnen, meine Lebensmittel regional, so saisonal und ökologisch wie möglich einzukaufen, im Sinne von Slow Food „gut, sauber, fair“. Es gibt auch verschiedene Labels und Zertifizierungen, die uns bei der Entscheidung helfen können. Wir sollten darauf achten, dass Menschen, die unsere Produkte angebaut und weiterverarbeitet haben, nicht nur Hungerlöhne dafür bekommen, sondern damit ihre Existenz sichern können. Eine weitere Frage beim Einkaufen ist auch: Brauche ich das überhaupt? Häufig ist weniger mehr!
Slow Food: Welche Veränderungen sind aus Ihrer Sicht politischer Ebene dringend notwendig, um bei der Herstellung von Nahrungsmitteln mehr Fairness walten zu lassen?
Schöninger: Viele Länder, gerade in Afrika, sind reine Rohstofflieferanten. In dem Moment, wo sie stärker ihre eigenen Erzeugnisse weiterverarbeiten, entsteht Wertschöpfung und damit auch neue Arbeitsplätze in den Ländern. Das ist derzeit für viele Produkte sehr schwierig, weil die Welthandelsbedingungen schwächere Länder nicht dabei unterstützen, eigene Märkte und Industrien zu entwickeln. Auch die EU-Agrarpolitik, die wir mit unseren Steuergeldern finanzieren, ist mitverantwortlich dafür, dass Überschüsse zu Dumpingpreisen, z.B. Milchpulver in Westafrika, vermarktet werden. Einheimische Bauern sind nicht konkurrenzfähig.
Politik muss kohärent sein, das heißt Ziele der Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitik können nicht einfach Ziele der Entwicklungspolitik konterkarieren, was in der Praxis häufig geschieht. Das Recht auf Nahrung muss Vorrang haben vor allen anderen Richtlinien – und zwar für alle Menschen weltweit.