Innovationsprinzip droht Vorsorgeprinzip auszuhebeln
Slow Food Europe gehört zu den Organisationen, die Bedenken hinsichtlich des so genannten Innovationsprinzips geäußert haben, denn dieses Prinzip, das 2013 auf dem Europäischen Risikoforum von Industrielobbygruppen geprägt wurde, könnte das EU-Recht zu Chemikalien, neuartigen Lebensmitteln, Pestiziden und die Forschung zu gentechnisch veränderten Organismen (GVO) und neuen Züchtungsmethoden untergraben. Das Horizon Europe Programm der Europäischen Kommission für 2021-2028 wird das derzeitige "Horizon 2020" ersetzen.
Das Vorsorgeprinzip droht untergraben zu werden
Nach Ansicht der Europäischen Kommission gewährleistet das Innovationsprinzip, „dass die Auswirkungen auf die Innovation bei der Entwicklung einer neuen politischen Richtlinie vollständig bewertet werden“. Diese offene und unklare Definition des Innovationsprinzips lässt zu viel Spielraum zur Interpretation und bietet somit die Möglichkeit, Forschungen durchzuführen, ohne vorher alle damit verbundenen Umwelt- und Gesundheitsrisiken gründlich bewerten zu müssen. Demnach droht das Vorsorgeprinzip durch das Innovationsprinzip ausgehebelt zu werden.
„Das Vorsorgeprinzip in der EU wurde geschaffen, um sicherzustellen, dass die Gesundheit von Mensch und Tier an erster Stelle stehen und die Umwelt geschützt wird. Stattdessen droht das neue Innovationsprinzip nun der Industrie weiter in die Hände zu spielen, indem es einen Weg durch die Hintertür zur Umgehung des Vorsorgeprinzips bietet“, kommentiert Ursula Hudson, Vorsitzende von Slow Food Deutschland.
Trotz Warnungen diverser Verbände und Organisationen hat sich das Innovationsprinzip im europäischen Forschungsförderprogramm durchgesetzt, das im Dezember letzten Jahres die erste Abstimmung des Europäischen Parlaments überstanden hat. Der Rat berät derzeit seinen Standpunkt zur "Horizon Europe"-Verordnung und deren Entscheidung, bevor er in die Verhandlungen mit dem Parlament tritt.
Die Sicherheit der Lebensmittelinnovation muss gewährleistet sein
Von den geplanten 100 Milliarden Euro des Budgets von Horizon Europe sollen zehn Milliarden Euro für die Forschungsprojekte „Nahrung und natürliche Ressourcen“ bereitgestellt werden. Die Kommission schlägt einige konkrete Themen für die Forschung vor, zum Beispiel urbane Landwirtschaft und die Bekämpfung von Lebensmittelverschwendung. Allerdings werden auch Vorschläge beworben zur Förderung alternativer Proteine, der 3D-Druck von Lebensmitteln für ältere Menschen oder neue Züchtungstechniken, deren Sicherheits- und Umweltauswirkungen noch fraglich sind. Slow Food befürchtet, dass das Innovationsprinzip in diesen Fällen Forschung zu Innovationen im Bereich Lebensmittel und Landwirtschaft in den Mittelpunkt stellen würde, ohne dass langfristige Risiken für die öffentliche Gesundheit oder die Umwelt bewertet und gemessen werden müssten.
Im Gegensatz zu der von der Kommission propagierten Idee, in die nächste Wunderwaffe als Lösung zu investieren, um das europäische Agrarsystem zu revolutionieren, widmet sich Slow Food Europa der Erforschung innovativer Steuerungsmechanismen und sozialer Innovationen, um das aktuelle Lebensmittelsystem umzugestalten. Ein Beispiel dafür ist die Agrarökologie, die die ständige Verbesserung der traditionellen technischen Fähigkeiten, den Austausch von Innovationen und Technologien innerhalb des Bauernnetzwerkes schätzt und darauf angewiesen ist, sich an unterschiedliche und sich ändernde Umgebungen anzupassen.
Um welche Interessen geht es beim Innovationsprinzip?
Als die EU-Kommission in den 1970er Jahren das Vorsorgeprinzip einführte, bestand das Ziel darin, „den Entscheidungsträgern die Möglichkeit zu geben, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse bezüglich einer Gefahr für die Umwelt oder die menschliche Gesundheit ungewiss sind und dadurch viel auf dem Spiel steht". Heute muss die Zivilgesellschaft jedoch die Entscheidungsträger und Interessengruppen der EU daran erinnern, dass das Vorsorgeprinzip an erster Stelle stehen muss, dies aber keinen Bruch mit der Innovation bedeutet; so sind Zukunftsfähigkeit und Enkeltauglichkeit doch ganz entscheidende Faktoren, die entscheiden, ob etwas innovativ ist. Slow Food sieht als innovativ nur Produktionssysteme an, die es schaffen, ressourcenerhaltend und gesundheitsförderlich zu wirtschaften, über den Tellerrand hinaus zu schauen, und nicht nur auf das sofortige Resultat sondern auch die Auswirkungen zu schauen. Die Tatsache, dass das Vorsorgeprinzip nun durch das Innovationsprinzip ausgehebelt zu werden droht lässt vermuten, dass die Interessen der Industrie hier ganz klar im Vordergrund stehen.
Slow Food glaubt an die dringende Notwendigkeit, in die Forschung zu investieren, um innovative Lösungen zu finden, die darauf abzielen, das Ernährungssystem nachhaltig zu verbessern, indem diese die Arbeit von Kleinbauern unterstützen und fördern, erschwingliche und gesunde Lebensmittel für die Bürger bereitstellen, die biologische Vielfalt von Lebensmitteln schützen und den Planeten erhalten. Die Forschung muss dabei öffentlich und unabhängig sein, auf strengen Methoden beruhen und hinsichtlich der spezifischen Ziele transparent sein. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass innovative Lösungen für alle Landwirte zugänglich bleiben, sowie nicht patentiert oder Eigentum multinationaler Unternehmen werden, die eine immer größere Machtkonzentration des Nahrungsmittelsystems erlangen.
Agrarökologie aus Slow-Food-Sicht innovativ und zukunftsfähiger Ansatz
„Slow Food hält die Agrarökologie für einen sehr wichtigen Ansatz der Lebensmittelproduktion, denn sie bietet eine zukunftsfähige Lösung, um die wachsende Weltbevölkerung mit guten, sauberen und fairen Lebensmitteln zu versorgen, ohne die Umwelt, das Klima oder das Wohlergehen von Mensch und Tier zu beeinträchtigen. Dieser Ansatz hat es geschafft, die Ernährungssicherheit zu sichern, ohne dabei die biokulturelle Vielfalt und Umwelt zu beeinträchtigen. Darüber hinaus ist es ein sehr innovativer Ansatz, denn die Agrarökologie eignet sich dafür, dem Klimawandel - einer der größten aktuellen globalen Herausforderungen - entgegenzuwirken, was man von industriellen Nahrungsmittelsystemen keinesfalls behaupten kann“, so Ursula Hudson weiter.
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