Landwirtschaft 4.0: Digitalisierung als Gefahr oder Chance?
Landwirtschaft 4.0 kann Entscheidungshilfe leisten
Digitalisierung und die Entwicklung besserer Sensoren macht die regelmäßige, präzise Erfassung großer Datenmengen möglich: Feuchtigkeit – im Boden, in der Luft, im Getreidesilo; ein Melkroboter speichert rund 150 Messwerte, von Parametern für Milchqualität bis zum individuellen Verhalten von Kühen und ihrer Gesundheit; Drohnen erfassen jeden Quadratmeter eines Ackers; Apps liefern Daten – von extrem genauen, lokalen Wettervorhersagen bis hin zur sofortigen Identifizierung von Unkräutern oder Schädlingen. Andere Apps helfen Daten zu erfassen: beim Lammen werden im Stall sofort Details über den Geburtsverlauf, Gewicht und Elternlinie eingegeben; in einem Weinberg oder einer Obstanlage können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort Informationen zu einzelnen Pflanzen erfassen: Schnitt, Düngung, Vergleich mit den Nachbarpflanzen... Mit der richtigen Software stehen Landwirtinnen und Landwirten alle Daten in einem Programm zur Verfügung und machen Buchhaltung, das Ausfüllen von Formularen, Lagerhaltung, Lieferungen und Planung einfacher und effizienter. Diese Form der Landwirtschaft 4.0 kann gerade für kleine und mittlere, diversifizierte Betriebe einen echten Fortschritt bedeuten. Die alles entscheidende Frage ist allerdings:
Wem gehören die Daten?
Eine Landwirtin oder ein Landwirt hat nicht automatisch das Recht, über die Daten zu verfügen, die auf seinem Hof erhoben wurden. Die Kabine eines modernen Traktors oder Mähdreschers ist dem Cockpit eines Flugzeugs nicht unähnlich: klimatisiert, schallisoliert und vollgestopft mit Elektronik. Welches Saatgut brachte auf welchem Teil des Feldes welche Erträge, bei welchem Einsatz von Düngemitteln – solche Informationen können fortlaufend als Diagramme oder Kurven angezeigt werden. Hochinteressante Informationen auch für die Industrie. Derzeit hat der Landmaschinenhersteller oft direkten Zugriff auf die Daten. Was er damit machen darf und was nicht regeln die Nutzungsbedingungen, seitenlang, kleingedruckt und in Juristendeutsch geschrieben. Ein Hintergrundartikel der Nachrichtenagentur Reuters weist darauf hin, dass beispielsweise John Deere Daten von Landmaschinen und den damit verbundenen Mobiltelefonen und Tablets speichern und unbegrenzt aufbewahren kann, sofern die Landwirtin und der Landwirt das nicht aktiv ausschließt. Du Pont behält sich das Recht vor, die anonymisierten Daten an Dritte zur freien Nutzung weiterzugeben. Das vordergründige Argument der Firmen für die Speicherung der Daten ist, dass sie der Verbesserung des Service dienen und ausschließlich den Landwirtinnen und Landwirten zugute kommen. Aber detaillierte, zeitgenaue landwirtschaftliche Informationen sind für eine Vielzahl von Firmen, Börsenhändlerinnen und –händlern sowie Investorinnen und Investoren und sogar für die Wertbestimmung landwirtschaftlicher Flächen von hohem Wert.
Welche Goldgrube diese Fülle extrem genauer, aktueller Daten für die Industrie darstellt, lässt sich an den Firmenübernahmen und Käufen ablesen: Landtechnik- und Agrarchemiefirmen kaufen oder übernehmen zunehmend Software und Tech Firmen, die auf die Auswertung von Daten spezialisiert sind. 2014 schloss Traktorenhersteller Agco ein Abkommen über den Austausch von Daten mit der Agrarchemiefirma Du Pont und kaufte 2017 ein auf Datenanalyse spezialisierte Tochterfirma von Monsanto. Im selben Jahr erwarb Traktorhersteller John Deere die Tech Firma Blue River, BASF entschied sich für ZedX. 2018 kaufte die US Firma Proagrica SST Software. Dies nur als Beispiele, die Liste hat keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.
Die Tageszeitung TAZ beschreibt wie Agrarchemiefirmen und Landmaschinenhersteller derzeit große Datenplattformen schaffen und damit die Grundlage legen, um die vertikale Integration der Industrie zu beschleunigen und die Kooperation entlang der gesamten Agrarlieferkette zu ermöglichen. Blockchain-Technologie wird dabei eine wichtige Rolle spielen: Daten von einer gesamten Lieferkette, von Landwirten, Produzenten, Verarbeitern, Transporteuren und Lieferanten können zusammengefasst werden. Dadurch lässt sich der Ablauf optimieren, aber auch Preiskontrolle ausüben. In den USA gibt es die vollständige vertikale Integration bereits in der Fleischverarbeitung. In diesem System sind die Landwirtinnen und Landwirte zu Lohnmästerinnen und –mästern degradiert, die termingerecht zu einem festgesetzten Preis bestimmte Mengen zu liefern haben - während sie weiterhin das volle Produktionsrisiko tragen. Eine extrem problematische Entwicklung, die es längst auch in Deutschland gibt.
Diese Seite der Landwirtschaft 4.0 birgt ein enormes Risiko für kleine und mittlere, diversifizierte Agrarbetriebe. Nur strenge, gesetzlich verankerte Datenschutzbestimmungen können verhindern, dass Konzerne die neuen Technologien nutzen, um den Markt noch mehr zu dominieren und auf Kosten unabhängiger Landwirtinnen und Landwirte noch mehr Gewinne zu machen.
Wenn Kühe wählen könnten...
Landwirtschaft 4.0 bietet aber auch die Chance, Arbeitsbedingungen zu verbessern, und sie kann mehr Diversität, den geringeren Einsatz von Pestiziden und mehr Tierwohl ermöglichen. Wenn Kühe wählen könnten, würden sie sich vermutlich für einen Melkroboter entscheiden. Wo sie im Einsatz sind stehen die Tiere geduldig an, bis ein Melkstand frei wird. Der Computer erfasst, welches Tier gemolken werden will und schüttet eine individuelle Futterration aus. Das Euter wird sanft von rotierenden Bürsten gesäubert, die Melktassen werden angelegt und Sekunden später beginnt die Milch durch einen Plastikschlauch zu fließen. Der Melkroboter erfasst nicht nur Daten wie Protein- und Fettgehalt, sondern stellt auch automatisch fest, wann jedes der vier Euterteile ‚abgemolken’ ist. Das schont das Euter der Kuh, Mastitis (Euterentzündung) kommt fast nicht mehr vor, erklärte mir Mary Read, Landwirt mit einem Milchbetrieb im westenglischen Taunton. Ein Fortschritt in mehrerlei Hinsicht: Mastitis ist schmerzhaft für die Kuh und muss mit Antibiotika behandelt werden. Die Milch darf nicht verkauft werden. Der Melkroboter hilft, all das zu verhindern. Nach Mary Reads Beobachtung nutzen die Kühe den Roboter sehr individuell: morgens und abends gemolken zu werden ist nicht jeder Kuh Sache, manche möchten lieber öfter gemolken werden, andere gehen mitten in der Nacht an den Melkstand. Und zufriedenere Kühe geben mehr Milch – die Milchleistung ist gestiegen. Während wir uns unterhalten bewegt sich ein anderer Roboter, einem schnurlosen, automatischen Rasenmäher nicht unähnlich, langsam durch die Stallgasse und schiebt Kot und Urin in die Ablaufrinne. Entwickelt wurden inzwischen auch Roboter, die Einstreu automatisch verteilen.
Optische Sensoren, Bildanalyse und maschinelle Lernverfahren ermöglichen die maschinelle Unkrautvernichtung. Die Geräte können einen Salatkopf von einer Wicke oder einem Löwenzahn unterscheiden und das Unkraut abflämmen oder eine winzige, individuelle Herbizid-Dosis ausbringen. In Zukunft sollen solche Geräte gleichzeitig vorbeugend eingreifen: Während das Gerät langsam über das Feld gleitet stellen Sensoren auch minimale Veränderungen an individuellen Pflanzen fest, z.B. eine leichte Verfärbung, die Anzeichen für Schädlingsbefall ist. Eine solche Pflanze wird wie ein Unkraut beseitigt, bevor sich die Schädlinge auf Nachbarpflanzen ausbreiten können. Durch Detailaufnahmen des Bodens rund um die Pflanze können automatisch Nährstoffmängel erkannt und behoben werden. Zukunftsweisende Techniken, mit denen sich der Einsatz von Pestiziden wirklich reduzieren ließe. In Großbritannien arbeiten mehrere Firmen an der Entwicklung von Robotern, die sich von der Aussaat bis zur Ernte wie ein Butler individuell um jede Pflanze kümmern. Preislich werden diese Roboter bald erschwinglich sein und sie sind ideal für kleinere Flächen und damit für kleinere und diversifizierte Betriebe geeignet. Ein Großbetrieb mit Monokultur müsste eine ganze Roboterarmee einsetzen - was allein vom Wartungsaufwand her unrentabel wäre.
Vernichtet Landwirtschaft 4.0 Arbeitsplätze?
Roboter und Maschinen können monotone, repetitive und physisch anstrengende Arbeiten übernehmen und damit unter anderem den Bedarf an saisonalen Arbeitskräften reduzieren. Die Digitalisierung wird aber auch neue Arbeitsplätze schaffen, überwiegend für gut ausgebildete Fachkräfte, Ingenieurinnen und Ingenieure sowie Spezialistinnen und Spezialisten. Roboter und Maschinen müssen nicht nur gewartet, sondern für spezifische Aufgaben jeweils neu justiert und programmiert werden. Dienstleistungsbetriebe übernehmen schon jetzt spezifische Aufgaben für die teure Landmaschinen notwendig sind, deren Anschaffung sich für einen Einzelbetrieb nicht lohnt. Von der Landmaschinen- und Agrarchemieindustrie unabhängige Consultingfirmen und Subunternehmen können Servicepakete anbieten, die auf der Analyse und Interpretation der auf einem Betrieb anfallenden Datenflut beruhen. Damit könnten sich in ländlichen Regionen eine Vielzahl von Arbeitsmöglichkeiten für ganz unterschiedliche Berufsgruppen entwickeln.
Präzisionslandbau, Biodiversität und neue Einkommensmöglichkeiten
GPS gesteuerte Traktoren halten exakt die Spur und dadurch können z.B. auf großen Äckern Baumreihen angelegt werden ohne den Einsatz von Maschinen für Bodenbearbeitung und Ernte einzuschränken. GPS ermöglicht die optimale Nutzung der Ackerfläche bei gleichzeitigem Schutz der Bäume. Landwirtinnen und Landwirte, die mit einer Mischung aus Obst-, Nuss- und Nutzholzbäumen arbeiten generieren zusätzliches Einkommen, schaffen ein Biotop für bestäubende Insekten, Vögel und kleinere Wildtiere und tragen zur Bodenverbesserung bei. Die Digitalisierung kann für regenerative Landwirtschaft und Biolandbau eine Fülle neuer Möglichkeiten schaffen. Aber damit die positiven Seiten der Landwirtschaft 4.0 zum Tragen kommen muss der Gesetzgeber dringend die Weichen richtig stellen und eindeutig festschreiben: Die auf einem Betrieb erhobenen Daten gehören der Landwirtin bzw. dem Landwirt und nicht der Industrie.
Bilder: (c) M. Kunz