Reflexion: Unser kulinarisches Erbe
Der Duft von herrlich vielfältigem Gebäck wird in den nächsten Wochen vermutlich in die meisten Küchen einziehen. So auch bei mir. Kletzenbrot mit den wunderbaren getrockneten Birnen aus Fatschenbrunn zum Beispiel. Das ist in meiner Heimat, dem Nordrand der Alpen, Tradition. Ein Teig, reich an getrockneten Gaben des Sommers; Birnen, Zwetschgen, Rosinen, die Nüsse des Herbstes kamen dazu und dann die ganz besonderen Spezialitäten wie Zitronat, Orangeat und vielleicht sogar Feigen. Dazu das Mehl aus dem Korn der Umgebung.
Aber Eier, die fanden sich in dieser jahreszeitlichen Spezialität nicht. Wie übrigens auch sonst nicht zwangsläufig in traditioneller Weihnachtsbäckerei. Denn Eier gab es nicht mehr oder nur in kleiner Menge im Winter, weil die Hühner zu dieser Zeit kaum noch Eier legen. Vielen ist das gar nicht bekannt, was mich auch zu Beginn der diesjährigen Adventszeit wieder ins Nachdenken über unseren Umgang mit kulinarischen Traditionen bringt. Denn die sind zum einen etwas Wunderbares und Essenzielles, wenn nicht gar Identitätsstiftendes in und für die Slow-Food-Welt. Gehören wir doch zu denjenigen, die sie hochhalten und bewahren möchten. Das sollten wir auch weiterhin und unbedingt tun.
Zum anderen bringen sie mich immer wieder ins Grübeln: Was prägt und lenkt unseren Blick für kulinarische Traditionen? Vielleicht lohnt es sich, diesen stärker zu differenzieren und uns zu fragen: Wenn wir über »Küchentraditionen« sprechen, welche meinen wir da eigentlich? Und aus welchen Quellen »speisen« sich unser Verständnis und Wissen von Tradition? Was gab es wirklich auf den Tellern und warum? Und in welchem Maße können und wollen wir sie bewahren?
Nehmen wir als Beispiel die deutsche Küche. Diese denken wir doch mehrheitlich als traditionell fleischlastig. Nicht zuletzt das Schmökern von vielen Kochbüchern seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegelt das wider. Einerseits, weil diese (wie so viele Kochbücher) zumeist eine Aneinanderreihung von Sonn- und Festtagsgerichten sind. Und die waren nun mal, als etwas Besonderes, mit Fleisch. Hinzu kommt, dass Fleisch seit den 1960er-Jahren zunehmend erschwinglich(er) für jedermann wurde. Das schlug sich in den Gerichten wieder. Eintöpfen, die zuvor vegetarisch zubereitet waren, wurde jetzt Wurst zugesetzt. Daraus die Rückschlüsse zu ziehen, dass in »der« deutschen Tradition das tierische Produkt und die Küche tagtäglich uneingeschränkt zusammengehören, sie ohne Fleisch nicht auskäme, wäre ein Irrtum.
Werfen wir nämlich einen Blick ins 19. Jahrhundert, so findet sich auffallend viel Fleischloses. Die Verfügbarkeit von tierischen Erzeugnissen war für die meisten schlichtweg nicht gegeben. Fleisch war vor allem etwas Kostbares. Diese Küche folgte ja eng den Jahresrhythmen, auch was die Verfügbarkeit von Fleisch, Milch und Eiern anging. Geschlachtet wurde vorrangig im Herbst; ganzjährig Schwein auf den Tellern wie heute wäre unter diesen Vorzeichen undenkbar gewesen. Selbstredend gehörte es dazu, das ganze Tier und das ganze Lebensmittel zu verwerten. Fleisch und Eier wurden haltbar gemacht, Obst und Gemüse ebenfalls. Es wurde eingekocht und fermentiert. Traditionen, zu denen wir dankenswerterweise wieder zurückfinden, zumindest bei Slow Food.
Diese Art der Alltagsküche ist aber den wenigsten mehr vertraut und schon gar nicht halten wir sie gebunden zwischen Buchdeckeln in der Hand. Denn ausgerechnet diese Rezepte blieben in den Köpfen jener, die sie zubereiteten. Viele von ihnen wurden mit der Zeit außerdem abgewandelt, um Fleisch und Wurst ergänzt. Besinnen wir uns hingegen auf ihre Ursprünge zurück, so kann uns diese wertvolle Tradition jetzt und vor allem in nahester Zukunft die Richtung weisen und uns begleiten, auf dem Weg hin zu einer wirklich radikalen Saisonalität und teilweise auch Regionalität und insbesondere zur Reduktion tierischer Erzeugnisse. Wären wir, statt Lust im Fleischarmen zu finden, darauf aus, rein die eher fleischlastigen Traditionen der letzten 50 Jahre zu wahren, so brächte uns das in »Teufels Küche«. Denn die sind vor allem Ergebnis einer unendlichen Verfügbarkeit tierischer Erzeugnisse und eines Preisdumpings. Und mit beidem haben wir nicht nur die natürlichen Grenzen unserer Erde ausgereizt, sondern teils auch die unseres eigenen physischen Körpers. Denn auch die Art, wie wir leben, arbeiten und uns bewegen, ist heute eine andere und fordert uns auf, Traditionen abzuwandeln – zumindest in unserem Alltag.
Ich höre nun förmlich das Raunen in den eigenen Reihen, immerhin fordern wir doch »Essen, was man retten will«. Ja, das ist richtig und ungeheuer wichtig. Aber es gilt mehr und mehr, dabei Grenzen einzuhalten (übrigens auch eine Art Tradition, denn früher bestand gar nicht die Möglichkeit, derart über die natürlichen Grenzen hinaus zu leben). Und macht nicht das gute Maß in der Küche erst das gute Gericht und die Freude beim Essen?
Quelle: Ursula Hudson im Slow Food Magazin 6/2019