5 Schritte, wie wir die biokulturelle Vielfalt fördern
Jens Witt und Hardy Marienfeld sind für diese Diskussion in den Schafstall gegangen. In dicken Pullis sitzen Koch Witt und Schafzüchter Marienfeld da auf Strohballen, im Hintergrund stehen einige Schafe und schauen geduldig in die Web-Kamera. Die Corona bedingte Abwanderung der Slow Food Deutschland Podiumsdiskussion zum Wert der biokulturellen Vielfalt vom Podium ins Internet hat die Teilnahme aus dem Stall nicht nur ermöglicht, die Szene führt auch die Bedeutung des Themas eindrücklich vor Augen: Denn bei den Schafen handelt es sich um Skudden. Kleine, wollige Tiere, die auf den mageren Heidewiesen Norddeutschlands einst in Massen vorkamen. Weil sie aber der industrialisierten Landwirtschaft der vergangenen Jahrzehnte weder als Fleisch-, noch als Milch- oder Wollschaf genügten, wären sie fast ausgestorben und sind weiterhin davon bedroht, in Vergessenheit zu geraten. Es ist Züchtern wie Hardy Marienfeld und ihren Partner*innen in Verarbeitung und Verkauf zu verdanken, dass die Rasse heute noch lebt.
Und das ist nicht nur für das Skudde-Schaf gut, sondern für das Leben auf diesem Planeten insgesamt. Denn: Je weniger Sorten, Arten oder Rassen es gibt, desto anfälliger ist das Leben für Seuchen, Krisen, Risiken. Weswegen Slow Food das Thema Biokulturelle Vielfalt in diesem Jahr besonders betont. „Genetische Vielfalt, Vielfalt der Arten, der Ökosysteme – ja, des Lebens: Sie sind ist die Grundlage für unsere Nahrung und unsere Existenz“, sagt die amtierende Slow-Food -Deutschland-Vorsitzende Nina Wolff auf dem virtuellen Podium, auf dem neben ihr auch Anita Idel, Tierärztin und Mitglied der Arche-Kommission von SFD, der Streuobst-Manufakteur Jörg Geiger, die SFD-Einkaufsführerkommissions-Vorsitzende Katrin Knüpfer, die Start-up-Gründer Salem El-Mogaddedi und Gernot Würtenberger von Conflict Food sowie Chef-Alliance-Leiter Witt und Marienfeld mit Moderatorin Tanja Busse diskutierten. Sie alle unterstrichen, was Nina Wolff zur Dimension des Vielfältigkeitsbegriffs aus Slow-Food-Sicht erklärte: „Die biologische Vielfalt ergänzen wir um den kulturellen Aspekt. Denn viele Arten, Sorten und Rassen wurden von Menschen entwickelt, daraus haben sich dann Kulturlandschaften geformt, kulinarische Traditionen und bestimmte Lebensmittel. Das sind kulturelle Werte. Und die wollen wir schützen, vor allem wenn sie schutzbedürftig sind.“
Die Welt droht der Verlust von einer Million Arten.
Und dass sie schutzbedürftig sind, daran besteht kein Zweifel. Der Weltrat für Biodiversität spricht von einer Million bedrohten Arten. Ganze Kulturlandschaften, wie Heideflächen oder Streuobstwiesen, verschwinden. Dieser Rückgang wirkt sich negativ auf unsere Ernährungssicherheit aus. Und auch die Zahl der handwerklich arbeitenden Lebensmittelerzeuger*innen geht zurück. Denn die Vielfalt der Arten, des Lebensmittelhandwerks, der Kulturlandschaften und des Genusses bilden ein zusammenhängendes System. Wie sich der Schwund der biokulturellen Diversität ändern lässt, dafür kristallisierten sich während der Diskussion fünf Schritte heraus:
1. Landwirt*innen zu einer neuen Form der Landwirtschaft ermutigen.
Die Landwirtschaft ist nicht die einzig verantwortliche Branche für mehr Vielfalt, sie nimmt aber eine Schlüsselrolle ein. Schließlich bildet die Arbeit von Landwirt*innen den Ausgangspunkt für Ernährung und Genuss. „Leider werden ja weiter die Bäuerinnen bevorzugt, die Masse produzieren, die zur Monokultur beitragen“, sagt Nina Wolff. „Wichtiger wäre es, Landwirte besser zu stellen, die gesamtgesellschaftliche Leistungen wie den Schutz der biologischen Vielfalt ausüben.“ In der Realität geschieht oft das Gegenteil, wie Anita Idel beschreibt: „Ich habe durch mein Studium der Agrarwissenschaften das Gegenteil dessen gelernt, was wir hier diskutieren. Im Zentrum stand dort ein Leistungsbegriff, der sich über Kilogramm und Tonnen definierte. Ein Leistungsbegriff in unserem Sinne wäre aber ja nicht ein Baum, der möglichst viele Früchte bringt, sondern einer, der es schafft, auch noch bei Spätfrost seine Blüten durchs Frühjahr zu bringen oder unter anderen nicht optimalen Bedingungen etwas zu erzeugen“, sagt Idel. Auch Jörg Geiger, der im schwäbischen Göppingen aus Streuobst hochwertige Getränke für Spitzengastronomie und Handel erzeugt, sieht durch die Landwirtschaftspolitik falsche Rahmenbedingungen: „Die Frage ist, wie betreibt man Landwirtschaft, die Vielfalt fördert?“, sagt Geiger. „Dabei geht es aber um viel mehr als die Frage Bio oder nicht-Bio. Die Symbiose mit dem Boden muss funktionieren, dann werden Pflanzen resilient, dann bekommen wir die Wertigkeit in die Lebensmittel, die wir uns vorstellen.“ Skudde-Züchter Marienfeld ergänzt: „Wir brauchen Partner*innen; Gastronom*innen, Verarbeiter*innen, die genauso ins Risiko gehen wie wir. Partner*innen, die Landwirt*innen zeigen, dass ein Bedarf nach nachhaltigen Produkten da ist. Dann werden Landwirt*innen mutiger.“
2. Alte Sorten und Rassen aktiv nutzen.
Jörg Geiger hat sich entschieden, aktiv die Erzeugung seines Obstes mit zu begleiten. Indem er Stückles-Besitzer ermutigt, ihre Wiesen zu erhalten oder gleich selbst welche anlegt. So entsteht nicht nur eine Symbiose zwischen Nutzung und Naturschutz: Die süddeutschen Streuobstflächen gehören zu den artenreichsten Offenflächen, die in Europa vorkommen. So entsteht auch ein Hort der Sortenvielfalt. Denn auf den Streuobstwiesen wachsen viele Apfel-, Birnen-, Kirsch-, Nuss- oder Zwetschgensorten, die es in der Hochleistungslandwirtschaft nicht mehr gibt. Die aber optimal abgestimmt sind auf die schwierigen Verhältnisse am Fuß der Schwäbischen Alb. So wie die Skudde von Hardy Marienstein auf norddeutsche Heidewiesen. Weil die Skudde aus deren mageren Böden noch Nahrung ziehen, geben sie dem Erhalt der Landschaft auch eine wirtschaftliche Grundlage, wenn man wiederum ihr Fleisch nutzt und vermarktet. „Heutige Wirtschaftsrassen sind sicher um das Dreifache effizienter“, sagt Hardy Marienstein. Sie kommen aber eben auch mit den Verhältnissen in der Heidelandschaft nicht so gut klar, weswegen durch ein Verschwinden der Skudde auch eine über Jahrhunderte gewachsene Kulturlandschaft verschwinden würde. Solche Zusammenhänge zwischen alten Sorten oder Rassen, ihrer Nutzung und ihren Auswirkungen auf Landschaft und Zusammenleben gibt es überall auf der Welt. Das zeigt sich etwa an einem Produkt von Conflict Food. Gernot Würtenberg und Salem El-Mogaddedi haben dies gegründet, um Lebensmittel aus Konfliktregionen zu vermarkten. Dabei ist ihnen Freekeh aufgefallen, ein Urgetreide aus dem Nahen Osten: Das Korn ist optimiert auf die pflanzenwidrigen Bedingungen dort. Gleichzeitig haben es Menschen über die Jahrtausende so zu bearbeiten gelernt, dass es nutzbar ist. „Freekeh wird durch Verbrennen am Feld nussig, aber auch haltbar“, erzählt Salem El-Mogadeddi. „Das zeigt, dass Biodiversität natürlich mit Sortenvielfalt aber auch mit kultureller Vielfalt und Identität einhergeht.“
3. Den Schutz der Vielfalt ganzheitlich sehen.
Wie wichtig es dabei ist, über die die Grenzen der oft getrennten Systeme Landwirtschaft, Lebensmittelverarbeitung und Naturschutz hinwegzusehen, zeigt ein Beispiel, auf das Katrin Knüpfer verweist. Auf den ostdeutschen Elbwiesen kamen sich Naturschutz und Landwirtschaft in Sachen Artenvielfalt in die Quere. Ein Landwirt zieht dort auf vorbildliche Weise Hereford-Rinder auf. Gleichzeitig siedelte sich dort in den vergangenen Jahren der Wolf wieder an. Eine gewisse Gefahr also für die Kälber in der Herde. „Auch Wölfe sind schützenswert“, sagt Katrin Knüpfer. Und dürfen nicht gegen die Interessen nachhaltig arbeitender Landwirt*innen ausgespielt werden. Die Lösung: Nun laufen Esel auf der Rinderweide mit, die den Wolf abschrecken und so die Kälber schützen.
„Jeder, der den Beruf ausübt, hat eine gewisse Verantwortung“, sagt Jens Witt, der in Hamburg einen Caterer mit täglich gut 3000 Essen, alle in Bio-Qualität, betreibt. „Ein Unternehmen wie das unsere kann etwa Punkte machen, indem wir darauf achten, samenfeste Sorten einzusetzen oder auch extensivere Biohaltung mit alten Tierrassen zu fördern.“ Dazu gehöre es aber, über die Ränder seines eigenen unmittelbaren Wirkungsfelds hinauszuschauen.
4. Erzeuger*innen und Verbraucher*innen vernetzen
„In Frankreich kann man sich abgucken, wie Produzent*innen und Verbraucher*innen miteinander arbeiten“, sagt Jörg Geiger. „Da kommt es ja auch auf die gegenseitige Beziehung an.“ Jens Witt fordert deswegen: „Wir brauchen Lebensmittelbündnisse.“ Zwischen Erzeuger*innen und Verarbeiter*innen, Köch*innen und Landwirt*innen, Kund*innen und Produzent*innen. „Wenn wir die biokulturelle Vielfalt fördern wollen, muss die Ernährung aus mehr bestehen, als Lebensmittel bestellen, bezahlen und essen“, sagt Witt. Denn eines macht er auch klar: Ohne die Bereitschaft von Verbraucher*innen, alte Rassen und Sorten auch nachzufragen, scheitere deren Erhalt. Das sieht auch Katrin Knüpfer so: „Menschen sollten sich nicht nur kritischer, sondern vor allem neugieriger mit Nahrung auseinandersetzen: Sich auf Neues einlassen, auf Märkten nachfragen, das würde schon helfen.“ Und vermutlich etwas bewirken, was Nina Wolff als Schlüsselaufgabe formuliert: „Wir brauchen eine Antwort auf die Frage: Wie schaffen wir es, die Strecke zwischen Lebensmitteln und Menschen zu verkürzen?“
5. Ein erweitertes Verständnis von Kochen und Genießen.
Und am Ende, auch das ist klar, führt der Weg zu mehr biokultureller Vielfalt nur über eine angepasste Erwartungshaltung aller Beteiligter. Hardy Marienstein erklärt das am Beispiel seiner Skudden: Anders als „normale“ Lämmer sind die Skudden erst nach etwa eineinhalb Jahren schlachtreif. Sonst habe sie zu wenig Fleisch angesetzt. „Das ist dann aber wie Wild, eine tolle Spezialität“, sagt Marienstein. „Aber viele Menschen befremdet der Geschmack. Kund*innen und Landwirt*innen müssen sich eben ein Stück aufeinander zu bewegen, sonst wird das alles nichts.“ Jörg Geiger wünscht sich deswegen: „Verbraucher*innen sollten eigensinniger sein.“ Das birgt neben dem Artenschutz auch viele Möglichkeiten. „Mein Wunsch wäre, dass jede und jeder Verantwortung übernimmt für den Erhalt der biokulturellen Vielfalt“, sagt Nina Wolff. „Und, dass Verbraucher*innen sich als Schatzsucher*innen verstehen, die ihren Schatz im eigenen Kühlschrank einfach immer weiter vergrößern.“
Text: Sven Prange
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