Auf dem Prüfstand: Kompass für unsere ernährungspolitische Zukunft
„Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten" - so der Name des neuesten Gutachtens des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik und Ernährung (WBAE) beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, das heute (8.9.2020) der breiten Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
In seinem Gutachten weist der Beirat auf die dringend erforderliche umfassende Transformation unseres Ernährungssystems hin. Zur Erreichung müsse Deutschland insbesondere vier ernährungspolitisch relevante Handlungsbereiche gleichzeitig dezidiert adressieren: Gesundheit, Soziales, Umwelt sowie Tierwohl. Entsprechend eng und koordiniert müssten die damit betrauten Ministerien zusammenarbeiten. Neben diesen ‚Big Four' forcieren die Expert*innen die Ernährungsumgebung. Diese müsse transparent und fair für alle gestaltet werden, damit der Griff zu Lebensmitteln aus einer zukunftsfähigen Erzeugung und Verarbeitung leichter gelinge. Das setze neue Rahmenbedingungen voraus, innerhalb derer es Verbraucher*innen überhaupt möglich ist, verantwortungsvolle und kluge Einkaufsentscheidungen treffen zu können.
Vernetzung auf allen Ebenen
Slow Food Deutschland begrüßt den integrierten Ansatz des Gutachtens. Vieles sei Wasser auf die Slow-Food-Mühlen, betont Nina Wolff, amtierende Vorsitzende von SFD. Das Zusammenarbeiten verschiedener Ressorts, um nachhaltige Ernährung zu einem glaubwürdigen Politikfeld zu machen, fordert der Verein seit langem. „Das Gutachten zeigt den politisch Verantwortlichen eine Vielzahl von Methoden auf, mit denen das Feld der Ernährungspolitik künftig bestellt werden kann. Positiv ist, dass die Notwendigkeit einer Koordinierung der unterschiedlichen Akteure hervorgehoben wird, ihre teilweise absurd versprengten Zuständigkeiten aufgezeigt werden. Realität wird eine umfassende Ernährungspolitik aber nur, wenn wir uns sehr konkrete mit Zeitvorgaben und Indikatoren versehene Ziele stecken, und wenn die für ihre Umsetzung Verantwortlichen klar benannt werden. Ob eine institutionelle Vernetzung künftig gelingt, werden wir bei Slow Food aufmerksam beobachten. Denn der Erfolg einer ganzheitlichen Herangehensweise wird über unser Miteinander und die Gesundheit von Mensch und Planet mitentscheiden, national und international", erklärt Wolff und betont, dass Verantwortung nicht vom einen zum nächsten Ministerium herumgereicht werden dürfe. Slow Food fordert außerdem, dass im Rahmen einer Ernährungspolitik auch die alternativen Netzwerke kleiner und mittelständischer Betriebe sowie solidarische Handelspartnerschaften gefördert werden.
Ernährungskompetenz als Voraussetzung für nachhaltigen Wandel
Bei allem Zuspruch gehen Slow Food die Forderungen des Gutachtens teils nicht weit genug – so etwa bei der Ernährungsumgebung. Der Aufgabe, diese für Mensch, Tier, Umwelt und Klima gesund, sauber und fair zu gestalten, verschreibt sich Slow Food Deutschland seit nun mehr knapp dreißig Jahren. Wenn es innerhalb einer solchen Umgebung künftig qualitativ hochwertige und beitragsfreie Kita- und Schulverpflegung für alle gäbe, erklärt Vorstandsmitglied Lea Leimann, sei natürlich sehr viel erreicht. Der nächste, ganzheitlichere Schritt aber bestünde darin, Kindern und Jugendlichen nicht nur ein gutes Essen ‚vorzusetzen‘, sondern sie am Entstehungs- und Zubereitungsprozess teilhaben zu lassen und Ernährungskompetenz aufzubauen. „Denn dadurch kann eine nachhaltige Ernährung zur sozialen Norm werden und das ist notwendig für eine weitreichende Veränderung im Ernährungssytem", so Leimann. Menschen über ihre Sinne, ihren Genuss und das praktische Erleben zu überzeugen ist aus Sicht von Slow Food Voraussetzung dafür, dass sich Veränderung durchsetzt, dass sich unser Bewusstsein wandelt und wir Lebensmittel wieder wertschätzen.
Den Blick auf das Große und Ganze zu lenken gilt auch für das individualistische Gesundheitsverständnis, welches an Ernährungstabellen ausgerichtet ist. Dazu erklärt Wolff: „Für unsere Gesundheit zählen nicht nur die Nährstoffe von Lebensmitteln – gesundes Essen ist undenkbar ohne soziale, ökologische und ethische Verantwortung!" Eine Fokussierung auf die Ernährungsempfehlungen der DGE ist aus Sicht von Slow Food nicht vereinbar mit der Notwendigkeit uns so zu ernähren, dass Biodiversität und die untrennbar mit ihr verbundenen kulturellen Räume, Techniken und Traditionen gewahrt und das Klima geschützt werden. Vor diesem Hintergrund ist beispielsweise die empfohlene Menge Fisch von ein bis zwei Mal pro Woche untragbar.
>> Zur SFD-Position "Menschengesundheit nur mit Planetengesundheit"
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