Coronakrise: Die Felder können nicht warten
„Hobbygärtnerin, 61 Jahre alt, Raum Nordhessen, würde gern auf freundlichem Bauernhof aushelfen. Zweimal je zwei Stunden die Woche“. Solche Anfragen trudeln jetzt regelmäßig auf den Jobbörsen und Vermittlungsplattformen ein. Die Solidaritätswelle für die coronagebeutelte Landwirtschaft ist eindrucksvoll, ebenso sind es die zu Tränen rührenden Geschichten von kleinen Hopfenbäuer*innen oder Spargelhöfen, denen Student*innen und Rentner*innen solidarisch unter die Arme greifen. Binnen fünf Tagen sind auf der Internetplattform „Das Land hilft“ 30.000 Inserate eingegangen. Täglich werden Tausende Arbeitskräfte an die Höfe vermittelt. „Das freut uns unheimlich, diese Solidaritätswelle“ heißt es beim Deutschen Bauernverband. Doch die vielen kleinen Erfolgstories können nicht verbergen, dass die Landwirtschaft vor gewaltigen Problemen steht. Bis Mai fehlen 80.000 bis 100.000 Saisonarbeiter*innen, die überwiegend aus osteuropäischen Ländern kommen. Ernteausfälle werden deshalb trotz der großen Solidaritätswelle nicht zu vermeiden sein. Die vielen ungelernten Erntehelfer*innen können die Lücken nicht schließen.
„Jetzt zeigt sich die fatale Abhängigkeit unseres Ernährungssystems von der Schattenarmee der Arbeitsmigrant*innen“, sagt die Slow-Food-Vorsitzende Ursula Hudson, „die Agrarindustrie hängt zu großen Teilen am Tropf schlecht bezahlter osteuropäischer Arbeiter*innen, die es überhaupt erst ermöglichen, dass die Masse und teils überproduzierte Ware zu so günstigen Preisen den Handel erreicht. Das Coronavirus legt auch beim Lebensmittel essentielle Strukturprobleme offen und zeigt was zukunftsfähig ist und was nicht. Wir werden daraus hoffentlich lernen, was wir brauchen, nämlich mehr kleinteilige Strukturen, diversifizierten Anbau und kurze Wertschöpfungsketten!“ Agrarexpertin Katrin Wenz vom BUND sieht das ähnlich: „Unser Ernährungssystem ist nicht krisenfest, das zeigt sich jetzt in aller Deutlichkeit“. Wenz verweist auf industrielle Agrarstrukturen mit Großbetrieben, denen nicht nur zwei, drei oder zehn Ernte- und Pflanzhelfer*innen fehlen, sondern Tausende. Die bäuerliche Landwirtschaft mit ihren kleineren, oft familiären Strukturen sei viel weniger betroffen, sagt Wenz, hier könnten fehlende Arbeitskräfte leichter ersetzt werden, während die Großbetriebe vor kaum lösbaren Personalnöten stünden.
Wer sticht 80 Tonnen Spargel am Tag?
Jetzt beginnt die Spargelzeit. Die größten Spargelbetriebe haben bis zu 100 Hektar unter Folie – etwa 100 Fußballfelder. Das Edelgemüse wird bei solchen Erzeuger*innen täglich von bis zu 1.000 Erntehelfer*innen aus Osteuropa gestochen: 50, 60 oder 80 Tonnen am Tag. Um die Armada der vor allem rumänischen Saisonarbeiter*innen auf solch einem Hof zu ersetzen, bräuchte es Tausende freiwilliger Hilfskräfte.
Nicole Spieß, Hauptgeschäftsführerin beim Gesamtverband der Land- und Forstwirtschaftlichen
Arbeitgeberverbände, macht eine realistisch klingende Gleichung auf. Die Arbeitsleistung eines einzigen gut eingearbeiteten professionellen Saisonarbeiters, der auch mal 12 oder 14 Stunden am Tag arbeite, entspreche der von drei bis vier Hilfskräften. Das Dilemma: Die vielen freiwilligen Helfer*innen sind zwar gutwillig und anfangs oft auch euphorisch, sie sind der schweren Arbeit in der Regel aber kaum gewachsen. Sie müssen zudem zuerst eingearbeitet werden, was wiederum Arbeitskräfte bindet. Viele Helfer*innen wollen aber nur wenige Tage helfen, manche sogar nur stundenweise. Die meisten Betriebe brauchen qualifizierte, belastbare und verlässliche Hände, die über Wochen und womöglich über Monate dauerhaft auf dem Acker unterstützen. Die wertvolle Einarbeitungszeit muss sich auch lohnen. Gerade beim Spargelstechen lässt sich viel Schaden anrichten. Und in wenigen Stunden lässt sich der Rücken ruinieren, orthopädische Komplikationen inbegriffen.
Der Wärmeschub sorgt für Arbeitsspitzen auf den Höfen
Noch ist die Ernte nicht in vollem Gange. Nicole Spieß hofft auf kühles Wetter. Die kalten Tage und Nächte Ende März seien gerade rechtzeitig gekommen, sagt sie. Pflanzarbeiten können jetzt noch ein wenig gestreckt werden. Spieß: „Was nicht unbedingt gesetzt werden muss, das wird verschoben.“ Ein warmes Frühjahr, wie es sonst von den Bäuer*innen gewünscht wird, wäre jetzt kritisch. Dann explodiert die Vegetation und es entstehen Arbeitsspitzen auf den Höfen. Vor allem der Spargel schießt dann heraus und muss schnell gestochen werden. Genau das könnte passieren, wenn die Temperaturen in den nächsten Tagen Richtung 20 Grad marschieren.
Die landwirtschaftlichen Betriebe haben aber noch ein ganz anderes Problem: das Virus. Mit den vielen Erntehelfer*innen holen sie sich auch unbekannte Menschen mit ebenso unbekanntem Gesundheitsstatus auf den Hof. Auch dort muss Abstand gehalten, müssen verschärfte Hygieneregeln befolgt werden. Mit ein paar Dixieklos am Feldrand ist das kaum zu machen. Und gerade beim Gemüsepflanzen arbeiten die Bäuer*innen und ihre Mitarbeiter*innen oft Kopf an Kopf. Vielleicht müsse jetzt auch das Handling mit den Pflanzmaschinen verändert werdenmutmaßt Antje Kölling, Leiterin für Öffentlichkeitsarbeit bei Demeter.
Kurzarbeiter*innen wechseln von der Firma aufs Feld
Auch Kölling findet es „phantastisch, wie viele Leute uns helfen wollen“ und berichtet von einem Brandenburger Hof, der innerhalb von Stunden gleich 60 Bewerbungen bekommen habe. Kölling beobachtet, dass an vielen kreativen Lösungen in den Regionen gebastelt wird. So könnten Industrie- und Handwerksbetriebe ihre Kurzarbeiter*innen zumindest befristet für die Feldarbeit abstellen. Solche regionalen Deals seien oft effizienter als Studierende und städtische Helfer*innen zu beschäftigen, die häufig kein Auto hätten und auf den Höfen auch nicht alle übernachten könnten.
Unterdessen wächst der Druck auf die Bundesregierung, die wegen Corona von Innenminister Seehofer ausgesperrten Saisonarbeiter*innen womöglich doch wieder ins Land zu lassen. Die EU-Kommission hat zu Wochenbeginn die Einreiseverbote für Erntehelfer kritisiert und die Mitgliedsländer eindringlich aufgefordert, die Grenzen für die Saisonkräfte wieder zu öffnen. Erntehelfer*innen werden von der EU-Kommission als „systemrelevante Arbeitskräfte“ bezeichnet, die in der Krise ähnlich wie medizinisches Personal, Sicherheitskräfte und Arbeitskräfte im Verkehrssektor behandelt werden müssten.
Auch andere EU-Staaten haben indes die Grenzen dicht gemacht. Die Volksrepublik Polen hat für Einreisende aus Deutschland Quarantänemaßnahmen verhängt. Tausende polnische Erntehelfer*innen in den Grenzregionen von Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Brandenburg können damit nicht mehr pendeln, weil sie bei der Rückkehr nach Polen 14 Tage in Quarantäne müssten. Für Tages- und Wochenendpendler*innen gibt es jetzt zwar Prämien, damit sie dauerhaft auf deutscher Seite bleiben, doch längst nicht alle Erntehelfer*innen nehmen diese Angebote an, weil sie damit auf längere unbestimmte Zeit von ihren Familien getrennt wären.
Soldat*innen als letzte Rettungsmaßnahme
Bleibt noch ein anderer Sektor der Ernährungswirtschaft, über den kaum geredet wird: die Schlachthöfe. Auch sie sind auf schlecht bezahlte osteuropäische Arbeitsmigrant*innen angewiesen, allerdings weniger auf Saisonkräfte, weil die Arbeit kontinuierlich anfällt. Auch in den Schlachthöfen arbeiten Wochenendpendler*innen, die sich jetzt entscheiden müssen, ob sie im Land bleiben. Die Personaldecke ist fast überall dünn geworden. In Österreich wird bereits darüber nachgedacht, in den Schlachthöfen Soldat*innen einzusetzen. 340 Uniformierte des österreichischen Bundesheers sind bereits in Rewe-Warenlagern im Einsatz, wie der Standard meldet.
Bauernhöfe, Agrarindustrie, Schlachthöfe, Logistikunternehmen – viele Betriebe fahren auf Sicht. Das gilt natürlich auch für die Gastronomie, die unter anderem versucht, mit Essen zum Mitnehmen und Lieferdiensten die Krise zu überbrücken. Einige Betriebe liefern unter dem Slogan „Kochen für Helden“ Mittagessen für Krankenhäuser. Doch die anfangs noch großzügigen Spenden des Großhandels an die Gastronomie laufen langsam aus. Bleibt das Prinzip Hoffnung und das Kreativpotenzial jedes einzelnen Betriebs, diese Krise zu meistern. Alles hängt jetzt davon ab, wann die Infiziertenkurve einknickt und der Lockdown zu Ende geht.
Text: Manfred Kriener
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