Rohmilch – Risikofaktor oder Gesundheitsprävention?

09.01.2020 - Über Milch als Lebensmittel wird sehr kontrovers berichtet. Prof. Markus Ege und Dr. Rupert Ebner diskutieren über aktuelle Fragen rund um die Milch - eines der Jahresthemen von Slow Food Deutschland.

Rengoldshausen-37 (c) Ingo Hilger.jpgSlow Food: "Die Milch macht´s" war viele Jahrzehnte die Kernbotschaft, mit der für Milch geworben wurde. Kann man diese Aussage heute noch aufrechterhalten?
Dr. Rupert Ebner:
Der Satz suggeriert, dass es nur eine Art von Milch gibt. Dabei gab und gibt es nicht »die« eine Milch. Unpasteurisierte Rohmilch, im Handel als Vorzugsmilch erhältlich, ist etwas ganz anderes als industriell bearbeitete H-Milch. Rohmilch ist so vielgestaltig wie die Tierarten, von denen sie stammt, deren Rassen, Regionen und Verarbeitungsweisen.
Prof. Markus Ege: Ob man den Slogan heute noch so verwenden kann, kann ich nicht beurteilen. Wir haben jedoch deutliche Hinweise dafür, dass sich eine weniger intensive Verarbeitung von Milch positiv auf die Gesundheit auswirken kann.

Bei Milch wird heute in aller Regel nach Fettgehalt, Haltbarkeit, Bio oder konventionell unterschieden. Werden damit alle Facetten der Milch abgebildet?
ME:
Nein, es gibt viele andere Einfluss-Faktoren, wie z.B. die Fütterungsart (Gras, Heu, Silage, Kraftfutter etc.) und die Verarbeitung (Zentrifugation, Homogenisierung, Filtration, Höhe und Dauer der Erhitzung). Die Fütterungsart wirkt sich auf den Gehalt der Milchinhaltsstoffe aus, die Verarbeitung auf deren Funktionalität.
RE: Hier kann ich Prof. Ege nur zustimmen. Als Tierarzt hatte ich immer Zugang zu unbehandelter Rohmilch. Häufig als Geschenk meiner Bauern. Der Einfluss einer intensiven Silagefütterung auf den Geschmack ist – auch ohne Sensorikschulung – für jedermann zu schmecken, insbesondere zu riechen.

Unbehandelte Milch ist ein hochverderbliches Lebensmittel, deshalb gibt es eine Vielzahl von Verfahren, um Milch länger genussfähig zu halten. Beeinflussen diese Verfahren die Inhaltsstoffe und den Geschmack der Milch? Ist der in der Werbung verwendete Begriff »Länger frisch« nicht ein Widerspruch in sich?
ME:
Die Verfahren zielen auf Haltbarkeit oder Genussfähigkeit, sind aber nicht auf Inhaltsstoffe abgestimmt, die positive Gesundheitseffekte bewirken könnten. Ob eine Milch nach drei Wochen Lagerung noch als Frischmilch bezeichnet werden kann, ist wohl eher eine Frage der Definition. Frischkäse kann auch wochenlang haltbar sein, aber mit Frischmilch würde ich – wie wohl viele Konsumenten – spontan eher eine kurze Lagerung assoziieren als bei der herkömmlich pasteurisierten Milch, die heute schon als »traditionell« gilt. Eigentlich hätte nur die traditionell hergestellte Milch den Namen »Frischmilch« verdient, weil sie nur eine Woche lang haltbar ist und darum nur frisch verzehrt werden kann.
RE: Als frische Milch dürfte eigentlich nur unbehandelte Milch bezeichnet werden, die einzig durch Kühlung länger genusstauglich gehalten wurde. Der Begriff »frisch« ist ja in jeder Hinsicht positiv besetzt. Bei Fleisch muss aufgetaute Ware eigens gekennzeichnet werden. Aber intensiv behandelte Milch wie ESL-Milch (extended shelf life – länger haltbar) kann als Frischmilch verkauft werden. Sachgerecht wäre es, Milch, die durch technische Verfahren länger zum Verzehr geeignet ist, auch als solche zu kennzeichnen.

Insbesondere wegen der Übertragung des Tuberkuloseerregers über Rohmilch in den 1950er-Jahren ist der Verzehr von unbehandelter Milch heute nur noch über stark reglementierte »Vorzugsmilch« möglich. Ist das, nachdem wir in Deutschland längst TBC-frei sind, noch sinnvoll? Gibt es, gerade für junge Menschen, Vorteile durch den Konsum von Rohmilch?
ME:
Sicher ist die Keimbelastung der Rohmilch auch mit krankmachenden Keimen in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen. Aber es können eben immer noch gefährliche Keime wie Listerien oder EHEC über Rohmilch übertragen werden. Diese sind zwar selten, aber so gefährlich, dass sie lebensbedrohliche Krankheiten hervorrufen können. Gerade Kinder sind gefährdet, besonders auch während ihrer vorgeburtlichen Entwicklung.
RE: Glaubhaft belegter Wissenschaft zu widersprechen ist ein schwieriges Unterfangen. Klar ist, unbehandelte Rohmilch vom Bauern ist für Schwangere und Kleinkinder mit einem gewissen Risiko verbunden und ich kann das deshalb niemandem empfehlen. Aber gerade in meiner Generation gibt es in Deutschland noch Millionen von Menschen, die in ihrer Jugend Rohmilch getrunken haben und vielleicht gerade deshalb von Allergien verschont geblieben sind. Dass der Genuss von wöchentlich zwei oder drei Gläsern Rohmilch (Vorzugsmilch) in früher Jugend einen gewissen Schutz vor Allergien darstellt, dafür gibt es fundierte wissenschaftliche Belege. Ganz abgesehen davon, dass Menschen wie ich, die diese Erinnerung bis heute in ihrem »Geschmacksgedächtnis« haben, Rohmilch immer noch als ganz besonderen Genuss empfinden.

Milch wird heute zu großen Teilen in industriellen Haltungsformen erzeugt. Kann man den Konsum von Milch, so wie sie heute im Supermarkt angeboten wird, noch empfehlen?

ME: Die Menschheit hat über Jahrtausende von der Kuhmilch als zusätzlicher Proteinquelle profitiert. Heutzutage gibt es Proteinquellen im Überfluss; wichtiger als deren Menge ist nun die Qualität der Milch.
RE: Es ist sicher eine Illusion, wenn ich fordern würde, dass ab morgen alle nur noch Rohmilch, am besten vom Bauern aus der Nachbarschaft, konsumieren sollen. Aber die Richtung sollte schon sein, dass die Molkereien, die möglichst naturbelassene Milch anbieten und sich auf einen geringen Behandlungsgrad einlassen, von immer mehr Verbrauchern bevorzugt werden. Das würde die anderen Molkereien zwingen, diesem Beispiel zu folgen. Ein weiterer Schritt nach vorne wäre, wenn sich Molkereien klar dazu bekennen würden, dass sie nur Milch von den Bauern auf den Markt bringen, die sie direkt beliefern – am besten, ohne die jahreszeitlichen Unterschiede durch technologische Maßnahmen unkenntlich zu machen. Der Unterschied zwischen Weidemilch im Sommer und Heumilch im Winter müsste für jeden Verbraucher erkennbar sein. Vorreiter könnte der in Deutschland so beliebte »Latte macchiato« werden. Neben dem Einsatz von fair erzeugtem, hochwertig geröstetem Kaffee, könnte es für jeden Barista selbstverständlich werden, dass er Qualität und Herkunft seiner Milch auf die Karte schreibt. Gerade wir von Slow Food, die wir uns beim Wein begeistert über Sorte und Terroir austauschen, sollten die Vielfalt der Milch herausstellen und vom Lebensmitteleinzelhandel einfordern. Mit der Heumilch ist ein kleiner Anfang gemacht.

Der Text erschien im Slow Food Magazin 6/2019; redaktionelle Bearbeitung des Gesprächs: Ingeborg Pils

Über:

Rupert_Ebner_2017.jpgRupert Ebner, Tierarzt und seit 2010 im Vorstand von Slow Food Deutschland, hat sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Thema Milch auseinandergesetzt.

Ege Markus (c) Christine Olma.jpgMarkus Ege, Professor für klinisch-pneumologische Epidemiologie an der Kinderklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital am Klinikum der Universität München (LMU), gehört zur Leitung der »Martha-Studie«. Deren Ziel ist es, zu überprüfen, ob Kleinkinder, die regelmäßig minimal verarbeitete, mikrobiologisch sichere Kuhmilch trinken, besser vor Asthma, Allergien und Atemwegsinfekten geschützt sind.

(c) Christine Olma, Fotoabteilung Dr. von Haunersches Kinderspital



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