Lebensmittelverschwendung heizt das Klima auf
Die Buchführung ist mustergültig: Immer neue Studien berechnen die Lebensmittelverschwendung in Deutschland und Europa. Die Wissenschaft will es genauer wissen, als es die alte Faustregel – ein Drittel aller Lebensmittel wird weggeworfen – besagt. Dazu werden Mülleimer und Biotonnen auf Lebensmittelreste untersucht, Verbraucher*innen befragt, Wareneingang und -ausgang der Supermärkte geprüft, Computer mit Zahlenreihen gefüttert. Bis auf die zweite Kommastelle hat das Thünen-Institut zuletzt den weggeworfenen Überfluss berechnet. Danach landen jährlich in Deutschland 11,86 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Hauptangeklagter sind weiter die Verbraucher*innen, die für 6,14 Millionen Tonnen verantwortlich gemacht werden, das entspricht mehr als der Hälfte aller Lebensmittelabfälle: 75 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Daneben tragen auch die Erzeuger*innen, Handel, Lebensmittelverarbeitung, Gastronomie und Außer-Haus-Versorgung (s. Grafik) reichlich zum Abfallberg bei.
Weggeworfene Nahrung ist klimarelevant
Seit einigen Jahren macht die große Verschwendung auch als politisches Thema Karriere. Sie soll bis 2030 halbiert werden, so die deckungsgleichen Ziele der Bundesregierung, der EU und UN. Meist wird mit ethisch-moralischem Blick auf die Ressourcenvergeudung geschaut. Auch die enormen ökonomischen Verluste werden hochgerechnet. Dass die Verschwendung aber auch die Erderwärmung anheizt, ist noch nicht überall durchgedrungen. Als Klimakiller Nummer eins in Sachen Ernährung gilt unser großer Fleischkonsum. Doch der riesige Abfallberg an weggeworfener Nahrung ist ebenfalls in hohem Maß klimarelevant. Lebensmittel, die in unserem Vorratsschrank landen, haben nämlich einen Fußabdruck, also reichlich Klimagase auf ihrem Konto. Denn bei jedem Glied der Nahrungsmittelkette, vom Acker bis zum Teller, werden Treibhausgase erzeugt: in der Landwirtschaft, bei der Verarbeitung der Lebensmittel, bei der Verpackung, beim Transport, bei der Auslieferung und Kühlung, zuhause beim Kochen und schließlich beim Entsorgen der Reste. Umso wichtiger wäre es, Lebensmittel vollständig zu nutzen, anstatt sie wegzuwerfen.
Es geht um die weltweite Ernährungssicherheit
Der Weltklimarat hat in seinem letzten Gutachten dem Thema Ernährungssicherheit ein langes Kapitel gewidmet. Kernsatz: „Wenn wir Nahrungsmittel-Verluste und Verschwendung reduzieren, dann reduzieren wir auch die Treibhausgas-Emissionen und den Bedarf an zusätzlichen landwirtschaftlichen Flächen, um überschüssige Nahrungsmittel zu erzeugen.“ Ein Weniger an Verschwendung würde außerdem der weltweiten Ernährungssicherheit und dem Kampf gegen Hunger helfen.
Die enge Verbindung zwischen Lebensmitteln und Klima hat noch eine ganz andere Seite: Die Erdüberhitzung durch den Klimawandel gefährdet mit Dürren und Extremwetterlagen wiederum direkt die Lebensmittelerzeugung der Landwirtschaft. Die Folgen können Verknappung von Nahrungsmitteln sein, Qualitätseinbußen und Preisexplosionen, die direkt die Verbraucher*innen treffen. Umso wichtiger ist es, Treibhausgase durch Lebensmittel-Verschwendung zu verringern.
Überschuss und Verschwendung sind systemimmanent
Auch die Überproduktion an Lebensmitteln führt zu Verschwendung und ist, wie Slow Food Deutschland kritisiert, fester Bestandteil unseres Ernährungssystems. Das baut auf schnellen Warenumschlag und ein Überangebot, was Verschwendung zur Folge hat. Vertragsbäuer*innen mit Großabnehmer*innen bauen zudem bis zu 40% mehr an, damit sie 100% ihrer Vertragsverpflichtungen einhalten können. Da wird also bereits ganz am Anfang, fast noch bevor ein Saatkörnchen in den Boden gepflanzt wird mit über einem Drittel Überschuss geplant, damit im Falle von schlechter Witterung oder Schädlingsbefall die 100% für die Vertragspartner geerntet werden können.
Mindeshaltbarkeitsdatum heizt Verschwendung an
Nicht alle Lebensmittelabfälle sind allerdings vermeidbar. Bananenschalen oder die welken Außenblätter eines Salatkopfs gelten ebenso wie Knochen oder harte Käserinden als „unvermeidbarer“ Abfall. Die Studie des Thünen-Instituts rechnet vor, dass etwa die Hälfte unserer Abfälle Vergeudung ist, weil die Lebensmittel zum Zeitpunkt des Wegwerfens noch uneingeschränkt genießbar waren oder bei rechtzeitigem Verzehr genießbar gewesen wären. Das sture Festhalten am Mindesthaltbarkeitsdatum ist nach wie vor ein Treiber für die Vernichtung wertvollen Essens. Fast ein Drittel (28 Prozent) der in den Supermärkten entsorgten Lebensmittel landen nur wegen überschrittenen Haltbarkeitsdatums im Müll. 56 Prozent der aussortierten Waren zeigen leichte optische Mängel. Zusammen wären also 84 Prozent der Abfälle im Handel noch genießbar.
Es fehlt an Wertschätzung
Sucht man bei den Verbraucher*innen nach Gründen für die Verschwendung, wird oft eine schlechte Haushaltsplanung verantwortlich gemacht, aber auch die mangelnde Wertschätzung von Lebensmitteln und ihr geringer Preis. Sozialforscher*innen erinnern daran, dass in unserer Wegwerf- und Konsumgesellschaft der hohe Verbrauch von Gütern allgegenwärtig und Kennzeichen unserer Einkaufskultur ist. Das gilt nicht nur für Kleidung oder Gebrauchsgüter, sondern auch für Lebensmittel. Das Haben-Wollen von möglichst vielen appetitlichen Waren reicht bis zum Suchtverhalten.
Slow Food begeistert Verbraucher*innen seit mehr als zehn Jahren für krummes Gemüse und überzeugt sie bei verschiedenen Aktionen und Bildungsprojekten davon, Lebensmittelverschwendung zu vermeiden. Sie bekommen praktische Tipps zu Einkauf, Lagerung und Verzehr. Höhepunkt sind die Schnippeldiskos, die Slow Food seit 2012 organisiert. Hunderte Freiwillige, meist junge Leute, sammeln bei Erzeuger*innen unverkäufliches Gemüse, das nicht den optischen Marktstandards entspricht. In einer „Disko“-Atmosphäre mit Musik schnippeln die Teilnehmenden das nicht marktkonforme Gemüse zu Suppen. Das daraus zubereitete Essen wird bei öffentlichen Veranstaltungen mit teilweise Tausenden Besucher*innen kostenfrei verteilt. Nicht nur den Verbraucher*innen, auch den Handel erinnert Slow Food an seine Verantwortung. Er lege es mit geschickter Platzierung der Lebensmittel, mit riesengroßen Einkaufswagen, überdimensionierten Verpackungseinheiten, aggressiven Sonderangeboten und anderen Tricks darauf an, dass wir möglichst viel kaufen. Und die Politik? Von ihr fordert Slow Food verbindliche und tragfähige Strategien, die über Anreize für freiwillige Maßnahmen hinausgehen und bei der Ur-Produktion ansetzt. Das sind Voraussetzungen, um das Ziel 2030 zu erreichen.
Wir sollten uns klarmachen: Die Klimakrise, das sind nicht nur qualmende Kohlekraftwerke und spritfressende SUV-Monster. Das sind auch überquellende Einkaufswagen mit Lebensmitteln, von denen zwölf Prozent im Müll landen, ohne dass sie benutzt, teilweise nicht einmal ausgepackt werden.
Text: Manfred Kriener
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World Disco Soup Day am 25.4.2020: >> Live verfolgen oder in den eigenen vier Wänden mitschnippeln und tanzen
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Alltagstipps:
1) Einkaufszettel helfen, um nur die Lebensmittel zu kaufen, die Sie wirklich benötigen und nutzen.
2) Lagern Sie die Lebensmittel richtig – sowohl in der Vorratskammer als auch im Kühlschrank.
3) Vertrauen Sie Ihren Sinnen statt blind dem Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD).
4) Alle essbaren Teile verwenden – sowohl von Pflanzen als auch von Tieren!
5) Machen Sie Lebensmittelüberschüsse haltbar, etwa durch fermentieren!