Die Europäische Kommission macht einen Rückzieher und öffnet sich der Deregulierung neuer GVOs.

30.04.2021 - Slow Food ist äußerst besorgt über die Schlussfolgerungen, die die Europäische Kommission aus der Studie über „Neue Gentechnik” zieht. Nach Ansicht der Organisation ebnen sie der Deregulierung neuer gentechnisch veränderter Organismen (GVOs) den Weg und missachten das Vorsorgeprinzip. Damit wird die Wahlfreiheit der Bürger*Innen und Landwirt*innen gefährdet.

„Die Europäische Kommission hat sich mit dem europäischen Green Deal und der Farm-to-Fork-Strategie dazu verpflichtet, den Übergang zu einem wirklich nachhaltigen Lebensmittelsystem zu beschleunigen. Durch den Vorschlag, die EU-Vorschriften zu GVOs zu überarbeiten, zeigt die Kommission, dass sie weiter einer technokratischen Denkweise folgt, statt in Agrarökologie, die sowohl den Bäuer*innen als auch den lokalen Gemeinschaften und der Umwelt im Allgemeinen zu Gute kommt, zu investieren und diese zu fördern“, so Marta Messa, Leiterin des Europabüros von Slow Food.

Was besagt die Studie der Kommission?

Die Europäische Kommission hat endlich ihre lang erwartete Studie zur neuen Gentechnik veröffentlicht, die der EU-Rat im November 2019 in Auftrag gegeben hatte. Die Studie kommt zu folgenden Schlussfolgerungen:

  • „Neue Gentechnik (New Genomic Techniques, GNT) und ihre Anwendung bergen das Potenzial, zu einem resilienten und nachhaltigen Lebensmittelsystem für die Gesellschaft der EU beizutragen und können so eine Antwort auf einige der großen Herausforderungen bieten”
  • Damit neue GVOs zur Nachhaltigkeit des Lebensmittelsystems beitragen können, „muss ein angemessener Mechanismus zum Tragen kommen, um ihren Nutzen zu bewerten”
  • Das derzeit geltende GVO-Recht der EU ist dafür nicht zweckmäßig.

Die Studie kommt weiterhin zu dem Schluss, dass ein neuer Rechtsrahmen zur Regulierung der neuen GVOs erforderlich sei. Das ist zutiefst beunruhigend, da es darauf hindeutet, dass die Kommission versucht, die derzeitigen Vorschriften zur Regulierung von GVOs und zum Genom-Editing aufzuweichen. Die für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit zuständige EU-Kommissarin Stella Kyriakides sagte, dass neuartige genomische Verfahren die Nachhaltigkeit der landwirtschaftlichen Erzeugung im Einklang mit den Zielen unserer Farm-to-Fork-Strategie fördern können.”

Die Position von Slow Food

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im Juli 2018 klargestellt, dass auch neue Gentechnikverfahren Gentechnik im Sinne des europäischen Gentechnikrechts sind. „Deshalb müssen gemäß dem im EU-Recht verankerten Vorsorgeprinzip Maßnahmen zum Schutz von Umwelt und menschlicher Gesundheit ergriffen werden.” Die Europäische Kommission stellt diesen Beschluss nun ernsthaft in Frage. Wenn die Verpflichtung für Sicherheitskontrollen, Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung für neue GVOs nicht mehr gelten würde, wäre das eine negative Entwicklung für die europäischen Bürger*innen, da neue GV-Produkte unbemerkt und ohne Kennzeichnung ihren Weg auf die Esstische finden könnten. Auch für Bäuer*innen und Viehzüchter*innen entstünden Nachteile, da es zunehmend schwieriger und kostspieliger würde, sicherzustellen, dass ihre Lebensmittel keine neuen GVOs enthalten.

Neue GVOs bergen zahlreiche Risiken für die Gesundheit von Menschen, Tieren undUmwelt sowie für die Ernährungssouveränität von Kleinbäuer*innen. Ohne eine strikte Regulierung droht folgendes Szenario:

  • Neue GVOs müssten keine Zulassungsverfahren mit umfassender Risikoprüfung mehr durchlaufen, wodurch nicht sichere Produkte ihren Weg in die Supermärkte der EU finden würden.
  • Es gäbe keine Daten mehr, um die neuen GVOs und GV-Produkte auf dem Markt rückzuverfolgen, da sie nicht länger kennzeichnungspflichtig wären.
  • Es könnten schwere Schäden für die Ökosysteme und die Biodiversität auftreten, da man keine Maßnahmen mehr gegen die unkontrollierte Ausbreitung neuer GVOs in der Umwelt ergreifen könnte. Die Landwirtschaft und die Lebensmittelherstellung, die auf GVO-freie Quellen angewiesen sind, könnten nicht mehr geschützt werden.

„Die Farm-to-Fork-Strategie zielt darauf ab, den Konsument*innen umfassendere Informationen bereitzustellen, damit Bürger*innen gut informierte Entscheidungen treffen und damit zum Übergang zu einem nachhaltigeren Lebensmittelsystem beitragen können. Eine Deregulierung neuer GVOs würde bedeuten, dass diese nicht länger kennzeichnungspflichtig wären, was im krassen Widerspruch zu den Zielen der Farm-to-Fork-Strategie stünde. Wir fordern die Mitgliedsstaaten eindringlich auf, das Vorsorgeprinzip, die Sicherheit der Bürger*innen die Wahlfreiheit der Landwirt*innen und die Biodiversität zu verteidigen”, schließt Messa.

Hintergrund:

Seit der Einführung der ersten gentechnisch veränderten (GV) Nutzpflanzen vor über 20 Jahren hat sich die Gentechnik weiterentwickelt. Eine Reihe neuer gentechnischer Verfahren entstand, die die Wissenschaft  unter dem Begriff „Genom-Editing“ summiert. Genom-Editing ermöglicht es , bestehendes Erbgut zu verändern, statt Gene einer anderen Spezies hinzuzufügen. Diese neuen Verfahren werden auch als „Neue Züchtungsverfahren” (Agrar-Biotechnologie), „neuartige genomische Verfahren” (EU-Rat) oder „neue Gentechnik“ (Europäische Kommission) bezeichnet. Slow Food nennt diese neuen Gentechnikverfahren „Neue GVOs”, da sie laut dem Urteil des EuGH in rechtlicher und technischer Hinsicht Gentechnikverfahren sind und daher die gleichen Risiken wie herkömmliche Gentechnik bergen. 

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im Juli 2018 klargestellt, dass auch neue Gentechnikverfahren Gentechnik im Sinne des europäischen Gentechnikrechts sind. Deshalb muss das EU-rechtlich verankerte Vorsorgeprinzip umgesetzt werden. Das Urteil besagt,  dass auch mit neuen Gentechniken veränderte Organismen und Saatgut vor Markteintritt weiterhin Zulassungsverfahren mit umfassender Risikoprüfung durchlaufen und entsprechend gekennzeichnet werden müssen, um das Recht von Bäuer*innen, Lebensmittelhersteller*innen und Konsument*innen zu wahren, darüber Bescheid zu wissen, ob ein Lebensmittel GVOs enthält oder nicht.

Slow Food setzt sich seit langem entschieden gegen GVOs ein, da sie eine Gefahr für die Biodiversität darstellen, die Existenz von Kleinbäuer*innen bedrohen und dem Prinzip der agrarökologischen Landwirtschaft entgegenstehen. Darüber hinaus sind durch Gentechnik hergestellte Produkte oft durch Patente geschützt, die einigen wenigen multinationalen Konzernen gehören. Patente auf Saatgut haben negative wirtschaftliche Folgen für den Agrarsektor, einschließlich der Monopolisierung und Konzentration des Saatgutmarktes. GV-Landwirtschaft fördert die Entwicklung intensiver Monokulturen und stellt in steigendem Maß eine Bedrohung für das Überleben des traditionellen Saatguts und der ländlichen Gemeinschaften dar, die zunehmend ihrer Produktionsmittel und ihrer Lebensgrundlage beraubt werden.

Die EU muss das Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2018 voll und ganz umsetzen und sicherstellen, dass auch neue GVOs grundlegenden Sicherheitsprüfungen durchlaufen und Zulassungsanforderungen einhalten. Dazu wurde am 30. März 2021 ein Brief an den Vizepräsidenten der Europäischen Kommission Timmermans gesendet, in dem unter anderem vor den Risiken einer Deregulierung der neuen GVOs gewarnt wird.

Inhaltspezifische Aktionen