Die großen Krisen der Erde – und wie wir sie durch planetengesunde Ernährung lösen
Man kann sich die Lage der Welt wie eine Küstenstadt vorstellen, die ohne Schutz durch Deiche die nächste Sturmflut herantosen sieht. Da ist die erste Welle, die über die Küste zu schwappen droht und die Corona heißt. Gleich dahinter aber türmen sich schon zwei weitere Wellen: die Welle namens Klimakrise und die namens Artensterben. Der Umweltforscher Josef Settele ist eine der Stimmen, die vor dem Zusammenhang zwischen diesen drei großen Krisen warnen: Sie verstärken sich gegenseitig und drohen im Zusammenwirken unberechenbar zu werden. Oder wie Nina Wolff, die amtierende Slow Food-Deutschland-Vorsitzende, zur Eröffnung eines Podiums „Menschengesundheit nicht ohne Planetengesundheit“ sagte: „Eine Triple-Krise ist etwas, mit dem man sich ernsthaft auseinandersetzen sollte. Die Zeitfenster, das zu fixen, bemessen sich nicht in Jahrhunderten, sondern in Jahrzehnten. Mit anderen Worten: Unser Handeln ist jetzt gefragt.“
Das mag erstmal bedrohlich klingen. Erst recht in einer Zeit, die mit guten Nachrichten geizt. Und doch wohnt dieser Analyse etwas fundamental Konstruktives inne. Das jedenfalls verdeutlichten während der Podiumsdiskussion unter Moderation der Autorin Tanja Busse neben Nina Wolff auch die Ulmer Evolutionsökologin Simone Sommer, der Generalsekretär des internationalen Biodynamie-Verbandes Demeter, Christoph Simpfendörfer, und Hubert Hohler, gastronomischer Leiter der Buchinger Wilhelmi Klinik am Bodensee und Mitglied der Slow Food Chef Alliance. Denn eine Erkenntnis, die sich durch die Beiträge der Diskutanten zog: Jenseits der nötigen großen Schritte durch die Politik gibt es auch viele kleine Schritte, die jede*r Einzelne von uns gehen kann, diese Krisen einzudämmen. Und diese Schritte führen über unsere Ernährung.
„Eine Erkenntnis ist, dass wir keine einzige dieser Krisen bewältigen werden, wenn wir unserer Art, Lebensmittel herzustellen, zu handeln und zu verzehren, nicht radikal ändern“, sagt Nina Wolff. Das verdeutlichen zwei Zahlen: pro Kopf verbraucht jeder Mensch in den industrialisierten Ländern heute etwa 80 Kilogramm mehr Lebensmittel pro Jahr als noch in den 1950er Jahren. Und der Planet muss heute mehr als drei Mal so viele Menschen ernähren wie damals. Es wird enger auf dem Planeten, Mensch und Tier drängeln sich um immer weniger Flächen.
Wo es Tier und Mensch zu eng wird
Da ist es kaum ein Wunder, dass Simone Sommer sagt: „Gut 60 Prozent menschlicher Infektionen sind heute Zoonosen.“ Also Krankheiten durch Erreger, die von Tieren auf den Menschen überspringen, wie eben der Corona-Erreger. „Und eine der treibenden Kräfte dabei“, sagt Sommer, „ist der Verlust der Biodiversität.“ Für Sommer ist deswegen klar: „Zoonosen nehmen schon aufgrund der demographischen Entwicklung zu: Wir sind einfach sehr viele Menschen. Hinzu kommt, dass industrielle Landwirtschaft und Umweltveränderungen, etwa durch Entwaldung, die Voraussetzungen für Zoonosen vereinfachen.“ Sie sieht den nicht-nachhaltigen Teil der Landwirtschaft als Baustein, aus dieser Lage herauszukommen. „Eine gesunde Menschheit ist nicht zu trennen von der Gesundheit von Tieren und Umwelt.“ Menschengesundheit führt eben nur über Planetengesundheit.
Ein Ernährungsstil für den Planeten
Den Gedanken hat bereits vor zwei Jahren die Eat-Lancet-Kommission formuliert und in eine Planetary Health Diet, also eine Ernährung innerhalb der planetaren Grenzen, übersetzt. Die Idee dahinter ist so einleuchtend wie Slow Food kompatibel: jeder Mensch muss seine Ernährung so ändern, dass er der Erde nur das an Ressourcen entnimmt, das ihm rechnerisch zusteht. Das heißt nicht, dass alle Menschen nur noch Getreide oder nur noch Gemüse essen. Aber dass sie sich ihres rechnerischen Ressourcenverbrauches bewusst werden. „Es kommt auf das rechte Maß an“, sagt Nina Wolff. „Und auf die Verortung: Diese Ernährung wird an der Küste anders aussehen als in den Bergen, auf dem Land anders als in der Stadt.“
„Wir brauchen dafür regionale Kreisläufe“, sagt Demeter-Mann Christoph Simpfendörfer. „Und wir müssen Regionalität neu denken: Wir brauchen regionale Produkte, die Tier und Planeten gerecht werden.“ Entscheidend ist dabei die Verknüpfung von Regionalität und ganzheitlicher Nachhaltigkeit: im Lebensmittelanbau wie in der Verarbeitung. Wenn die Pute aus der Region gequält oder mit Soja aus Brasilien gefüttert wird, später dann von Billiglöhnern in Industrieschlachthäusern getötet wird, löst das keine sondern schafft neue Probleme.
„Wir müssen eben wieder essen, als ob es ein Morgen gäbe“, sagt Hubert Hohler. „Unser täglich Brot geb uns heut, ist ok. Unser täglich Fleisch gib uns heute, geht nicht.“ Er wirbt deswegen dafür, durch die eigene Ernährung vier Komponenten unter einen Hut zu bringen: Gesundheitsverträglichkeit, Wirtschaftsverträglichkeit, Sozialverträglichkeit, Umweltverträglichkeit.
Wo Politik eingreifen muss
Das ist gleichermaßen Auftrag an Politik und jede*n Einzelne: Denn viele kleine Schritte helfen genauso, die Herausforderungen zu lösen, wie es auch die großen politischen Schritte braucht. Da stimmt es einerseits zuversichtlich, wenn hohe Vertreter*innen der Europäischen Kommission wie Präsidentin Ursula von der Leyen oder ihr Vize Frans Timmermanns von „Ökozid“ oder einem „Paris-Abkommen für die Artenvielfalt“ sprechen. Gleichzeitig steuert die Agrarpolitik der Gemeinschaft weiter in die falsche Richtung.
Dabei gäbe es hier wirkungsmächtige Hebel. Simone Sommer sagt: „Die Politik müsste 20 Prozent der Flächen zu Rückzugsflächen für die Natur machen, ganz konsequent.“ Natürlich bräuchten Landwirt*innen dann einen finanziellen Ausgleich dafür. Aber dass das wirkungsvoll sei, sei kaum zu bestreiten. „Wir reden schon sehr lange, aber es ist mühsam, das in den politischen Prozess zu bekommen“, sagt Sommer.
Weniger Verbrauch, mehr Wirkung
„Politik ist das eine“, findet Christoph Simpfendörfer. „Aber es ist schon so, dass jeder Einzelne etwas tun kann. Wenn man sich seine monatlichen Ausgaben anschaut, sieht man schon, was man alles bewegen kann.“ Das zeigt allein der Zusammenhang zwischen den drei großen Qs Quantität, Qualität und Quantum, den Hubert Hohler aufzeigt: Noch in den 50er Jahren sei es vor allem um Versorgungssicherheit, also die Menge an Lebensmitteln gegangen. Es folgte eine Phase der Qualitätssicherung. Und heute sie die Zeit es Quantums: „Wir fragen heute nicht mehr nach dem Qualitätsproblem, sondern nach dem Quantum: Wann ist es genug?“, formuliert Hohler und spielt damit auf die Frage an, die jede*r von uns beim Erstellen des Speiseplans im Kopf haben sollte.
„Wir müssen ganz klein und ganz groß denken: Gleichzeitig mit den Achtjährigen gut, sauber und fair kochen lernen und die großen Schritte, von unseren Politikern einfordern“, sagt Nina Wolff. Und gleichzeitig natürlich den Genuss nicht vergessen. Denn, auch den ermöglicht eine Ernährung innerhalb der planetaren Grenzen. Die Formel weniger tierische, mehr pflanzliche Ernährung, etwa im Verhältnis 20:80, bedeutet nicht weniger Genuss. Nina Wolff sagt mit Blick auf Slow Foods Wirken: „Ich würde sagen, wir haben dafür einen lebens- und genussbejahenden Ansatz entwickelt.“ Denn am Ende führt nicht nur ein gesunder Planet zu einem gesunden Menschen, sondern auch eine Ernährung, die Freude bereitet.
Autor: Sven Prange