Drei Gründe, warum die Bundestagswahl eine Ernährungswahl ist
Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) hat in den vergangenen Jahren einige Menschen und Gremien mobilisiert: Eine Tierwohlkommission tagte. Eine Zukunftskommission sollte ein Leitbild der deutschen Landwirtschaft entwerfen. Und den Wissenschaftlichen Beirat gibt es ja auch noch, der sogar einen wegweisenden Bericht veröffentlichte. Nur, was bleibt am Ende dieser ganzen Kommissionen? Das Sterben von Höfen und Handwerksbetrieben bleibt ungebremst, der Beitrag der Landwirtschaft zum Klima- und Artensterben ist nicht gesunken, das Tierleid in vielen deutschen Ställen hält an und die EU-Agrarpolitik bleibt trotz vieler Ideen und immerhin einiger Verbesserungen im alten System verhaftet, statt im Interesse des Gemeinwohls konsequent den notwendigen Richtungswechsel zu vollziehen.
Dabei drängt die Zeit. Denn bei all diesen Problemen steuern wir immer schneller auf dramatische Kipppunkte zu: Wenn erst einmal zu viele Arten ausgestorben sind, werden ganze Ökosystem nicht zu retten sein. Wenn kleine, bäuerliche Betriebe nicht mehr da sind, wird man sie kaum neu gründen können; das Gleiche gilt für Lebensmittelhandwerker*innen. Überschreitet das Klima gewisse Grade, löst es unkontrollierbare Folgen aus. Und Lebensmittel und die Menschen, die sie erzeugen, sind sowohl Opfer als auch Ursache dieser planetaren Krisen. Nur: Die deutsche Politik adressiert das bisher zu wenig, und wenn, dann nicht strategisch genug.
Deswegen steht für Slow Food Deutschland und Slow Food Youth fest: Die nächste Bundestagswahl ist eine Ernährungswahl.
„Wir brauchen die Transformation jetzt“, sagt die amtierende Vorsitzende von Slow Food Deutschland, Nina Wolff. „Unser Ernährungssystem ist enorm wichtig für die Bewältigung von Klima- und Biodiversitätskrise, es ist grundlegend für die Gesundheit von Planet und Mensch. Die Situation ist dringend, wir müssen den Umschwung in den nächsten zehn Jahren schaffen, um biologische und kulturelle Vielfalt ernährungspolitisch abzusichern.“ Und der Vorstand von Slow Food Youth Deutschland sagt:„Für uns bedeutet das, dass wir jetzt mit der Wahl Themenschwerpunkte setzen müssen. Wir brauchen jetzt Veränderung hin zu einer umfassenden klimagerechten, nachhaltigen Land- und Lebensmittelwirtschaft. Mit der Slow-Food-Kampagne wollen wir besonders junge Menschen motivieren, sich mit der Ernährungspolitik auseinanderzusetzen und ihre Wahlmöglichkeit zu nutzen.“ Drei Gründe sprechen dafür, dass diese Anliegen in diesem politischen Superwahljahr 2021 ganz oben auf die Agenda gehören:
Klimakrise, Artenkrise und Bodenkrise verlangen jetzt Handlungen
Das Jahr 2020 zählte, wie schon die Jahre zuvor, zu den heißesten und trockensten der Geschichte. Gleichzeitig nimmt die Biodiversität ab, Zustand und Fruchtbarkeit unserer Böden verschlechtern sich – auch mitten in Deutschland. Das alles ist auch Ergebnis einer falschen Landwirtschafts- und Ernährungspolitik. „Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen unserer Ernährung und den großen planetaren Krisen“, sagt die Ulmer Systemökologin Simone Sommer. „Generell sind bei uns in Deutschland Lebensmittel zu billig, um nachhaltig produziert zu werden. Das ist der Punkt, an dem Politik einsetzen muss. Unsere gesamten Agrarsubventionen sind im Moment falsch geregelt.“
Das Höfe- und Handwerkssterben lässt sich nicht mehr lange umkehren
Auch die Strukturen, die eine nachhaltige Land- und Lebensmittelwirtschaft umsetzen und mit Leben füllen können, brechen ungebremst weg. Von 2010 bis 2020 haben zwölf Prozent der Bauernhöfe den Betrieb aufgegeben. Dabei fällt auf: Ausschließlich die Zahl der Kleinbetriebe schrumpft. Die Zahl der Betriebe, die zwischen 200 und 500 Hektar bewirtschaften, ist dagegen sogar um 30 Prozent gestiegen. Das gleiche gilt für das Lebensmittelhandwerk, das Rückgrat einer Ernährungswirtschaft, die biokulturelle Vielfalt schützt und eine gute, saubere und faire Lebensmittelproduktion sicherstellt. Egal ob Bäckereien, Metzgereien, Schlachtereien oder gut, sauber und fair arbeitende Gastronomien – die Zahl der Betriebe sinkt und sinkt. Das auch, weil Politik die Rahmenbedingungen so gesetzt hat, dass vor allem Großbetriebe und industrielle Strukturen profitieren.
Die Zeit von Anreizen und Selbstverpflichtungen ist abgelaufen
Selbst für den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeslandwirtschaftsministerium ist mittlerweile klar: Eine Politik, die im Bereich der Land- und Lebensmittelwirtschaft auf freiwillige Anreize und Selbstverpflichtungen der Wirtschaft setzt, ist gescheitert.
Im jüngsten Bericht des Gremiums renommierter Wissenschaftler*innen heißt es: Politik müsse sich trauen, „deutlich tiefer als bisher in dieses Feld einzugreifen“. Deutschland traue sich politisch bisher zu wenig, verbindliche Regeln zu setzen.
Und was macht Slow Food nun?
Für Slow Food Deutschland steht deswegen fest: Wir müssen Ernährungssysteme aufbauen, die widerstandsfähig gegen ökologische Krisen sind und sozialen Ausgleich schaffen. Und das muss eine zentrale Aufgabe der nächsten Bundesregierung sein. Eine inhaltliche Neuausrichtung der Regierung nach der Bundestagswahl böte die Gelegenheit, eine integrierte Ernährungspolitik zu verfolgen. Slow Food und Slow Food Youth Deutschland stellen deswegen im Mai sieben konkrete Forderungen vor, mit denen sie im Wahlkampf auf Politiker*innen zugehen werden. Dazu gehört, die Land- und Ernährungswirtschaft konsequent auf Klimaschutz umzustellen, Tiergesundheit und -wohlergehen endlich verbindlich zu fördern, die Vielfalt von Landschaft und Landwirtschaft sicherzustellen, Lebensmittelverluste zu minimieren – und das alles vor allem von Europa über den Bund bis in die Länder auf eine gemeinwohlorientierte und gemeinsame Grundlage zu stellen.
Symbolischer Kern der Kampagne „Zukunft würzen: für eine Ernährungspolitik, die schmeckt“ wird eine Gewürzmischung aus sieben Zutaten sein, die für die sieben Forderungen stehen. Zudem veranstaltet Slow Food Youth eine Reihe von Koch-Workshops, in denen die dringlichsten Forderungen verkocht werden. So dreht sich ein Kochkurs um das Thema Saatgutvielfalt, einer um Lebensmittelwertschätzung, ein anderer ums Klima. Schließlich, sagt der Slow-Food-Youth-Vorstand in Deutschland: „Wir wollen die Zukunft würzen. Uns geht es dabei um die nahe Zukunft nach der Bundestagswahl. Wir initiieren diese politische Kampagne zusammen mit Slow Food um uns für eine Ernährungspolitik einzusetzen, die schmeckt.“
In gemeinsamen Werkstattgesprächen mit dem Institut für Welternährung sollen die Inhalte und die institutionelle Ausgestaltung eines Politikfelds “Nachhaltige Ernährung” erörtert werden. Denn, so Slow Food und Slow Food Youth Deutschland einvernehmlich: “Allen Menschen muss der Genuss hochwertiger, umweltschonender und fair erzeugter Lebensmittel möglich sein.”
Autor: Sven Prange
Ko-finanziert von der Europäischen Union.
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