#ErnährungswendeAnpacken!

Ob bei Artenvielfalt, Boden, Klima, Menschen- oder Tiergesundheit: Unser Ernährungssystem hat uns an, teils über, unsere planetaren und gesellschaftlichen Belastungsgrenzen gebracht. Slow Food Deutschland setzt sich politisch und kulinarisch dafür ein, dieser Überlastung ein Ende zu setzen. Mit dem heute veröffentlichten Appell #ErnährungswendeAnpacken!# fordert Slow Food gemeinsam mit 14 anderen Organisationen die künftige Bundesregierung auf, den Grundstein für eine gesundheitsfördernde, umweltverträgliche, sozial gerechte und dem Tierwohl zuträgliche Ernährungspolitik zu legen. Die politischen Weichen dafür müssen jetzt, während der Koalitionsverhandlungen gestellt werden. Das Sondierungspapier zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP sieht vor, dass sich politisches Handeln künftig entlang der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDGs) ausrichtet. Dafür muss Ernährung als zentrales Politikfeld etabliert und ressortübergreifend gesteuert werden.

15 Dachorganisationen, Verbände und Fachgesellschaften aus den Bereichen Gesundheit, Soziales, Ernährung und Umwelt verlangen von der künftigen Bundesregierung, im Rahmen der Koalitionsverhandlungen den Grundstein für eine umfassende Ernährungswende zu legen.

In seiner aktuellen Form stellt unser Ernährungssystem die planetaren und gesellschaft­lichen Belastungsgrenzen zunehmend auf die Probe – hierüber besteht breiter Konsens. Eine umfassende Wende im aktuellen System ist dringend nötig: für den Klima­, Umwelt­und Gesundheitsschutz, für soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft und mehr Tier­wohl. Bislang ist die deutsche Ernährungspolitik völlig unzureichend und überlässt den Verbraucher:innen die alleinige Verantwortung. Notwendig ist daher eine Veränderung der Rahmenbedingungen, um gesundheitsförderndes und ökologisch nachhaltiges Essen für alle zu ermöglichen.

Belastungsgrenze Umwelt und Klima: Unsere gegenwärtigen Ernährungssysteme – vom Acker bis zum Teller gedacht – sind verantwortlich für 70 Prozent des Verlustes an biologischer Vielfalt, 80 Prozent der Entwaldung und für 70 Prozent des Wasserverbrauchs der Menschheit. Zudem verursachen Landwirtschaft und Landnutzung 21 bis 37 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen, größtenteils durch unseren hohen Konsum tieri­scher Produkte. Wir sind mit unseren derzeitigen Ernährungsgewohnheiten in Deutschland somit maßgeblich an den gravierenden Umweltproblemen unserer Zeit beteiligt: von der Klimakrise über das Artensterben bis hin zur Zerstörung der verbleibenden natürlichen Lebensräume.

Belastungsgrenze Gesundheit: Ob beim Einkaufen, in Kitas und Schulen, in Betrieben oder unterwegs: Es gibt zahlreiche Faktoren, die derzeit ein gesundes und nachhaltiges Einkaufen und Essen erschweren. Rund ein Viertel der Erwachsenen in Deutschland hat starkes Übergewicht (Adipositas) – Tendenz steigend. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen sind die Auswirkungen der bewegungsarmen Coronazeit zusätzlich sichtbar. Bereits heute hat jedes siebte Kind Übergewicht. Ernährungsmitbedingte Krankheiten, wie Diabetes, Herz­Kreislauf­ und Nierenerkrankungen, verursachen heute in Deutschland nicht nur Kosten in Milliardenhöhe, sondern vor allem auch viel Leid und vorzeitige Todes­fälle.

Belastungsgrenze soziale Gerechtigkeit: Es gibt erhebliche Ernährungsarmut in Deutschland. Eine gesunde, ausgewogene und nachhaltige Ernährung ist für Menschen mit geringem Einkommen oft nicht erschwinglich. Menschen, die auf existenzsichernde Leistungen wie „Hartz IV“ angewiesen sind, steht monatlich gerade einmal ein Betrag von 155 Euro für Nahrung und Getränke zur Verfügung. Gesundes, nachhaltiges Essen darf kein Privileg für einkommensstarke Haushalte sein, sondern ist ein Recht für alle.

Das Sondierungspapier zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP betont, dass sich das politische Handeln an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nati­onen (SDGs) ausrichten wird. Dazu gehört u. a. auch „die Armut zu beenden, Ernährungs-sicherheit und eine bessere Ernährung zu erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft zu fördern“ (SDG 2) sowie „nachhaltigen Konsum und Produktionsmuster sicherzustellen“ (SDG 12). Zentral für unseren Aufruf ist die Zusage im Sondierungspapier, „Vorsorge und Prävention zum Leitprinzip der Gesundheitspolitik zu machen“.

Für die Initiator:innen dieses Appells gehört eine gesundheitsfördernde, umweltverträg­liche, sozial gerechte und dem Tierwohl zuträgliche Ernährungspolitik zu den maßgeblichen Querschnittsaufgaben der politischen Akteur:innen in der kommenden Legislaturperiode. In den jetzt stattfindenden Koalitionsverhandlungen müssen daher umgehend die politi­schen Weichen gestellt werden.

Wir fordern die neue Bundesregierung und die Abgeordneten des 20. Deutschen Bundestages auf, die Ernährungspolitik als zentrales Politikfeld kohärent, wirksam und ressortübergreifend zu gestalten und die dafür nötigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Kernforderungen an die kommende Bundesregierung

1. Schaffung einer Zukunftskommission Ernährung: Ernährung geht uns alle an, und es ist wichtig, alle relevanten Perspektiven zu berücksichtigen. In die Zukunfts kommission Ernährung werden Praktiker:innen, Wissenschaftler:innen und gesellschaftliche Akteur:innen aus allen relevanten Bereichen und Berufsgruppen eingebunden. Aufgabe der Zukunftskommission ist es, bis Ende 2022 ein Leitbild für eine sozial gerechte, gesundheits­fördernde, umweltverträgliche und dem Tierwohl zuträgliche Ernährung in Deutschland zu entwickeln. Grundlage des Leitbildes sind die planetaren Belastungsgrenzen.

2. Erarbeitung einer ressortübergreifenden Ernährungsstrategie: Die Bundesre­gierung verabschiedet Anfang 2023 eine ressortübergreifende Strategie, die alle vier Nach­haltigkeitsdimensionen – Gesundheit, Soziales, Umwelt und Tierwohl – beinhaltet sowie die planetaren Grenzen respektiert. Dazu gehört auch die zukünftige Gewährleistung von fairen Arbeitsbedingungen in allen ernährungsrelevanten Berufen und entlang der gesam­ten Lieferkette. Zentrale Vorarbeiten hierfür leistet die Zukunftskommission Ernährung.

3. Lebensmittelbesteuerung auf den Prüfstand: Bis 2022 überprüft die Bundesre­gierung die Lebensmittelbesteuerung auf ihre Wirkung in Bezug auf eine sozial gerechte, gesundheitsfördernde, umweltverträgliche und dem Tierwohl zuträgliche Ernährung und erarbeitet konkrete Vorschläge. Ziel ist es, dass zukünftig die gesunde und nachhaltige Wahl die einfache und günstigere Wahl ist.

4. Sozial gerechte Ernährungspolitik: Eine Ernährungswende darf nicht dazu führen, soziale Ungleichheiten zu verstärken, sondern muss vielmehr dazu führen, dass eine ge­sundheitsfördernde und nachhaltige Ernährung allen Menschen ermöglicht wird. Dies gilt insbesondere für einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen. Die Höhe der Sozial­leistungen muss entsprechend angepasst und die soziale Abfederung neuer Maßnahmen von Anfang an mitgedacht werden.

5. Ernährungskompetenz fördern: Ernährungsbildung, Ernährungsberatung und Ernährungstherapie gilt es, im Sinne einer sozial gerechten, gesundheitsfördernden und umweltfreundlichen Ernährungskompetenz zu stärken. Dies gilt auch für die Ausbildung pädagogischer und gastgewerblicher Berufe, wie z. B. Erzieher:in, Lehrer:in oder Koch/Köchin. Ernährungsberatung und Ernährungstherapie sollten zukünftig niedrigschwellig allen zur Verfügung stehen.

6. Augenmerk auf Ernährung im Gesundheitswesen: Ziel der Ernährungswende muss es sein, die Versorgung und Befähigung von Menschen mit besonderen Ernährungsbe­dürfnissen zu gewährleisten. Es gilt, die Qualifizierung und Verankerung von Ernährungs­bildung und Ernährungstherapie im Gesundheitswesen systematisch zu verbessern.

7. Gutes Essen bei der Gemeinschaftsverpflegung: Die Qualitätsstandards der Deut­schen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für die Gemeinschaftsverpflegung werden evidenz­basiert und zeitnah mit Blick auf die planetaren Grenzen weiterentwickelt und als Mindest­standards flächendeckend in den verschiedenen Lebenswelten umgesetzt. Kitas, Schulen, Betriebe, Krankenhäuser, Pflege­ sowie Senioren­ und Rehaeinrichtungen müssen in die Lage versetzt werden, für eine gesundheitsfördernde und nachhaltige Ernährung zu sorgen. Dies muss durch Sozialkassen und Steuermittel refinanziert werden.

8. Vorbild öffentliche Kantinen: Öffentliche Einrichtungen müssen Vorreiter für eine nachhaltige und gesunde Ernährung und bei der Schaffung von Märkten für nachhaltige Produkte und Dienstleistungen sein. Dazu gehören die sukzessive Erhöhung des Anteils an Bioprodukten (50 Prozent bis 2030) sowie verpflichtende Maßnahmen zur Messung und Vermeidung von Lebensmittelabfällen.

9. Verbindliche Regulierung von (an Kinder gerichteter) Lebensmittelwerbung: Kinder sehen in Deutschland im Durchschnitt 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel pro Tag – trotz unverbindlicher Versprechungen der Werbeindustrie, solche Produkte nicht gegenüber Kindern zu bewerben. Deshalb braucht es verbindliche gesetzliche Regeln, um Kinder in allen medialen Formaten – einschließlich Social Influencing – vor Werbung für ungesunde Lebensmittel zu schützen. Auch Werbung für Erwachsene muss stärker reguliert werden.

10. Mehr nachhaltig produziertes Obst und Gemüse: Der nachhaltige Anbau von Obst, Gemüse, Nüssen und Hülsenfrüchten in Deutschland muss verstärkt gefördert und die Erzeuger:innen müssen unterstützt werden, um eine ausgewogene und nachhaltige pflan­zenbasierte Ernährung in Deutschland zu ermöglichen.

Eine echte Ernährungswende für alle kostet Geld und kann nur gelingen, wenn auch die Finanzierung sozial gerecht gestaltet wird. Einkommensschwache Haushalte dürfen keine zusätzliche Belastung erfahren. Eindeutig ist aber auch: Nicht zu handeln kostet ebenfalls: Geld, Gesundheit und Zukunft.

Die Initiator:innen des Appells treten gemeinsam an die Öffentlichkeit, um die Notwendig­keit und Dringlichkeit von #ErnährungswendeAnpacken! aufzuzeigen und dafür einzu­treten. Weitere Verbände und Organisationen sind herzlich eingeladen, der Initiative beizu­treten. Machen Sie mit! Es gilt, keine Zeit zu verlieren!

Es muss jetzt gehandelt werden. Für uns, unsere Gesundheit und unseren Planeten!

Den gesamten Appell inklusive einer Übersicht über die beteiligten Organisationen finden Sie noch einmal >> hier.

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