Mehr Wertschätzung, bessere Wertschöpfung: Damit aus „bio“ biokulturelle Vielfalt wird
Die Bio-Branche kann Glück und Zuneigung kaum fassen. Um 22 Prozent ist der Verkauf von Bio-Lebensmitteln in Deutschland im vergangenen Jahr gestiegen. Und das passt gut zu vielen politischen Zielen: Ob Europäische Union, Bundesregierung oder verschiedene Landesregierungen: Auf allen Agenden steht der Ausbau der Bio-Landwirtschaft, bei der Landwirt*innen auf chemische Pestizide und synthetische Dünger verzichten, ganz weit oben. Zwischen 20 und 40 Prozent statt heute um die zehn Prozent soll der Anteil der Bio-Landwirtschaft in Deutschland im nächsten Jahrzehnt betragen.
Alles gut also in der Landwirtschaft? Nun, je nachdem, fanden die Teilnehmer*innen eines Podiums von Slow Food Deutschland auf der weltgrößten, virtuellen, Bio-Messe Biofach. „Wir begrüßen natürlich das Plus an ökologischen Produkten, möchten aber auch ein Risiko in den Blick zu nehmen“, sagte die amtierende Slow Food-Deutschland-Vorsitzende Nina Wolff. „Das Wachstum könnte zu den gleichen Irrtümern führen, die aus dem konventionellen Bereich schon bekannt sind.“ Die Sorge dahinter: Wächst der Bio-Anbau in Deutschland ungesteuert weiter, könnte die höhere Produktion in gleichbleibender Qualität zu mehr Uniformität führen. „Wenn der Anteil ökologischer Produkte nun wächst, würden wir uns eine detailliertere Strategie auch zu der Frage wünschen, wie die Vielfalt erhalten und die vielfältigen Beziehungen von Menschen, Tieren, Umwelt in der Region gewahrt werden können“, sagte Wolff deswegen.
Öl aus der eigenen Mühle und „bayerischer Reis“
Die gute Nachricht ist: Beispiele für eine regionale gute Praxis liegen schon vor. Etwa Chiemgaukorn, ein biologisch arbeitender Hof einer jungen Familie im gleichnamigen, bayerischen Landstrich. Hier haben Julia Reimann und Stefan Schmutz bereits vor eineinhalb Jahrzehnten auf heute noch immer wegweisende Konzepte gesetzt. Deren Kern: der Rückgriff auf alte, besondere Sorten im Anbau und Direktvermarktung im Verkauf. „Als es losging, dass sich auch Biopreise am Weltmarkt orientieren, haben wir keine Chance gesehen, damit arbeiten zu können“, sagte Julia Reimann. „Da haben wir dann aus der Not heraus begonnen, uns um die Direktvermarktung zu kümmern.“
Weil zudem niemand ihre Leinsamen und Dinkel verarbeiten wollte, kaufte das Paar eine Ölmühle und baute nach und nach seine Möglichkeiten aus, die Produkte der eigenen Felder weiter zu verarbeiten. Heute gibt es im Hofladen und im Online-Shop Öle aus eigenem Anbau und eigener Pressung genauso wie bayerischen Reis, eine Urgetreide-Mischung mit leicht angeschliffenen Schalen, sodass sich die Körner wie Reis zubereiten lassen.
Regionale Handwerker*innen und Landwirt*innen vernetzen
Ein Musterbeispiel an regionaler Wertschöpfung. Daran wollen Verbände, Handwerker*innen und Aktive bundesweit anknüpfen. Etwa die Regionalwert AG, die derzeit mit Gesellschaften in Freiburg, Hamburg, Rheinland und Berlin-Brandenburg solche regionalen Wertschöpfungskreisläufe fördert und mit Hilfe von Bürger*innen finanziert. Deren Berlin-Brandenburger Vorstandsmitglied Jochen Fritz verwies vor allem auf die Rolle der Handwerksbetriebe für die Vielfalt: „Ich kann die tollsten Sachen anbauen, wenn es dafür keine Verarbeitung gibt, fallen die Landwirt*innen wieder auf die herkömmlichen Produkte zurück. Wir brauchen eine Vielfalt auf dem Acker, an Höfen und in der Verarbeitung.“ Oder, wie Jens Witt, Leiter der Slow Food-Köch*innen-Vereinigung Chef Alliance, sagte: „Ich fühle mich wie ein Landwirt auch als Teil einer Kette. Wenn es keine Metzgerei in der Nähe gibt, kann mich der Bauer auch nicht beliefern."
Entsprechend sehen auch die Bio-Verbände ihre Aufgabe darin, Landwirt*innen, Handwerker*innen und Verbraucher*innen in den Regionen besser zu vernetzen. „Das Wachstum von Bio ist nicht nur gewollt, wir unterstützen es auch aktiv“, sagte der geschäftsführende Vorstand des Anbauverbandes Demeter Baden-Württemberg, Tim Kiesler. „Aber dieses Wachstum wollen wir nicht durch Betriebe erreichen, die einfach nur hemmungslos skalieren.“
Kiesler verwies auf eine Studie, die das Land Baden-Württemberg zur Bekräftigung seines Ziels, den Öko-Landbau bis 2030 auf mehr als 30 Prozent zu verdoppeln, vorgelegt hat. Demnach hat Baden-Württemberg vor allem deswegen so gutes Potenzial, weil dort im Bundesvergleich die Struktur an Betrieben des Lebensmittelhandwerks noch vergleichsweise intakt sei. „Wir bewahren und schaffen Biodiversität nur in regionalen Netzwerken“, sagte Kiesler. „Weil Wertschöpfung dort unter persönlichen Beziehungen stattfindet und so fairer Umgang und der Genuss in der Region stattfinden. Nur so kann Bio seine Wachstumsziele erreichen, ohne dabei verwässert zu werden.“
Die Realität: Höfe- und Handwerkssterben
Das Problem ist: Die Entwicklung läuft bundesweit gegensätzlich. „Es gibt neben dem Höfesterben auch ein Handwerkersterben“, sagte Fritz. Deswegen müsste nicht nur die Zusammenarbeit der Betriebe in den Regionen untereinander gestärkt werden. „Wir müssen die Berufe auch attraktiver machen“, sagte Fritz. „Die Winzer haben das geschafft, die sind mittlerweile die coolsten Typen. In Berlin gibt es auch coole Metzger, aber wir finden niemanden, der in Brandenburg ein Schlachthaus betreiben will. Die Finanzierung ist ja nicht das Problem, sondern die guten Leute zu finden.“
Das knüpft auch an die Arbeit von Slow Food an. Der Verein will in Deutschland Bioanbau und Biokulturelle Vielfalt weiter zusammenbringen. „Die Wertschätzung muss über allem stehen, und zwar die Wertschätzung für jeden einzelnen Schritt in der Lebensmittelerzeugung“, sagte Nina Wolff. „Ich würde mir wünschen, dass wir einen systemischeren Blick entwickeln. Wir müssen gemeinsam eine vielfältige, aber auch solidarische und lebensfreundliche Ernährungswelt kreieren.“
Autor: Sven Prange