Nur ein gesundes System schafft gesunde Lebensmittel – Mit der Gemeinwohlökonomie zu einer besseren (Land-)Wirtschaft
Viele Jahre hat Christoph Simpfendörfer mit seiner Frau den Reyerhof in Stuttgart zu einem vorbildlich-nachhaltigen Bio-Bauernhof aufgebaut. Als der Landwirt den Betrieb vor einigen Jahren an Nachfolger übergeben wollte, stellte er sich dennoch einige sehr grundsätzliche Fragen: „Wo stehen wir, wo haben wir entwickelt, wo gibt es Herausforderungen?“
Um diese zu beantworten, erstellte er eine Bilanz nach der Methode der Gemeinwohlökonomie, die einen ganzheitlich-ökonomischen Ansatz verfolgt. „Entwicklungspotenzial gab es demnach in zwei Bereichen“, sagt Simpfendörfer. „Bei der Mitbestimmung und bei der Mobilität.“
„Wir waren früher meine Frau und ich, heute arbeitet auf dem Hof eine Betriebsgemeinschaft mit viel Mitbestimmung. Und wir haben damals festgestellt, dass viel Diesel im Betrieb verbraucht wurde, als Konsequenz haben wir eine Lastenfahrrad angeschafft“, sagt der Landwirt, der heute Geschäftsführer des Internationalen Demeter Dachverbandes ist. Für Simpfendörfer ist klar: „Die Gemeinwohl-Ökonomie-Bilanz ist kein Marketinginstrument nach draußen, sondern ein Analyseinstrument nach innen.“ Und eine Möglichkeit, auch im Bereich der nachhaltigen Lebensmittelwirtschaft ein neues Level zu erreichen.
Das jedenfalls ist der Eindruck nach einer Veranstaltung von Slow Food Deutschland (SFD) zusammen mit der Gemeinwohlökonomie-Bewegung (GWÖ) und der niedersächsischen Bio-Fruchtsaftkelterei Voelkel. Während dieser diskutierten Simpfendörfer, Voelkel-Einkaufschef Boris Voelkel, der GWÖ-Sprecher Ole Müggenburg und Stella Diettrich von Slow Food über Chancen und Möglichkeiten eines neuen, gemeinwohlorientierten Wirtschaftssystems.
Gutes begünstigen, Schlechtes sanktionieren
„Wir müssen dafür sorgen, dass gemeinwohlorientiertes Agieren belohnt wird“, fasst Ole Müggenburg den Leitgedanken einer neuen Ökonomie zusammen. „Das müssen wir systemisch machen und nicht einfach nur das Label fair oder so draufkleben, wie das derzeit viele Start-ups machen.“ Im Mittelpunkt stände ein neues Verständnis von Geld: „Geld ist ein Mittel, um das Gemeinwohl zu vermehren“, sagt Müggenburg.
Entsprechend treten die Unternehmen, die ihre Arbeit an der Gemeinwohlökonomie ausrichten, für eine andere Art von Gewinn an: Sie bilanzieren auch ihre ökologischen und sozialen Leistungen und nicht lediglich den finanziellen Reingewinn.
Wie sehr das mit den Zielen und Forderungen von Slow Food übereinstimmt, verdeutlichte SFD-Vorsitzende Nina Wolff. Denn der Sekundärnutzen ökologischer Landwirtschaft wird immer wichtiger. Das „Was ist gesund für mich?“ ist gerade in Zeiten globaler Pandemien von großer Bedeutung, aber das „Was ist gesund für meine Umwelt?“ wird immer wichtiger. Dass Menschengesundheit und Planetengesundheit unmittelbar zusammenhängen, ist ein zentrales Leitmotiv von Slow Food.
Sprich: Gesunde Lebensmittel entstehen nur in einer ökologisch, sozial und ökonomisch gesunden Welt. Deswegen gilt es, bei Lebensmittelkaufentscheidungen nicht nur die Auswirkungen auf die eigene Gesundheit, sondern auch die sozialen und ökologischen Folgen im Blick zu haben. Und das gelingt am besten, wenn nicht nur jede*r Einzelne eine verantwortungsvolle Kaufentscheidung trifft, sondern auch das System dieses unterstützt. Die Idee der Gemeinwohlwirtschaft will das erreichen.
„Das Modell der Gemeinwohlökonomie verspricht eine ethische Marktwirtschaft“, sagt Nina Wolff. „Es geht um Werte: Menschenwürde, Solidarität, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit. Es geht um Kooperation im Gegensatz zu Konkurrenz. Es geht um Verantwortung. Stark vereinfacht also darum, dass es allen gut geht, weil das das übergeordnete Ziel ist.“
Samenfeste Sorten als Beitrag zu einer gerechten Wirtschaft
Praktisch verdeutlichen lässt sich das etwa an samenfesten Gemüsen. „Also Sorten, deren Samen Allgemeingut sind und die auf Ernährungsqualität, Geschmack und Inhaltsstoffe gezüchtet sind“, erklärt Christoph Simpfendörfer. „Der Gegensatz zu den gängigen Hybridsorten der Industrie.“ Diese sind nämlich nicht nur oft einseitig auf maximalen Ertrag gezüchtet, sondern werden durch Patente so geschützt, dass kleine Landwirtschaftsbetriebe in Abhängigkeit zu großen Saatgutkonzernen geraten. Alles andere als sozial und ökonomisch nachhaltig.
Demgegenüber steht das Engagement vieler Landwirt*innen seit einigen Jahren, wieder vermehrt samenfeste Sorten anzubauen. Viele davon sind nicht nur robuster gegenüber Einflüssen von außen. Sie garantieren den Höfen eben auch eine wirtschaftliche Unabhängigkeit von großen Konzernen.
Die Familie Voelkel versucht bei ihren Gemüsesäften seit Jahren, den Anteil samenfester Sorten weiter auszubauen, und ist dabei ganz schön weit gekommen. Überhaupt sieht sich die Familie – Vater Stefan, seine Söhne Jacob, Boris und Jurek sowie der Finanzer Christian Harder teilen sich die Geschäftsführung – als verantwortlicher Teil eines Netzwerkes aus Erzeuger*innen und der Firma Voelkel als Verarbeiter, dessen einzelne Teile in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander stehen. Eine Abhängigkeit, die vor allem durch Vertrauen ausgestaltet wird.
Mehr Gemeinsinn als Gewinn
„Die Bio-Lebensmittelwirtschaft kann sich nicht nur auf ihrer Ebene weiterentwickeln“, sagt Boris Voelkel. Und meint damit: Es reicht nicht, ständig ökologisch bessere oder besser verarbeitete Lebensmittel in den Markt zu bringen. „Wir müssen eine ganz neue Art zu wirtschaften an den Tag legen“, sagt er.
Er verdeutlicht das am Beispiel Most-Äpfel. Ein schwieriger Markt für viele Erzeugende. Zum Überleben brauchen sie mindestens mehr als 30 Cent pro Kilo. Die Marktpreise für Bio-Mostäpfel schwanken aber zwischen 20 und 40 Cent, manchmal liegen sie auch unter 20 Cent. „Wir gehen nie unter 30 Cent“, sagt Voelkel. Und berichtet, wie das die eigene Firma manchmal belastet, wenn man monatelang bis zum doppelten des gerade aktuellen Marktpreises zahlt und so gegenüber den Wettbewerbern einen Kostennachteil hat. „Da wird man schon mal nervös“, sagt Voelkel.
Obwohl sie in manchen Jahren so bei einzelnen Produkten draufzahlt, hält die Familie bisher an dem Prinzip fest. „Auch weil wir Kunden haben, die das mittragen“, sagt Voelkel. „Und es funktioniert auch andersherum: Als sich vor einiger Zeit der Preis für Holunder verdreifachte, weil die Nachfrage aus den USA so anzog, haben unsere Lieferanten die Preise für uns nicht so erhöht. Das hat mich positiv erschüttert.“
Nur: Woran erkennen Kundinnen und Kunden, ob ihre Lebensmittel nachhaltig erzeugt wurden oder nicht? „Es geht uns nicht darum, dass wir auf allen Lebensmitteln ein Label mit GWÖ haben“, sagt Ole Müggenberg. „Wir wollen den Gedanken in die Welt tragen.“ Ein Indiz seien die Label der großen Bio-Anbauverbände, die sich zumindest ansatzweise mit ganzheitlichen Nachhaltigkeitsgedanken beschäftigen. Auch Lebensmittel, die ihre Entstehungsgeschichte so transparent wie möglich machen, sind zu empfehlen.
Als dynamisches Konzept begünstigt die Gemeinwohl-Ökonomie stets weitere Verbesserungen mit Blick auf das Ziel einer besseren (Land-)Wirtschaft.