Selbstversorgung: Gesunde Ernährung aus heimischer Landwirtschaft
In Deutschland lässt sich trefflich speisen: regional, köstlich und „gesund“. Mit Lebensmitteln, die aus einer vielfältigen, ökologischen Landwirtschaft stammen, mit artgerecht gehaltenen Tieren.
Schön, wenn alle Menschen auf ein solches im Slow-Food-Sinne gesundes Essen Wert legen würden. Schlecht, dass in diesem Fall gar nicht genug für alle da wäre. Denn schon jetzt importiert Deutschland jede Menge Obst und Gemüse, weil die eigene Produktion bei Weitem nicht ausreicht.
Von Hülsenfrüchten und Nüssen gar nicht zu reden. Im Übermaß dagegen erzeugen Deutschlands Landwirt*innen Fleisch, Milch und Zucker. In Mengen, die weder für den Einzelnen noch für den Planeten gesund sind.
Wie eine für unsere Erde gesunde Ernährung aussehen könnte, hat 2019 die Eat-Lancet-Kommission mit ihrer »Planetary Health Diet« gezeigt. Sie empfiehlt eine weitgehend Pflanzliche Ernährungsweise, der man sich nach Slow-Food-Meinung nicht radikal verschreiben muss. „Für uns sind diese Empfehlungen ein spannender Kompass, der unterstreicht: Wir kommen um mehr Pflanzliches und weniger Tierisches nicht umhin, wenn wir die Welt ohne Labor-Essen gut ernähren wollen“, sagt Nina Wolff, amtierende Vorsitzende von Slow Food Deutschland. Nach Ansicht der Eat-Lancet-Kommission müsste die/der deutsche Durchschnittsesser*in drei Viertel weniger Fleisch, vier Fünftel weniger Eier und ein Viertel weniger Milchprodukte zu sich nehmen. Stattdessen stünden jede Menge Vollkorngetreide, Obst, Gemüse und Nüsse auf dem Speiseplan, dazu reichlich Hülsenfrüchte als Eiweißlieferant. Doch woher soll dieses Essen kommen? Im Moment produziert die deutsche Landwirtschaft nicht das, was nötig wäre.
Fleisch für den Weltmarkt
Deutschland ist nicht nur bei Maschinen und Geräten Exportweltmeister, sondern auch bei einigen tierischen Lebensmitteln. So wuchsen 2019 in Deutschland 53 Millionen Mastschweine heran und wurden geschlachtet. Die Hälfte von ihnen wurde als tiefgefrorene Hälften oder weiterverarbeitet zu Fleisch- und Wurstwaren exportiert. In andere EU-Staaten aber auch weit darüber hinaus. Bei Rind- und Geflügelfleisch ging je rund ein Drittel der heimischen Erzeugung ins Ausland. Die vier Millionen Milchkühe in Deutschlands Ställen lieferten 2019 insgesamt 32,4 Millionen Tonnen Milch, die von den Molkereien verarbeitet wurde. Die Hälfte dieser Milch wurde exportiert, vor allem als Milchpulver. All diese Tiere brauchen Nahrung und so ist es wenig verwunderlich, dass auf 60 Prozent der deutschen Ackerfläche Tierfutter wächst, vor allem Mais und Getreide. Doch das reicht nicht. Hinzu kommen noch mehr als drei Millionen Tonnen eiweißreicher Sojaschrot aus süd- und nordamerikanischen Monokulturen, die Deutschlands Landwirt*innen jedes Jahr an ihre Tiere verfüttern.
Viel zu wenig Obst und Gemüse
Ein erster Schritt zu einer planetengesunden Landwirtschaft wäre ein deutlicher Abbau der Tierbestände. Dies würde viel Futter-Ackerfläche freimachen für andere Erzeugnisse. Das wäre auch dringend nötig, denn bei den pflanzlichen Lebensmitteln klafft eine große Lücke. Das Bundesamt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) hat für das Wirtschaftsjahr 2018/19 bei Gemüse einen Selbstversorgungsgrad von 36 Prozent und für Obst von 22 Prozent ermittelt. Dieser Selbstversorgungsgrad ist im Prinzip ein einfacher Dreisatz: Man nehme die in Deutschland im Wirtschaftsjahr 2018/19 erzeugte Menge, etwa an Äpfeln. Das waren laut BLE 1 119 000 Tonnen. Diese Zahl wird durch die Menge an verbrauchten Äpfeln – frisch und verarbeitet – von 2 319 000 Tonnen geteilt. Das ergibt 0,48, also einen Selbstversorgungsgrad von 48 Prozent. Die anderen 52 Prozent wurden importiert, aus dem nahen Südtirol ebenso wie aus Neuseeland.
Dieser Selbstversorgungsgrad schwankt jedes Jahr. Je nachdem wie die Apfelernte ausfällt waren es auch schon 32 oder 60 Prozent. Damit liegen die Äpfel beim Obst in Sachen Selbstversorgung an der Spitze, gefolgt von Pflaumen, Erdbeeren und Johannisbeeren. Schon bei Birnen und Kirschen sinkt der Eigenanteil auf 20 Prozent. Aprikosen, Pfirsiche und Zitrusfrüchte sowie alle Trockenfrüchte kommen komplett aus dem Ausland, Bananen und Ananas sowieso. Für bio gilt das im Prinzip ebenso, auch wenn der Selbstversorgungsgrad bei Äpfeln 2018/19 bei 80 Prozent lag.
Gemüse aus dem Süden
Beim Gemüse können wir Deutschen uns zumindest bei Weiß und Rotkohl selbst versorgen, bei Sellerie reicht es fast und bei Lauch, Rüben, Kopfsalat und Blumenkohl kommen jeweils 70 Prozent von deutschen Betrieben. Bei den Zwiebeln wächst mehr als die Hälfte bei uns und ansonsten helfen die Niederlande und Spanien aus. Doch im Frühjahr, wenn die Lager leer werden und die neuen Zwiebeln noch wachsen müssen, kommt der Ersatz aus Ägypten oder Neuseeland. Was den Gemüse-Versorgungsgrad nach unten reißt, sind Fruchtgemüse wie Tomaten, Zucchini und Paprika, die fast komplett importiert werden. Gerade mal vier Prozent aller gegessenen Tomaten werden auch hier angebaut, die anderen kommen aus Italien, Spanien und den Niederlanden zu uns. Bio steht beim Fruchtgemüse etwas besser da, weil in den letzten Jahren mehrere große Bio-Gewächshäuser gebaut wurden. Doch auch hier kommt der Großteil an Tomaten & Co. aus dem Ausland.
Gründe für die geringe Selbstversorgung gibt es mehrere: Der Freilandanbau ist durch das Wetter beschränkt und nicht jedes Erzeugnis lässt sich über Monate lagern. Das Gefühl für Saisonalität
ist vielen Verbraucher*innen verloren gegangen. Schließlich gibt es im Laden immer alles zu (fast) jeder Zeit. Doch kommen diese Produkte dann eben aus Ländern mit viel Sonne wie Spanien oder Ägypten oder gleich vom anderen Ende der Welt, wo Sommer ist, wenn es bei uns schneit. Auch der Preis spielt eine Rolle: Arbeiter*innen in Polen oder auf dem Balkan ernten Äpfel, Zwetschgen und Beeren viel billiger als deutsche Betriebe. Ein Großteil des Obstes für die Verarbeitung kommt tiefgefroren von dort, bio und konventionell.
Eiweiß aus heimischem Anbau
Wenn die Deutschen weniger tierisches Eiweiß essen sollen, brauchen sie eine andere Eiweißquelle. Hier bieten sich Bohnen, Erbsen, Linsen und andere Hülsenfrüchte an, die hierzulande kaum noch erzeugt werden. Zwar hat sich die Anbaufläche in den letzten sechs Jahren auf 220 000 Hektar verdoppelt. Doch dort wachsen vor allem Ackerbohnen, Futtererbsen sowie Lupinen und Sojabohnen, die verfüttert werden. Nur ein geringer Teil kommt auf den Teller, meist zu Fleischersatzprodukten verarbeitet. Buschbohnen und Erbsen aus den Gärtnereien decken einen Teil des saisonalen Bedarfs. Getrocknete Bohnen kommen fast komplett aus dem Ausland. Das gilt übrigens trotz vieler Walnussbäume und Haselsträucher auch für Nüsse. Die Zahlen zeigen, wieviel zu tun ist, damit wir uns von einer regionalen Vielfalt pflanzlicher und tierischer Nahrungsmittel ernähren können, die tatsächlich gut, sauber und fair erzeugt und verarbeitet wurden. Da ist politischer Wille und staatliche Förderung gefragt, denn es fehlt an passenden Verarbeitungsstrukturen und an Erfahrung im Anbau ebenso wie an fairen Wettbewerbsbedingungen. Doch es gibt viele Beispiele, die zeigen was mit Engagement möglich ist.
Nachmachen erwünscht
Netzwerke von Biogärtnern wie Dreschflegel kümmern sich um die Erhaltung alter Gemüsesorten. Deren Vielfalt braucht es, um geschmackvolle und regional angepasste Sorten zu züchten, die auch mit schwierigen klimatischen Bedingungen fertig werden. Es waren Biobäuer*innen auf der Schwäbischen Alb, die den Arche-Passagier Alblinse aus einer russischen Genbank zurückholten und den Linsenanbau wieder heimisch machten. Andere begannen damit, in Brandenburg wieder Hirse anzubauen oder brachten mit der Lupine eine neue Hülsenfrucht auf den Teller. Deutsche Biolandwirt*innen haben sich auch an Senf und Sonnenblumen herangetraut, die bisher weitgehend importiert werden.
Es braucht auch regionale Strukturen, um diese Erzeugnisse zu verarbeiten. Zahllose Molkereien, Mühlen, Schlachthöfe oder Ölpressen sind in den letzten fünfzig Jahren dem »Wachsen oder Weichen«, der industriellen Ernährungswirtschaft, zum Opfer gefallen. Auch hier gibt es Beispiele eines Wandels: Stadtmolkereien in Bürgerhand, Metzger*innen und Kommunen, die wieder örtliche Schlachthäuser eröffnen, regionale Ölpressen und alte Mühlen, die ihre Zukunft mit regionalem Getreide sichern. Solidarische Landwirtschaften schießen wie die Pilze aus dem Boden und verbinden Verbraucher*innen und Biolandwirt*innen.
Bei all diesen Initiativen vor Ort darf die größte Stellschraube nicht vergessen werden: die EU-Subventionen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Expert*innen aus Wissenschaft, Umweltschutz und Bio-Verbänden sind sich seit Jahren einig: Gefördert werden sollen die Leistungen der Landwirt*innen für das Gemeinwohl und nicht wie bisher pauschal die bewirtschaftete Fläche. Die Zutaten also wären angerichtet. Nun muss gekocht werden.
Autor: Leo Frühschütz; erschienen im Slow Food Magazin Ausgabe 6, 2020