Vielfalt auf der Wiese, Vielfalt im Glas: Streuobst kann mehr als nur Saft
Über 5.000 Tier- und Pflanzenarten sind auf Streuobstwiesen zu Hause, die Artenvielfalt dort ist immens groß. Außerdem finden sich hier oft ganz alte Obstsorten, die im modernen Anbau keine Rolle mehr spielen: der spät reifende Winterapfel Ontario zum Beispiel oder die Schweizer Wasserbirne mit ihrer hohen Saftausbeute. „Es gibt über 3.000 Sorten auf Streuobstwiesen, das ist ein wichtiges Genreservoir“, schwärmt Martina Hörmann, Vorsitzende des Vereins Hochstamm Deutschland, eine der Teilnehmer*innen an der Online-Gesprächsrunde von Slow Food Deutschland „Für eine neue Streuobstkultur“.
Dank des engagierten Hochstamm-Vereins und vieler weiterer Unterstützer*innen hat es der Streuobstanbau immerhin geschafft, im März 2021 in das Bundesweite Verzeichnis Immaterielles Kulturerbe der UNESCO eingetragen zu werden. Doch mehr als eine symbolische Wertschätzung dieser über die Jahrhunderte gewachsenen landwirtschaftlich-kulturellen Praxis ist das nicht – der Aufnahme in das Verzeichnis folgen nicht automatisch rechtliche Konsequenzen wie beispielsweise ein Bestandsschutz von Streuobstwiesen.
Streuobstwiesen nur auf dem Papier geschützt?
Und so haben Besitzer*innen und Vermarkter*innen von Streuobst häufig immer noch Probleme, die Flächen zu bewahren. Und das, obwohl es – anders als früher – inzwischen wieder viele Menschen gibt, die sich für den Erhalt und die Pflege der Wiesen und Bäume mit Geld und Arbeitskraft engagieren. „Die Situation in Baden-Württemberg ist geradezu absurd“, berichten beispielsweise Dr. Günther Schäfer und Sabine Seeliger, die die Stahringer Streuobstmosterei in Radolfzell gegründet haben und betreiben. „Noch nie war der Schutz von Streuobstwiesen von politischer Seite so hoch angesiedelt, das ist durchaus ehrenwert. Nur leider erweisen sich die Gesetze und Verordnungen als Papiertiger.“ Schäfer erzählt von einem seiner Zulieferer, auf dessen Wiese nun 18 Einfamilienhäuser entstehen sollen. „Der Siedlungsdruck hier am Bodensee ist enorm groß, da erteilt die Untere Naturschutzbehörde dann eben entsprechende Ausnahmegenehmigungen, egal was auf Landesebene entschieden wurde.“
Ein zweites großes Problem sehen Schäfer und Seeliger im Plantagenobst, das auch im ökologischen Anbau üblich ist. Heute würden dort spezielle Sorten angebaut, die besser schmecken als die früher üblichen Bio-Früchte, die Flächen maschinell bewirtschaftet, die Ernte von billigen Saisonkräften eingebracht. All das mache die Vermarktung von Streuobst schwieriger und gefährde damit auch die alten Bestände sowie die Kultur des Streuobstanbaus.
Tim Kiesler, geschäftsführender Vorstand bei Demeter Baden-Württemberg, ist sich des Problems durchaus bewusst. Für ökologische Anstrengungen und Bemühungen werde oft nicht der angemessene Preis verlangt bzw. gezahlt. Den Käufer*innen müsse durch gutes Marketing klar gemacht werden, dass hinter den Produkten mehr steht, als man auf den ersten Blick im Regal sieht. Und auch die ökologischen Anbauverbände könnten durchaus mehr tun, um Streuobstinitiativen und -wiesen zu unterstützen. Man müsse aber auch sehen, dass sich Demeter-Landwirt*innen ebenfalls am Markt behaupten müssten.
Ein eigenes Qualitätszeichen für Streuobstprodukte
„Die beste Chance, die wertvollen Streuobstflächen zu erhalten, liegt in einer guten Wertschöpfung“, findet Martina Hörmann. Folgerichtig berät der Verein Hochstamm Deutschland auch Initiativen, die mit den Früchten der hochwachsenden Apfel-, Birnen-, Kirsch- und Pflaumenbäume Geld verdienen wollen. Und arbeitet an den Kriterien eines Qualitätszeichens, das in nicht allzu ferner Zukunft auf Produkten aus Streuobst prangen soll: „Wir brauchen ein solches Zeichen, um uns von anderen Säften abzuheben.“
Ob das zukünftige Streuobst-Qualitätszeichen mit einem Bio-Siegel kombiniert werden sollte, darüber gibt es allerdings unterschiedliche Meinungen. „Das ist ein bisschen so, als ob die Schwimmerin Britta Steffen nach einem Olympiasieg noch ihr Freischwimmer-Abzeichen machen müsste“, urteilt Sabine Seeliger von der Stahringer Streuobstmosterei. Die Streuobstflächen werden ohnehin extensiv bewirtschaftet, die Bäume bleiben traditionell ungespritzt. Ihre eigenen Zuliefer*innen setzen noch nicht einmal Kupfer zur Pilzbekämpfung ein, was im Bio-Anbau zum Beispiel erlaubt und auch üblich ist. Außerdem sei die Bio-Zertifzierung extrem zeitaufwendig, da alle Wiesen abgefahren und inspiziert werden, kritisiert Seeliger. Gleichwohl hat die Streuobstmosterei auf einigen Produkten das EU-Bio-Siegel, weil sich bislang eben viele Menschen an Bio-Zertifizierungen orientierten.
Breite Produktpalette
Und den Produkten der Radolfzeller Mosterei galt abschließend die volle Aufmerksamkeit der rund 110 Teilnehmer*innen. Neben dem klassischen Apfelsaft, den die meisten als Erzeugnis von Streuobstwiesen kennen, gab es auch einen Cidre aus Äpfeln und Birnen zu verkosten. Häufig werde dieses Getränk nur aus Äpfeln gemacht, doch die Süße der Birnen trage zu einem komplexeren Bouquet bei, erklärt Sabine Seeliger. Ein ungewohntes Geschmackserlebnis war für die meisten der Apfel-Verjus, ein Saft aus unreif geernteten Früchten. Er wird nicht pur, sondern mit viel Wasser verdünnt getrunken – oder aber in der kreativen Küche bzw. beim Mixen von Cocktails als regionale Alternative zu Zitronen- oder Limettensaft eingesetzt. Eine weitere Spezialität des Betriebes am Bodensee ist der Birnoh, ein aus drei alten Birnensorten in einem langwierigen Verfahren gewonnener 18prozentiger Aperitif – der aber auch durchaus als "Absacker" auf Eis seine Fans hat. Günther Schäfer und Sabine Seeliger jedenfalls haben keine Probleme mit dem Verkauf ihrer Streuobst-Produkte: „Nur etwa zwei Prozent vermarkten wir über den Online-Handel, der Rest geht im 40-Kilometer-Umkreis weg.“
Autorin: Birgit Schumacher