Weniger verhindern, mehr gestalten: Warum Europa eine ganzheitliche Ernährungspolitik braucht
Der Betrieb, auf dem Christoph Simpfendörfer lange gearbeitet hat, man kann es so sagen, ist ein Musterbetrieb. Der Reyerhof liegt eingebettet in einen Stuttgarter Stadtteil, bezieht Bürger*innen in seine Arbeit mit ein, weil er sich in Teilen über eine solidarische Landwirtschaft finanziert, und betreibt von Milchviehhaltung, über Getreideanbau bis zu einem Hofcafé eine bunte Vielfalt an Bereichen.
Mittlerweile hat Simpfendörfer an eine neue Generation übergeben und engagiert sich als Generalsekretär der biodynamische Weltvereinigung des Anbauverbands Demeter. Und als solcher glaubt er nicht mehr, dass sich Höfe wie der Reyerhof nur durch eigenes Engagement entwickeln: „Ich habe 30 Jahre lang einen Betrieb geführt und gedacht: Wenn wir das gut machen, setzt sich unser Modell durch. Dann habe ich aber gelernt, dass wir immer wieder von den Rahmenbedingungen, die gesetzt werden, tangiert werden.“ Und deswegen schaut Simpfendörfer mittlerweile auf die politischen Ebenen, auf denen der Rahmen gesetzt wird. Und da geht in Fragen von Landwirtschaft und Ernährung kein Weg an der Europäischen Union vorbei.
Auch für Slow Food ist die Sache klar: Gelingt es nicht, auf europäischer Ebene endlich eine Agrar- und Lebensmittelpolitik zu verankern, die Menschen- wie Planetengesundheit in den Mittelpunkt rückt, wird das auch auf nationaler Ebene nur schwer gelingen. Deswegen fordern Slow Food und Slow Food Youth in ihrer Kampagne „Zukunft würzen“, die die nahende Bundestagswahl zur Ernährungswahl ausruft, nicht nur mehr Geld aus den EU-Agrarfördertöpfen für Umwelt- und Sozialleistungen. Sondern generell die Einführung einer ganzheitlichen Ernährungspolitik auf europäischer Ebene.
Das verdeutlichte ein Podium unter Moderation der Slow-Food-Deutschland-Vorsitzenden Nina Wolff, an dem neben Simpfendörfer auch Elisabeth Fresen, Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), Marta Messa vom Slow-Food-Büro Brüssel und der Agrarwissenschaftler Achim Spiller teilnahmen.
Die vier großen Probleme der europäischen Landwirtschaft
Zwar ist auch klar: Europa darf nicht die Ebene werden, auf die alle Beteiligten ihre Probleme schieben, damit sie sie selbst nicht lösen müssen. Und doch sind vier großen Probleme, die Europas Landwirt*innen plagen, so groß, dass sie ohne Europa eben auch ungelöst bleiben. Und als diese Probleme kristallisierten sich während der Diskussion heraus:
- Antworten auf die Klimakrise
- Die Kapitalausstattung der meisten Landwirtschafts- und Lebensmittelbetriebe
- Der Bodenmarkt
- Die Entscheidungsfähigkeit von Verbraucher*innen, sich für eine ganzheitliche Ernährung zu entscheiden.
Da ist etwa die Sache mit dem Geld, die Elisabeth Fresen umtreibt. Die Bäuerin setzt sich als Bundesvorsitzende der AbL für den Fortbestand einer bäuerlichen Landwirtschaft ein. Doch die scheitert oft am Geld. Zum einen natürlich daran, dass zu viele Erzeuger*innen für ihre Produkte nicht ausreichend bezahlt werden. Vor allem aber, sagt Fresen, weil viele Höfe im Zuge der Technisierung und Digitalisierung in immer größere Investitionen gedrängt werden, die oft eher hemmen als beflügeln. „Der Verweis auf Technik kostet sehr viel Geld und behandelt immer nur kleine Symptome oder hält ein etabliertes System aufrecht“, sagt Fresen.
Vor allem vor dem Hintergrund, dass kleinere und nachhaltige Betriebe oft von den europäischen Fördergeldern benachteiligt werden. Also große Betriebe nicht nur absolut mehr Geld haben, um sie zum Beispiel in moderne Technik zu investieren, sondern auch relativ. Ein kleiner Betrieb, der hier wettrüsten will, ist von Beginn an im Nachteil. Auch das wäre anders, wenn sich ein scheinbarer Grundsatz in Europa durchsetzen würden, den Achim Spiller formuliert: „Öffentliche Gelder sollte es nur für öffentliche Leistungen geben.“ Also Subventionen nur für Betriebe, die etwa besonders ökologisch oder sozial arbeiten – und nicht einfach nur groß sind.
Doch vielen fehlt dafür die Luft, und das liegt am nächsten großen Problem. „Da landwirtschaftliche Flächen knapper werden, entsteht ein Preiskampf über Zugang zu diesen Flächen“, sagt Simpfendörfer. „Und immer, wenn ein landwirtschaftlicher Betrieb eine neue Subvention erhält, fordert der Pächter das ein. Er weiß ja, dass der Landwirt plötzlich mehr Mittel hat. Lässt sich der Landwirt nicht drauf ein, ist das Land weg.“
Tatsächlich ist Bodenknappheit eines der drängendsten Probleme. Die Preise sind in Deutschland seit 2005 um gut 200 Prozent gestiegen. „Der Zugang zu Land ist für junge Menschen im Prinzip unmöglich“, schildert Elisabeth Fresen. „Wir geben die Empfehlung, das viel stärker zu regulieren, damit Land wieder in Bauernhand bleiben kann.“
Dafür braucht es aber auch Menschen, die die Produkte bäuerlich arbeitender Landwirt*innen wertschätzend kaufen. Da liegt vieles im Argen – und manches auch, weil es vielen Verbraucher*innen an einfach zugänglichen Informationen mangelt. Eine weitere Baustelle für Europa: Verbindliche Kennzeichnungen etwa sind nur über den EU-Weg machbar, um den gleichen Marktzugang für Lebensmittel aus allen EU-Ländern nicht auszuhöhlen. „Wenn wir ein verpflichtendes Tierschutz- oder Umweltlabel haben wollen, geht das nur über Europa“, sagt Achim Spiller. „Und in Fragen der Kennzeichnung wissen wir, dass wir eine verpflichtende, einheitliche Lösung brauchen und aus dem herrschenden Label-Dschungel raus müssen. Der verwirrt die Menschen nur.“
Ganzheitliche Ernährungspolitik als Ausweg
Deswegen scheint klar: „Wenn man die Ziele gemeinsam denken will, ist das Querschnittspolitik“, sagt Achim Spiller. Auch Nina Wolff sagt: „Es hilft nichts, an jeder Stelle irgendwas zu machen, es muss zusammen gedacht werden, in einer ganzheitlichen Ernährungspolitik.“ Dafür müssen aus Sicht von Slow Food auf EU-Ebene ebenso wie in der nächsten Bundesregierung die Fäden der bisherigen Agrar-, Umwelt-, Gesundheits-- und Lebensmittelpolitik institutionell zusammenlaufen. „Sonst haben wir wieder verschiedene Ministerien, die gerne auch die Verantwortung hin und herschieben“, sagt Nina Wolff.
Immerhin scheint sich in Brüssel etwas zu bewegen. Marta Messa, Leiterin des Slow-Food-Büros in Brüssel sagt mit Blick auf das von der EU-Kommission verabschiedete Nachhaltigkeitsprogramm Green Deal: „Wir haben zum allerersten Mal die Chance, in Richtung einer ganzheitlichen Ernährungspolitik zu gehen.“ Und das wäre tatsächlich ein Hoffnungswert, dass sich nach der Bundestagswahl weder in Berlin noch in Brüssel wiederholt, was Christoph Simpfendörfer als Handlungsprinzip der letzten Bundesregierungen beschreibt: „Die letzten Bundesregierungen haben sich dadurch ausgezeichnet, dass sie in der Landwirtschaftspolitik mehr verhindert als gestaltet haben.“
Text: Sven Prange
Ko-finanziert von der Europäischen Union.
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