30 Jahre – und noch immer hungrig
Slow Food Deutschland wird 30, und für uns heißt das: Weiter geht’s! In der größten Krisen-Gemengelage seit langem wird die Verantwortung deutlich, die eine Organisation unseres Namens trägt: »Slow Food« ist das Synonym für gutes, sauberes und faires Essen und Ausdruck eines ökologisch und sozial bewussten Bewirtschaftungs-, Verarbeitungs- und Ernährungsstils. Slow Foodies wissen: Ein gutes Leben und eine gute Ernährung sind nur möglich, wenn wir für Harmonie sorgen zwischen den Menschen, dem Planeten und dem Ernährungssystem. Ebenso wissen sie, dass diese individuelle Einsicht und die Zuversicht in die eigene Wirkungsmacht allein nicht reichen. Es trennt uns noch ein gutes Stück Weg von unserem Ideal einer Welt, in der alle Menschen ihr Recht auf ein wohlschmeckendes, gesundes und kulturell vielfältiges Essen verwirklicht sehen. Und Slow Food hat sich mit zunehmender Klarheit zu einem wichtigen Teil der Lösung entwickelt.
Essen ist ein enormes Politikum geworden, denn unser Ernährungssystem ist für mehr klimaschädliche Treibhausgase verantwortlich als der gesamte Verkehrssektor, und das Ausmaß des Artensterbens bedroht etwas so Existenzielles wie unser Essen. Wir fordern deswegen eine ganzheitliche Ernährungspolitik und einen Wandel, der weit in die Kochtöpfe unserer Gesellschaft reicht und der darin mündet, dass alle sich wohlschmeckend, gesund, kulturell vielfältig und nachhaltig ernähren können. Weil dies eines jeden Recht ist!
Slow Food hat von Anbeginn das Bewusstsein für eine verantwortungsvolle Erzeugung, Verarbeitung, Auswahl und Zubereitung von Lebensmitteln geschaffen und geschärft. Schon immer arbeiten wir gemeinsam mit vielen Engagierten an einer Welt, die die biologische Vielfalt nährt und für die Umwelt sorgt, der unsere Lebensmittel entstammen. Die auf Partnerschaft und Fairness setzt und nach Gerechtigkeit strebt. So eint uns seit 30 Jahren nicht nur die Freude an Gemeinsamkeit und gutem Essen sowie unsere Anerkennung für Qualität, Können und Transparenz über Herkunft und Verarbeitung. Sondern zunehmend das Bewusstsein, dass von Genuss nur die Rede sein kann, wenn er allen zuteilwird und die Belastungsgrenzen unseres Planeten respektiert werden.
Als Gesellschaft brauchen wir eine grundsätzlich andere, neue Herangehensweise, um die Ernährung zu sichern, mit angemessenen politischen Rahmenbedingungen. Noch immer verwehrt unser Ernährungssystem viel zu vielen den Zugang zu nachhaltig hergestelltem und gesundem Essen. Aufgrund eines eklatanten Verteilungsproblems leiden Menschen vielerorts unter Mangelernährung, andere unter Fehl- bzw. Überernährung, und immer häufiger tritt beides gemeinsam auf.
Im dreißigsten Jahr des Bestehens von Slow Food Deutschland sind wir Zeuginnen und Zeugen eines Krieges in Europa, der den Welthunger deutlich zu verschlimmern droht. Aber selbst in einem verhältnismäßig reichen Staat wie Deutschland fehlen Millionen von Menschen die finanziellen Mittel oder aber auch die Fähigkeiten, täglich ausreichend ausgewogene Mahlzeiten einzunehmen. Ernährungsarmut gibt es auch bei uns. Dies zu ändern kann nicht allein »von unten« erfolgen. Hier sind gesellschaftlicher Schulterschluss und staatliches Handeln gefragt. Deshalb ist es wichtig, unsere Slow-Food-Stimme weiter zu erheben und zu fordern, dass die von uns beschriebene und von vielen Slow Foodies weltweit gelebte Essens- und Lebensqualität immer mehr Menschen zugänglich werden muss, kurz: für mehr Ernährungsgerechtigkeit einzutreten.
Die Brücke zwischen der bestehenden Ernährungsunsicherheit und dem Ideal der Ernährungsgerechtigkeit bildet ein rechtebasiertes Verständnis unserer Ernährung. Ein Recht auf angemessene Ernährung meint mehr als einen vollen Bauch, und ein Recht auf Gesundheit mehr als die Abwesenheit akuter Krankheit.
Das Recht auf eine intakte Umwelt beinhaltet auch, dass Lebensmittel auf klima- und biodiversitätsschonende Weise hergestellt werden. Die Verwirklichung dieser Rechte erfordert einen Staat und eine Staatengemeinschaft, die dafür sorgen, dass Menschen die Voraussetzungen erwerben und in ihren Ernährungsumgebungen vorfinden, sich nachhaltig und gesund zu ernähren. Und dass Menschen Einfluss nehmen können auf gesellschaftliche und politische Entscheidungen über ihr Essen: in den Ernährungsräten in unseren Städten und Regionen, bei der Gestaltung einer nationalen Ernährungsstrategie und einer Europäischen Gesetzgebung über nachhaltige Ernährungssysteme – und ebenso beim Aufbau widerstandsfähiger und unabhängiger Ernährungssysteme im globalen Süden.
Gutes, sauberes und faires Essen muss weltweit für alle zugänglich, erschwinglich und attraktiv sein – erst dann ist die Ernährungswelt gerecht. Diese Ernährungsgerechtigkeit zu erreichen, könnte ein Auftrag für mindestens die nächsten dreißig Jahre sein. Nehmen wir ihn an, denn nach wie vor motivieren uns der Hunger nach Veränderung und die Freude am Genuss. Daher: Let’s go slow!
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Quelle: Slow Food Magazin