Terra Madre 2022: Food RegenerAction
Im September fand nach vier Jahren pandemiebedingter Pause wieder eine Terra-Madre-Veranstaltung statt. Wieder in Turin. Doch nicht in kühlen Messehallen wie damals 2018, sondern draußen auf einem Parkgelände, wie auch 2016 auf meiner ersten Terra Madre. Wenn ich daran zurückdenke, erfüllt mich ein Gefühl von Herzenswärme, Kraft, Inspiration und auch von »Humbleness«. Hierfür fehlt mir eine treffende Übersetzung. Am ehesten kann ich es mit Demut, Bescheidenheit und tiefem Respekt beschreiben.
»RegenerAction«. Oder Regeneration. Unter diesem Motto stand Terra Madre. Vor Ort waren die drei Handlungsfelder von Slow Food zentral in Szene gesetzt – Biodiversität, Bildung und politische Interessenvertretung. Aber darauf will ich gar nicht weiter eingehen, als dass ich es gelungen fand, wie viele Menschen sich um die Stände, Mitmach-Aktionen und in den Konferenzen tummelten. Für mich persönlich kann Terra Madre an einigen Stellen noch mehr zum Vorbild nachhaltiger Veranstaltungen werden: Die Konferenzräume und somit die politischen Inhalte können noch mehr ins Zentrum des Geschehens rücken und das Sponsoring kann durchaus an ein paar Slow-Food-Kriterien für zukunftsfähige Ernährungssysteme geknüpft werden. Wasser aus Dosen braucht es ebenso wenig wie die Berge aus Einweggeschirr. Aber auch dafür sind mir meine Zeilen hier zu schade, machen wir es bei unseren eigenen Veranstaltungen (im Slow-Food- oder privaten Kontext) eben anders.
Worüber ich viel lieber berichten mag, sind die Momente, die mich bewegt haben. Momente, die auf mich eine regenerative Wirkung hatten. Doch was heißt das überhaupt? Regeneration bedeutet laut einem gängigen Online-Nachschlagewerk »Rückgewinnung verbrauchter Kräfte«, »Wiederherstellung eines Gleichgewichtszustandes« und in der Physiologie das »Ersetzen alter Zellen durch neue«. Regeneration bedeutet das Loslassen von Festgefahrenem, das Versammeln alter und neuer Kräfte und das Wiederfinden meiner Balance. Als Slow-Food-Aktivistin, die sich für eine Veränderung im Kleinen vor Ort, in nationalen Strukturen und auch auf globaler Ebene einsetzt, sind Kraft und Balance essenziell. Und es ist so unendlich zäh, dieses Loslassen von Festgefahrenem. Es passiert schnell, sich in den Auseinandersetzungen im Kleinen zu verlieren und das große Ganze aus dem Blick zu verlieren. Zudem ist es gar nicht so leicht, bei all dem Aktivismus kraftvoll und stark sein, sich im Drängen für eine Veränderung in dieser Welt gesehen zu fühlen und sich die Sanftheit zu bewahren, anderen Menschen liebevoll und mit offenem Herzen zu begegnen.
Zurück nach Turin. Nach vier Jahren stehe ich also wieder mitten in diesem bunten Treiben und realisiere, was ich bei meiner tagtäglichen Slow-Food-Arbeit hier in Deutschland leicht aus den Augen verliere: Ich bin Teil einer weltweiten und bunten Gemeinschaft. Wir sind vielfältig! Und wir sind viele! Wir kommen aus allen erdenklichen Teilen der Welt, betrachten die Welt mit unterschiedlichen Augen und blicken aus verschiedenen Perspektiven. Beim Vernetzungstreffen für Frauen, die im Slow-Food-Netzwerk aktiv sind, wurde mir bewusst, wie unterschiedlich auch unsere Voraussetzungen sind, aus denen wir für Veränderung und unsere Rechte als Frauen, Bäuerinnen und für unser Recht auf gutes Essen einstehen. Die Leben dieser Frauen sind in Gefahr, wenn es rauskommt, dass sie sich in ihrer Heimat für ihre Rechte einsetzen oder sich gar als Feministinnen bezeichnen.
Ich empfinde tiefen Respekt für diese Frauen. Da ist sie wieder, die »Humbleness«. Und so war auch unser Austausch: Voller Mitgefühl, Empathie, gegenseitigem Zuhören, Sanftheit und gleichzeitig so viel Kraft und Stärke! Mir wurde in dem Moment klar: Um ein Ernährungssystem zu gestalten, das wirklich zukunftsfähig ist, müssen wir auch an die Werte ran, die es trägt. Was ich damit meine, ist ein Ernährungssystem, das auf eine Kultur des Zuhörens, der Empathie, des Verständnisses und des Respekts baut. Das Loslassen von Festgefahrenem und das Einlassen auf etwas Neues. Auf ein feministisches Ernährungssystem! Und dabei geht es nicht um Geschlechter, sondern um unser aller Einstellung in den Köpfen und die Offenheit unserer Herzen.
Wenn wir uns zurückbesinnen auf unsere Kräfte, uns zusammenschließen in starken Kollektiven und neue Werte von Mitgefühl leben, dann regenerieren wir und können Veränderung schaffen. Denn uns verbindet bereits diese eine starke Vision nach gutem, sauberem und fairem Essen für alle! Und diese Verbindung ist spürbar auf der Terra Madre. In der Offenheit der Begegnungen, in der Convivialität, also der Gastfreund*innenschaft, im Teilen von Essen, von Geschichten, von Leidenschaften, von Mitgefühl, von Herzen.
Autorin: Lea Leimann
Quelle: Veröffentlicht im Slow Food Magazin 6/2022