BIO-Zertifizierung: Über die Benachteiligung zukunftsfähig arbeitender Landwirt*innen

24.04.2023 - Eine Bio-Zertifizierung ist mit Zeit- und Kostenaufwand verbunden, und das obwohl der Ökolandbau im Vergleich zur konventionellen Landwirtschaft im Sinne von Mensch, Tier und Umwelt arbeitet und keine externen Kosten u.a. für Gewässer- und Bodenverunreinigung sowie Artenverlust auf die Gesellschaft auslagert. Bio-Bäuer*innen sind zudem verpflichtet, durch regelmäßige Rückstandsanalysen zu beweisen, dass ihre Felder nicht durch die Pestizide des konventionellen Anbaus kontaminiert sind, da die Pestizide kilometerweit über die Luft weitergetragen werden können. Ungerecht finden wir auch und teilen deshalb den offenen Brief von Slow-Food-Mitglied Joachim Kaiser an Landwirtschaftsminister Cem Özdemir, Umweltministerin Steffi Lemke, Wirtschaftsminister Robert Habeck, Finanzminister Christian Lindner und Bundeskanzler Olaf Scholz.

Die jetzige Regierung hat es schwer: Sie hat einen riesigen Berg aufgeschobener Reformen der Vorgängerregierungen übernehmen müssen. Sie muss die Auswirkungen der Corona-Pandemie bewältigen. Sie muss auf Putins Aggression in der Ukraine reagieren. Und sie soll die überfällige Transformation zu einer nachhaltigen, klimaneutralen Wirtschaft und Gesellschaft in Rekordzeit schaffen. „Zeitenwende“ ist deshalb ein zutreffender Begriff, nicht nur in Bezug auf die Verteidigungspolitik.

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Die Ampelregierung hat die Bedeutung einer ausreichenden Versorgung mit guten Lebensmitteln im Rahmen der Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft dadurch gewürdigt, indem sie sich das Ziel gesetzt hat bis 2030 einen Anteil von 30% in der Biolandwirtschaft zu erreichen. Reicht das aus?

Die Landwirtschaft ist für 8% der deutschen CO2-Äquivalente verantwortlich. Hinzu kommen die Auswirkungen intensiver Bodennutzung und der Pestizideinsatz auf die Artenvielfalt. Man spricht nicht umsonst vom Insektensterben: Der Rückgang der Insekten-Biomasse beträgt etwa 80% und ist mit großer Wahrscheinlichkeit auf die konventionelle, intensive Landwirtschaft zurückzuführen. Der Rückgang der Insekten bedroht auch Arten, die von Insekten leben, wie Vögel und Amphibien. Die intensive Bodennutzung hat zum Teil zu Humusabbau, der Pestizid– und Düngemitteleinsatz zu Boden- und Grundwasserkontaminationen geführt. Millionenschwere Sanierungsmaßnahmen und Betriebskosten sind erforderlich, um z.B. die Trinkwasserversorgung aus Grundwasser für die Allgemeinheit sicherzustellen.

Wer nachhaltig Lebensmittel produzieren und auf den Teller bringen möchte, muss sich zertifizieren lassen. Minimum ist das BIO-Siegel nach der EG-Öko-Verordnung. Viele Verbände halten dieses EU-Bio für nicht ausreichend und haben deshalb eigene, strengere Zertifizierungskriterien aufgestellt, z.B. Bioland, Naturland oder demeter. Bio-Landwirte haben einen erheblichen Zeit- und Kostenaufwand, um ihren Betrieb von konventionell auf Bio umzustellen. Hinzu kommen die Kosten für die Erst-Zertifizierung und die Kosten für die folgenden Überprüfungen. Stand 2021** sind in Deutschland 14,0% der landwirtschaftlichen Betriebe Bio zertifiziert. Sie bewirtschaften aber nur 10,9% der landwirtschaftlichen Fläche. Die durchschnittliche Betriebsgröße von Bio-Betrieben beträgt 49,6 ha und ist somit kleiner als der Gesamtdurchschnitt von 64,0 ha pro Betrieb.

Konventionell wirtschaftende Betriebe haben den Aufwand und die Kosten nicht, die die Umstellung auf Bio und Zertifizierung mit sich bringt. Wobei man betonen muss, dass es auch konventionell wirtschaftende Betriebe nicht leicht haben über die Runden zu kommen. Was vor allem auf kleinere und mittlere Betriebsgrößen zutrifft. Großbetriebe – meist Kapitalgesellschaften und Genossenschaften – haben in der Regel weniger Probleme, da die Subventionierung der Landwirtschaft nach wie vor überwiegend flächenbasiert erfolgt.

Aus den obigen Angaben kann man schließen, dass Großbetriebe zwar einen Großteil der Subventionen einstreichen, sich aber nicht oder kaum Bio zertifizieren lassen.

Es ist ein Unding, dass man als Bio-Landwirt dafür bezahlen muss, dass man das Richtige tut! Als Bio-Landwirt tut man nicht nur das Richtige, man wird auch noch durch den zusätzlichen Aufwand und die Kosten mit einem Wettbewerbsnachteil bestraft. Wir lassen uns damit auf die ‘Logik’ der ‘Übeltäter’ ein: Wer verschmutzt, wird dafür noch mit einem Wettbewerbsvorteil belohnt. Hier ist meiner Meinung nach eine Systemumkehr zwingend erforderlich. Bio muss der Standard sein und zertifizieren müssen sich diejenigen lassen, die nicht Bio wirtschaften! In einem Zeitrahmen von 10 – 15, maximal 20 Jahren sollte diese Systemumkehr umsetzbar sein.

Es mag Bereiche geben, in denen der Einsatz von Pestiziden noch unabwendbar ist. Die nicht oder erst langfristig, nach intensiver Forschung, auf Bio umstellen können. Das dürften jedoch nur wenige Ausnahmen sein. Und so wie heute, wo jeder landwirtschaftliche Betrieb Bio produzieren darf, wenn er möchte, dürfte auch jeder Betrieb, der dies wollte, konventionell produzieren, kein Verbot. Aber diese Betriebe, diese Ausnahmen vom Standard, müssten sich zertifizieren lassen. Begründen, weshalb sie weiterhin konventionell arbeiten wollen oder müssen. Sie müssten erläutern, wie sie Schäden weit möglichst minimieren. Und sie müssten eine Versicherung in Millionenhöhe abschließen, um nötigenfalls für Folgeschäden aufkommen zu können. Wie uns die bisherige Praxis lehrt, sind Folgeschäden nicht immer sofort erkennbar und selbst zweistellige Millionenbeträge reichen zur Gefahrenabwehr und Sanierung aufgrund von Schäden nicht immer aus.

Unrealistisch höre ich die Kritiker sagen. Wenn nicht jetzt, wann dann, frage ich! Wenn nicht diese Regierung, welche sonst! Ist dies nicht die Regierung des „Wir wollen mehr Fortschritt wagen“. Die Vorteile liegen auf der Hand. Wir leben nicht mehr in der Steinzeit. Wer eine Vorreiterrolle einnimmt, hat am meisten Erfahrung mit einem derartigen Transformationsprozesses. Kann sein Know-how als weltweiten Wettbewerbsvorteil nutzen: In benötigter Technologie, Organisation, Logistik, Rechtsfragen usw. Und selbst Wirtschaftsliberale könnten an Bio als Standard nichts aussetzen. Denn Bio als Standard setzt nicht auf ein Verbot, sondern ermöglicht innerhalb eines Rahmens, der für alle gleich ist und deshalb niemand benachteiligt, individuelle Entscheidungen der Marktteilnehmer. Die Praxis, dass Andere die Kosten für Schäden tragen müssen, z.B. über höhere Trinkwasserpreise oder Gewerbesteuern, würde damit ebenfalls aufhören.

Bio als Standard – mehr grün, mehr liberal geht nicht. Und im Sinne sozialdemokratischer Politik dürfte dies ebenfalls sein!

* Landwirtschaft im Sinne von allen Betrieben, die Pflanzen, Tiere und Produkte daraus für den menschlichen Verzehr erzeugen, also auch Winzer, Imker, Milchbauern usw. Im weiteren Sinne die gesamte Produktionskette der Lebensmittelerzeugung.

**Zahlen berechnet aus https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/OekolandbauDeutschland.pdf?__blob=publicationFile&v=16; abgerufen 19.01.2023.

Autor: Slow-Food-Mitglied Joachim Kaiser

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