Interview Bernd Ratjen
Wer ist Tante Anne?
Meine Schwester und die Tante meiner Kinder. Wir bewirtschaften gemeinsam die Erholung in sechster Generation. Es gibt einen historischen Tanzsaal und ein kleineres Restaurant als Speiseräume, einen Innenhof zum draußen feiern und einen Laden, wie einen Tante-Emma-Laden, nur in schick. Hier verkaufen wir unsere selbstgemachten Produkte wie Suppen und Fonds im Glas, Fermentiertes und Eingekochtes der Saison, Wurst, Fleisch und Käse von unseren Vertrauenslieferanten und Weine - alles in Bio-Qualität. Der Umsatzanteil, den der Laden ausmacht, ist noch verschwindend gering, das liegt aber an der dörflichen Lage. Online geht schon ein bisschen was, vor allem unsere No-Show-Soup im Glas, die wir in der ersten Corona Welle zu produzieren begonnen haben, als wir keine Gäste im Haus bewirten durften.
Was gibt’s in der Erholung?
Handgemachtes Essen, nicht nur regional, sondern auch komplett in Bioqualität. Wir stehen für nachhaltige und auch soziale Gastronomie. Als ausbildender Betrieb stehen bei uns Handwerk und Tradition im Vordergrund, wir verarbeiten alle Tiere ganz - von der Snute bis zum Steert. Neben ein paar Kleinigkeiten bieten wir immer zwei Menüs an von denen eins vegetarisch ist - auf Wunsch mit passender Weinbegleitung. Unser Hauptgeschäft sind Veranstaltungen wie Familien- oder Firmenfeiern, aber wir haben auch für Spontanbesuche geöffnet. Mindestens einmal im Monat gibt es Livemusik bei uns im Saal und mit den sich verdichtenden Netzwerken der Chef Alliance und unseren Winzerpartnern sind für dieses Jahr schon eine ganze Reihe an Gastkoch- und Weinabenden geplant.
Sind eure Eltern noch aktiv im Geschäft und wie finden sie das, was ihr tut?
Unsere Eltern helfen immer noch, wo sie können - unser Vater mit Lieferfahrten und die Mutter mit der Wäsche oder dem, was eben so anfällt und was die Kinder nicht schaffen oder auch manchmal nicht sehen. Die Tage hier sind lang - wir sind momentan nur ein winziges Team - was sich hoffentlich bald ändert. Hier auf dem Land geht alles ein bisschen langsamer - die meistens Trends trudeln hier zehn Jahre später ein als in Hamburg, da braucht man Ausdauer, durch die Pandemie noch mal eine Extraportion.
Sicher wäre in der Stadt so einiges einfacher, aber da sind wir nun mal nicht. Gut, dass unsere Eltern hinter dem stehen, was wir tun - auch wenn es eine riesige Umstellung war vom klassischen Landgasthof zu dem, was wir daraus gemacht haben und wie wir es jetzt leben.
Was wolltest Du werden, als Du klein warst?
Das stand eigentlich nicht zur Debatte. Zwar hat mich niemand gedrängt, aber erwartet wurde es doch. Ich bin mit 17 ausgezogen, um Koch zu lernen, während Anne Buchhändlerin geworden und um die Welt gereist ist. Durch Bar-Jobs hat sie ihre Liebe zum Wein gefunden und sich darauf spezialisiert. Nun sind wir beide wieder hier, wo wir groß geworden sind - im selben Haus. Wenn ich kein Koch geworden wäre, wäre ich Musiker geworden, das ist meine zweite Leidenschaft und die pflege ich auch. Ich bin im Laufe der Jahre vielen Köchen begegnet, die nach der Schicht außer Bier trinken und Playstation spielen nichts mit sich anzufangen wussten. Da bin ich anders, ich will mehr vom Leben als Berufliches und was erleben, was mich auch fordert. Beim Kochen selbst höre ich keine Musik, da möchte ich mich konzentrieren - genauso wie ich mich konzentrieren möchte, wenn ich Musik höre. Ich meine richtige Musik, nicht das, was im Radio läuft.
Was haben Kochen und Musik machen gemeinsam?
Beides ist kreativ, aber man muss auch behutsam sein. Ein Essen ist wie ein Musikstück die Komposition verschiedener Elemente. Und gesamtheitlich funktionieren muss es. Spielt einer im Orchester falsch, klingt und schmeckt es auch komisch, egal wie sauber die anderen gespielt oder gekocht haben.
Wenn Ihr ganz von vorn beginnen würdet, ohne diesen Ort, was würdet Ihr machen?
Egal was - erst mal ein gutes Marketingkonzept! Wie wichtig das ist, ist etwas, was wir hier bitter begreifen mussten. Wie so viele junge Unternehmer haben wir gedacht, es reiche aus, super zu kochen und super Service zu machen. Aber das reicht heute nicht mehr aus.
Erzähl mal von Deiner Karriere und darüber, wie Du heute kochst.
Ich hatte einen guten Lehrbetrieb in Schleswig, wo ich ganz klassisch gelernt habe - damals schon ohne viel archaisches Geschrei und sogar mit einigermaßen geregelten Arbeitszeiten - wer weiß, ob ich es sonst durchgehalten hätte. Von da aus bin ich in die Sternegastronomie gegangen, zuletzt war ich Souschef im Fillet of Soul in Hamburg, dann wollte ich was Eigenes. Ich koche in der Erholung auf hohem Niveau, was sich aber nicht durch virtuoses Anrichten und eine möglichst hohe Anzahl an Mikrokomponenten ausdrückt, sondern durch Spitzenprodukte aus der Region, die ihren Preis haben, und geschmackliche Komplexität. Man muss im Grunde nicht viel mehr machen als ein gutes, regionales Bio-Produkt nehmen und ordentlich zubereiten, mal eine andere Kombination wagen als die, die alle machen. So lerne ich immer weiter und das will ich auch - sonst würde mir langweilig. Meine Teller sehen eher schlicht aus - nicht rustikal, aber eben auch nicht wie ein Blumenstrauß. Der Geschmack ist doch wichtig - das wird tatsächlich in den feinen Restaurants vor lauter künstlerischem Eifer oft vergessen.
Ich mag die Einfachheit, wenn das Produkt für sich spricht oder die Produkte untereinander. Der knackige Bittersalat auf Seite XXX ist so ein Beispiel. Einzeln wäre er zu krass, aber die Kombination von Erdbeersäure, Holunderblütensüße und Senfschärfe bringt dazu so einen Juni-Juli-Geschmack in den Mund, dazu der perlige Biss vom Quinoa - was will ich da noch mit einer fancy Hippe, irgendwas Japanischem oder einem Schäumchen? Und noch was kommt dazu: in meiner Küche stehen nicht neun Leute zum Anrichten, alles muss in der Regel mit zwei Personen zu schicken sein. Und so ist es ja auch vernünftig. Welcher Gast weiß schon zu schätzen, wieviel Mühe in den ganzen winzigen Accessoires steckt, die mit einem Haps weg sind??
Was macht einen guten Koch aus? Wieviel davon ist harte Arbeit und wie viel ist Talent?
Das meiste ist harte Arbeit. Ganz ohne Talent wird’s wohl auch nicht gehen und manche sind unglaublich talentiert. Aber auch die Erfahrung zählt. Risotto muss man können, so einiges muss man hundert Mal machen, um ganz sicher darin zu sein. Erfahrung beim Kochen selbst, aber auch bei der Organisation des Einkaufs, der bei uns erheblich aufwändiger ist als bei Köchen, die alles beim selben Großhändler bestellen, und der der Arbeitsabläufe. Im Team ist man aufeinander angewiesen, jeder Arbeitsschritt muss sitzen und wenn nicht, dann kommt das Wichtigste: nicht ausflippen, sondern eine neue Lösung finden. Denn keine Lösung ist in der Gastronomie keine Alternative.
Du darfst ein Praktikum machen - wohin gehst Du?
Nach Paris! Zu Alain Passard. der der erste war, der rotes Fleisch aus den Menüs seines 3-Sterne-Restaurants gestrichen und sich auf Gemüse fokussiert hat.
Was hat Deine Oma dir gekocht, wenn Du krank oder traurig warst?
Da gab es eine gute Hühnerbouillon. Die esse ich heute noch gerne, auch einfach so zwischendurch und sie dürfte in meiner Küche nie fehlen.
Wie meistert ihr den Spagat, die alten Landgasthaus-Gäste zu halten und gleichzeitig die neuen zu begeistern? Wie bekommt man Vertrauen?
Die alten sind alle schon weg, nur hier und da kommt noch mal ein Familienfest rein. Das Vertrauen muss bei einigen noch wachsen, wir versuchen es jetzt mit unseren Menüs, die optimaler Weise am Tisch einheitlich laufen. So bringen wir nach und nach auch den letzten Immer-nur-Schnitzel-Esser dazu, auch mal was Geschmortes oder sogar etwas ohne Tier zu probieren und liebzugewinnen. In kleinen Schritten nehmen wir so die Gäste dahin mit, zu verstehen, dass eine kleinere Speisenkarte nicht das schlechtere, sondern das bessere Angebot ist.
Du wanderst auf einen anderen Planeten aus - was nimmst du mit?
Meine Plattensammlung.
Wie kommst du runter oder bist Du immer „an“?
Ich bin meistens an. Ein gutes Glas Wein bringt mich runter und die Musik. Ob ich Bier zum Feierabend trinke? Nein. Ich habe einfach schon so viel Bier in meinem früheren Leben getrunken, dass ich es heute verschwenderisch fände. Warum soll ich Bier trinken, wenn ich doch mit Wein bei jedem Schluck etwas dazulerne? Wein lernt man ja nicht aus Büchern!
Bist du gut, sauber und fair zu Dir selbst?
Nächste Frage.
Deine Nähe zum Produkt und zum Erzeuger - in der Küche - war die schon immer da?
Am Anfang waren wir ein ganz normales Landgasthaus. Irgendwann hat meine Frau mir ein Buch von Carlo Petrini geschenkt, es heißt „Die Wurzeln des guten Geschmacks.“ Gemeinsam mit einem Biologen ruft er dazu auf, dass Köche und Bauern sich vereinigen sollen. Das fand ich gut! Und das war der Anfang.
Wenn Musik ein Essen wäre, wie schmeckt dann Jazz im Gegensatz zu Punkrock?
Jazz ist unglaublich komplex und auf eine Art nervig, auf die andere beruhigend. Er ist auf jeden Fall kein einzelnes Gericht, sondern ein ganzes Menü. Punkrock ist so wie meine Teller. Simpel, aber deswegen nicht schlechter. Punkrock ist auf den Punkt.
Menüs, Veranstaltungen und mehr:
https://zur-erholung-uetersen.de
Buchtipp:
Stefano Mancuso / Carlo Petrini: Die Wurzeln des guten Geschmacks - Warum sich Köche und Bauern verbinden müssen. Kunstmann Verlag
ISBN 978-3-95614-096-9