Interview mit Hubert Hohler
Wie ist Dein Bezug zur Artischocke?
In meiner Kindheit gab es keinen, erst mein Kochleben und meine süditalienischen Freunde haben mich mit ihnen in Kontakt gebracht. Als meine Liebe zu ihnen geweckt war, habe ich einige Male bei La Selva bei der Ernte mithelfen dürfen. Dort habe ich verstanden, welche Arbeit dahintersteckt, bis sie ins Glas kommen. Ich mag ihr Aroma wie es ist und finde, es sollte weder durch zu viel Säure noch durch schwere Saucen überdeckt werden.
Wo kommst Du her und wie bist groß geworden?
Ich komme aus einem kleinen Dorf, meine Eltern waren Postbeamte, dazu gab es ein wenig Landwirtschaft. Schon als kleiner Junge musste ich, wenn jemand krank war, vor der Schule schon aufs Spargelfeld. Das habe ich nicht immer gefeiert, aber die Liebe zum Spargel hat es mir nicht genommen! In der Grundschule war ich ein Musterschüler und bin gern dort hingegangen, ab der sechsten Klasse ging es mit der Motivation steil bergab. Die „Lernerei“ hat genervt, ich konnte mir nicht vorstellen, wozu abstrakte Gleichungen da sein sollen. Es war mir scheißegal, was x ist und ich wollte schnellstmöglich weg von der Schule und auch von zu Hause, endlich rein in die Lehre, in mein eigenes Leben. Da war die Gastronomie eine schnelle konkrete Lösung, auch wenn die Leute im Dorf die Hände über dem Kopf darüber zusammenschlugen, dass der einzige Gymnasiast am Ort „nur“ Koch werden wollte. Heute weiß ich, es war genau der richtige Weg - die Gastronomie hat mein Leben geprägt und tut es noch. Mit meinem Beruf habe ich mich zu dem entwickelt, was sich bin. Damit bin ich glücklich, denn ich kann viele Dinge, die in mir sind, darin ausleben. Glück gehabt!
Wie bist Du zum Fasten gekommen?
Als mein Vater krank wurde, habe ich begonnen, mich mit den gesundheitlichen Aspekten des Kochens auseinanderzusetzen. Ich wurde einer der ersten Spezialisten für vegane Rohkost, das war meine erste Küchenchefstelle. Ich habe dort mein erstes Kochbuch geschrieben und fühlte mich am rechten Fleck, aber irgendwann hat mir – als einer, der selbst nie Veganer werden wollte – etwas gefehlt. Dann fing ich in der Buchinger Wilhelmi Klinik an und genoss die Möglichkeiten, die Ei- und Molkereiprodukte uns bieten wieder sehr, wobei ich immer darauf achte, dass alles in Maßen bleibt. Dabei orientiere ich mich an der „Planetary Health Diet“ der Lancet Kommission von 2019, die dem Slow Food Positionspapier für Welt-Gesundheit zugrunde liegt.
Du arbeitest an einer Fastenklinik und Lehrklinik für Ernährungsmedizin am Bodensee – widerspricht sich nicht das Klinische mit dem Genuss?
Überhaupt nicht! Ich ziehe Wahrheiten aus Widersprüchen und denke, dass Enthaltsamkeit einen Großteil von Genuss ausmacht. Die Gäste bei uns kriegen nichts zu essen. Das macht Essen für sie zu einem enorm interessanten Thema. So interessant, dass es uns leichtfällt, ihnen zu helfen, Ihre Muster, Ihr Essverhalten zu ändern. So kann zum Beispiel eine einfache gestampfte Kartoffel nach der Fastenzeit etwas ganz Besonderes sein - vorausgesetzt, es ist eine gute Kartoffel.
Gibt es einen Widerspruch zwischen instinktivem Essen und Fasten beziehungsweise gibt es auch instinktives Fasten?
Ja, auch Tiere fasten und Menschen haben es seit jeher getan, unsere Körper sind per se darauf ausgerichtet. Heute wird vermehrt zu den gesundheitlichen Aspekten der verschiedenen Formen des Fastens geforscht, die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft zeigen uns jetzt auf, dass viel Gutes an den Ess-Pausen ist, die uns Religionen über tausend Jahre vorgeschrieben haben. Es ist nichts Freudloses, sondern birgt eine Reinigung von Geist und Körper. Aus dem Herunterfahren geht der Mensch stabiler wieder hervor, innerlich und äußerlich.
Ich habe den Eindruck, dass Lebensmittel vielen Menschen heute reizvoller, ja wertvoller erscheinen, wenn sie als ein Produkt OHNE etwas angepriesen werden, anstatt als etwas MIT etwas. Wie stehst Du zu dieser Bewegung? Ist Verzicht der neue Luxus und Free das neue Extra?
Auch wenn ich selbst nicht vegan leben möchte, sehe ich es so: wenn etwas ohne bestimmte Substanzen ist, dann ist es Essen für Alle. Das ist doch klasse, wenn niemand dabei ausgeschlossen wird. Und so sollte es auch schmecken – daran arbeite ich!
Was treibt Dich an?
Ich bin ein Willensmensch. Ich will Dinge gut machen und trotzdem ein verletzlicher Mensch sein dürfen. Natürlich wache ich auch mal auf und mag nicht aufstehen, aber dann jammere ich nur für mich und gehe arbeiten. Beim Kochen kommt sowieso die gute Laune wieder, am Herd vergesse ich alles! Meine Oma hat immer gesagt: „Freu Dich, wenn es regnet, denn wenn Du Dich nicht freust, regnet es trotzdem“.
Wie baust Du Stress ab?
Ich renne mehrere Stunden am Tag an der frischen Luft, da kann ich die Gedanken kommen und gehen lassen. Und ich liebe es, Schallplatten zu hören - auf meiner alten Anlage, die ich mit 18 im Pfandleihaus erstanden habe. Ein weiteres Hobby sind meine Motorräder, eins davon ist 35 Jahre alt. Das Fahren ist eine Sache, sehr gut tut mir aber auch das Schrauben daran, weil ich dabei nur mit meinen eigenen Befindlichkeiten beschäftigt bin, nicht noch mit denen von 40 Mitarbeitern. Vorbeugend halte ich mich an feste Rituale im Tagesablauf. Meinen Espresso am Morgen möchte ich ebenso wenig missen, wie die stille nachmittägliche Viertelstunde, in der ich einfach nur blöd in der Gegend herum kucke. Ich glaube, andere nennen das Meditieren.
Bewirkst Du das, was Du willst und woran wird das sichtbar? Woran scheiterst Du?
Ja, überwiegend. Ich glaube, wenn jemand immer alles schafft, hat er seine Ziele zu niedrig gesteckt! Es ist ein Erfolg, dass ich hier am Bodensee umsetzen kann, was ich für menschen- und planetengesunde Küche halte. Dass ich anderen zeigen kann, dass es möglich ist. Und dass weder Achtsamkeit noch Genuss dabei verloren gehen müssen, wenn wir uns auf das beschränken, was uns anteilig auf dieser Erde zusteht. Die Klinik hat inzwischen ein stabil ausgebautes, regionales Erzeugernetzwerk, ist Bio- und Demeter zertifiziert und ich kann mein Wissen in Vorträgen einbringen. Mein Lieblingsvortrag ist derzeit: „Essen als ob es ein Morgen gäbe.“
Scheitern? Ach, ich bin einfach so ein positiver Mensch, das sage ich Dir heute Abend - nach dem Laufen. Aber es gibt ein paar Dinge, die mir besser gelingen könnten. Zum Beispiel habe ich immer noch nicht geschafft, bei uns im Betrieb die Klarsichtfolie abzuschaffen. Und ich mag das Reisen nicht lassen. Nach Griechenland zum Beispiel wegen des Essens und der Menschen. Und Nepal – wenn ich allein sein will.
Hast Du Vorbilder?
Ich finde viele Menschen toll. Ich beneide gute Musiker wie Curt Cobain zum Beispiel! Allerdings sind die Menschen, die mich am meisten beeindruckt haben, alle nicht besonders alt geworden. Vielleicht sollte ich mich freuen, dass ich anders bin.
Sind Deine vier Kinder damit einverstanden, wie Du sie als Kind ernährt hast?
Inzwischen schon. Natürlich gab es auch mal Unmutsäußerungen wie: „Lasst mich in Ruhe mit Eurem Scheiß-Bio“. Und das eine oder andere musste einen trotzigen Umweg durch industrielles Essen nehmen, um herauszufinden, dass das wohl doch nicht so verkehrt war, wie zu Hause gekocht wurde. Heute sind zwei von Ihnen schon kochbegeisterter, als ich je vermutet hätte. Und immer Bio.
Die Buchinger-Klinik bekommt einen neuen Küchenchef. Das bedeutet: Du ziehst Dich vom Herd zurück. Worauf willst Du Dich jetzt konzentrieren? Was wird Deine neue Bühne sein?
Das ist richtig. Ich leite hier weiterhin die Lehrküche und halte meine Vorträge, aber gebe den operativen Küchenchefposten ab. Und zwar, um etwas sehr Spannendes zu tun! Das letzte Jahr, in dem viele unserer Gäste nicht anreisen konnten, hat uns gezeigt, dass es an der Zeit für die Entwicklung einer Digitalen Präsenz der Buchinger Kliniken in Überlingen und Marbella ist. Die ersten Prototypen für digitales Fasten sollen bereits Ende des Jahres fertig sein.
Wenn Du über Deine Arbeit redest, spielen oft Begriffe aus der Anthroposophie eine Rolle – wie passt das und Slow Food zu Motorradfahren?
Meine stärksten Antriebsfedern sind meine inneren Widersprüche. Sie geben mir Energie, diese Ressourcen möchte ich für etwas Gutes nutzen.