Warenkunde Chicorée
Am Anfang war die Wegwarte, eine blaue Blume am Wegesrand, um die sich zahlreiche Mythen ranken, der Liebeszauberkräfte und Unbesiegbarkeit zugesprochen wurde und die schon in der Antike nicht nur als Salat-, sondern auch als Heilpflanze bekannt war. Von ihr stammt der Chicorée, lat. Chicorium intybus var. foliosum ab, den wir als bleichen, leicht bitteren Wintersalat kennen und gerne, wie seinen Verwandten, den Radicchio, mit süßen Früchten kombinieren.
Die Wurzeln der Wegwarte, auch Zichorie genannt, wurden in Nordeuropa hauptsächlich zur Erzeugung von Kaffee-Ersatz – heute noch »Muckefuck« (eingedeutscht vom französischen Mocca faux, also falscher Mokka) genannt – kultiviert. Mitte des 19. Jahrhunderts fiel die Ernte in einem Jahr besonders gut aus, sodass die Bauern von Brabant die überschüssigen Wurzeln mit Sand bedeckt lagerten – einerseits zur Haltbarmachung, andererseits damit sie nicht gestohlen würden. Beim Wiederausgraben nach mehreren Monaten entdeckten sie dann die weißen, wohlschmeckenden Triebe, probierten sie, befanden sie für köstlich und legten so den Grundstein für den europäischen Siegeszug des Chicorée. In Frankreich und den Beneluxländern hat er als gedünstetes Gemüse zuerst Karriere gemacht, der Pro-Kopf-Verzehr liegt dort heute bei etwa acht Kilo pro Jahr, während wir in Deutschland bisher lediglich 300 Gramm im Jahr essen, meist roh.
Winterschlaf im Dunkeln
Wir kennen Chicorée als Wintersalat, im Grunde ist er aber ganzjährig erntbar. Seine Blätter treiben nur in absoluter Dunkelheit, der Lichtentzug unterdrückt die Bildung von Chlorophyll und lässt ihn bleich bleiben. Mit der Bildung von grünen Blättern würden erheblich mehr Bitterstoffe entstehen, die zwar gesund sind, aber nicht gewünscht – Ziel ist es, eine ebenmäßige Salatknospe mit weißen bis hellgelblichen Blättern zu ernten.
Ausgesät wird im Mai, die Pflanze bildet erst Blüten, dann Samen und eine dicke Wurzel, die im Oktober wie eine Möhre geerntet und zunächst in einen feuchten, dunklen Winterschlaf versetzt wird. Hochkant und dicht an dicht lagern die Wurzeln dann in einem dunklen, 2-3 °C kalten Raum mit möglichst hoher Luftfeuchtigkeit. Nach acht Tagen, oder nach Bedarf auch erst nach acht Monaten, weckt man sie bei 15 °C wieder auf, hält den Sand etwas feucht und kann nach zwei bis drei Wochen bis zu 20 Zentimeter lange Köpfe von der Wurzel schneiden. Und die Rüben? Sind ab diesem Zeitpunkt immerhin noch als Tierfutter verwendbar.Ein vorbildliches Beispiel für derart handwerklichen Anbau in Bioqualität ist heute noch der Biobauer Alfred Vogt in Heufelwinden, der seine Liebe zum Chicorée in den 80er-Jahren in Nordfrankreich entdeckte und 1994 auf dem väterlichen Hof in Hohenlohe zu etablieren begann. Sein Ansatz war: Der gute Boden ist das Wichtigste, was der Bauer hat, er dürfe nicht ausgebeutet, sondern müsse gepflegt werden.
Der weite Weg zum Saatgut
Die industrielle Chicorée-Treiberei sieht anders aus, ein umstrittenes Thema ist zum Beispiel das Thema CMS-Hybride. Um höhere, zuverlässige und gleichmäßigere Erträge zu erzielen, greifen viele Treibereien zum Verfahren der sogenannten Cytoplas-matischen Männlichen Sterilität (CMS), das durch die Unmöglichmachung natürlicher Selbstbefruchtung der Pflanze ein perfektes Ergebnis bringt – aber eben nur in einer Generation, danach ist sie unfruchtbar. Wir können hier von »Einwegsaatgut« sprechen, das zwar eine billigere Produktion ermöglicht, aber immer mehr fortpflanzungsfähige, samenfeste Sorten vom Markt verdrängt und die Landwirte zum Kauf immer neuen Hybridsaatguts zwingt.
Das Aussterben von samenfestem Chicorée zu verhindern, ist das Ziel von Vera Becher, die am Hofgut Rengoldshausen am Bodensee für den Samenbau verantwortlich ist und gemeinsam mit dem Verein Kultursaat e.V. neue Chicoréesorten züchtet. Aus 5 000 Pflanzen selektiert sie die 200 vielversprechendsten Köpfe mit der Wurzel, begutachtet sie im Detail und selektiert weiter, bis nur noch 30-60 Pflanzen übrigbleiben. Die pflanzt sie in ein Gewächshaus mit speziellem Lüftungsfilter, in dem zur Befruchtung ein Hummelschwarm lebt. Insekten von außen dürfen nicht hereinkommen, damit zum Beispiel keine Pollen der Urpflanze Wegwarte eingeschleppt werden – das würde das Züchtungsergebnis verfälschen. Das Saatgut wird dann im Frühjahr ausgesät, die Wurzel im Herbst geerntet und der Prozess beginnt von vorne. Sechs bis sieben Durchläufe sind die Regel – es dauert also 12-14 Jahre, bis das samenfeste Saatgut bereit für die Sortenzulassung ist, die wiederum bis zu zwei Jahren dauern kann. Aber auch eine Rückentwicklung von Sorten, die schon mal mit Hybriden in Berührung gekommen sind, also eine Dehybridisierung, ist möglich. Dem Schweizer Demeter-Gärtner Samuel Widmer ist dies 2014 erfolgreich gelungen, seine Sorte Macun hat es sogar auf den Markt geschafft. Unumstritten ist diese Methode jedoch nicht. Die im Handel häufigsten samenfesten Sorten heißen Witloof (Weißlaub) und Brüsseler Witloof, Tardivo, Rubin, Dura und Atlas.
Bitter ist gesund!
Der leicht bittere Chicorée ist einer der gesündesten Salate, die bei uns wachsen, denn er ist reich an Vitaminen und Mineralstoffen. Sein Bitterstoff Intybin kann Blutdruck und Cholesterinspiegel senken, die Verdauung fördern und sich positiv auf Magen, Milz, Bauchspeicheldrüse und Leber auswirken. Die meisten Bitterstoffe sitzen im Mittelstrunk, weshalb er nicht entfernt, sondern mitgegessen werden sollte – ein fruchtig-süßer Kontrast mit Apfel, Feige oder Orange lässt den Salat nur halb so bitter schmecken. Gesund und köstlich ist auch die Kombination mit etwas Honig. Das prebiotische Inulin im Chicorée ist günstig für die Darmflora und stärkt so das Immunsystem.
In der Küche sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt! Roh als Salat mit einer fruchtigen Vinaigrette, gebraten in Butter oder einem guten, erhitzbaren Öl gedünstet und mit Weißwein oder Fruchtsaft abgelöscht, paniert und gebacken, gedämpft oder im Backrohr geschmort, solo oder als Beilage zu Fisch, im Risotto mitgeschwenkt oder als bitter-knackiger Kick für die Pasta mit Kapern und Rosinen. Praktisch ist der Chicorée auch noch: In seine rohen Blätter lässt sich dekorativ fast alles füllen, was auf ein gutes Fingerfood-Buffet gehört.
Aus: Slow Food Magazin 1/2
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