Hutzeln von den Baumfeldern in Fatschenbrunn
Vom Notvorrat zur vielfältig eingesetzten Delikatesse
Arche-Passagier seit 2018
Unterstützt von Slow Food Mainfranken Hohenlohe
Beschreibung des Passagiers
Hutzeln sind Dörrbirnen, die mit Stumpf und Stiel in holzbeheizten Därren nach traditionellen Verfahren getrocknet werden. Sie enthalten konzentriert alles, was die Birne wertvoll macht: intensive Aromen sowie Vitamine und Nährstoffe. Die Birnen für die Hutzeln aus Fatschenbrunn stammen aus extensiv bewirtschafteten Baumfeldern und Streuobstbeständen, die sich aus über 30 verschiedenen Sorten von bis zu 180 Jahre alten Hochstamm-Birnbäumen zusammensetzen. Die bis heute teilweise noch erhaltenen Baumfelder auf schmalen und zum Teil terrassierten Flurstücken sind eine einzigartige Kulturlandschaft.
Trotz der Höhenlage von 400 bis 442 m über dem Meeresspiegel bot Fatschenbrunn historisch günstige Bedingungen für den Obstanbau. Bis heute nämlich ist die Flur mit Obstbäumen ringsum von Laubmischwald umgeben, was raue Winde und Spätfrost abhält. Mit Beginn der Baumfeldwirtschaft im 19. Jahrhundert wurde außerdem auf Sortenvielfalt geachtet, um konstante Erträge zu sichern. Während früh reifende Obstsorten in Baumgärten am Ortsrand platziert wurden, gab es in den Baumfeldern vorwiegend spät reifende Obstsorten. Neben Birnen wurden Äpfel, Zwetschgen und Kirschen gepflanzt. Die folgende Bandbreite an Birnensorten findet sich heute noch in und rund um Fatschenbrunn: Winterbirne Gräfin von Paris, Schmähbirne, Pastorenbirne, Kongressbirne, Flaschenbirne, Frauenschenkelbirne, Gartenbirne, Wasserbirne und Mollebusch. Besonders die vom Verschwinden bedrohten Schmah- und Fudbirnbäume stellen herausragende Landschaftselemente dar. Insgesamt gibt es über 30 verschiedene Birnensorten in Fatschenbrunn, die zum Teil noch nicht bestimmt werden konnten. Die Bäume wurden als Hochstamm gezogen und selbst veredelt, „gebelzt“ wie man in Fatschenbrunn sagt.
Die Baumfeldwirtschaft
Auf Baumfeldern wird die sogenannte Etagenwirtschaft betrieben: Das zur Verfügung stehende Land wird auf zwei Ebenen genutzt. Ackerbau und Anpflanzung sowie Instandhaltung und Ernte von Bäumen werden miteinander kombiniert. Klassischerweise wurde unter den Obstbäumen Getreide im Wechsel mit Kartoffeln und Rüben angebaut. Die hoch aufragenden Obstbäume ermöglichten eine weitgehend störungsfreie Bewirtschaftung des Ackerbodens. Die Beschattung des Oberbodens wirkte sich positiv auf das Kleinklima aus. Das Wurzelwerk hielt den Boden fest und schützte vor Erosion. Die Wurzeln der Bäume waren kein Hindernis für den Ackerbau, weil sie, wenn von Anfang an gepflügt wird, tiefer in den Boden eindringen und keine Konkurrenz um Nährstoffe entsteht. In der Fatschenbrunner Baumfeldwirtschaft wurden die Birnen- und Apfelbäume ursprünglich versetzt auf die Ackerflächen gepflanzt. Zwetschgen wuchsen auf Feld- und Wegrainen, die Kirschbäume an den Rändern der Felder. Dort konnten sie gut abgeerntet werden, ohne das Getreide, die angebauten Kartoffeln oder Rüben zu schädigen. Denn die Kirschen sind vor den Feldfrüchten reif. 1 ha Land beheimatete bis zu 28 Bäume. Standen die Obstbäume in einer Reihe, so verband ein schmaler Grünstreifen (z. B. aus Klee) die Gehölze. Bei größeren Abständen zwischen ihnen umgab eine ovale Grüninsel die einzelnen Bäume. Der Gras- und Krautaufwuchs wurde mit der Sense abgemäht und diente als Viehfutter. In jüngerer Zeit wurden Obstbaum-Nachpflanzungen eher an den Rändern, nicht mehr inmitten der Felder vorgenommen.
Die Ernte des Obstes erfolgt bis heute von Anfang September bis Ende Oktober. Sobald der Großteil der Früchte reif ist, werden die Birnen mit langen hölzernen Schüttelstangen von bis zu neun Meter Länge von den Bäumen geschüttelt und aufgesammelt. Früchte minderer Qualität werden für die Schnapsherstellung verwendet.
Gefährdung des Passagiers
Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die 1980er Jahre hinein waren die Hutzeln als traditionell hergestelltes Dörrobst sehr beliebt. Agrarhändler kauften sie den Erzeugern in großen Mengen ab und vertrieben sie an Lebkuchenhersteller und Großbäckereien. In der Folgezeit jedoch verzeichnete das Gewerbe stetig Verluste und die Nachfrage schwand. Der Markt verlangte zunehmend nach standardisierten Trockenfrüchten, die in vollautomatischen elektrischen Trocknungsanlagen deutlich wirtschaftlicher hergestellt werden können. Billige Importe von Trockenobst aus Übersee, gestiegene Holzpreise sowie die Forderung zahlreicher Abnehmer, sämtliche Stiele der Hutzeln während der Produktion zu entfernen, sind weitere Ursachen für den Rückgang der Hutzel-Produktion. Außerdem eröffneten sich für die Fatschenbrunner Bevölkerung neue Verdienstmöglichkeiten in der Schweinfurter Großindustrie, was die Herstellung von Hutzeln im Nebenerwerb zunehmend unattraktiv machte. Somit wurde aus ihrer traditionellen Produktion ein Nischen-Markt für Kenner, der trotz aller Hindernisse in Fatschenbrunn überlebt hat.
Mit dem Niedergang der Dörrobstherstellung verlor auch die Baumfeldkultur an Bedeutung. Hinzu kamen Rationalisierungsprozesse in der Landwirtschaft, die den Baumäckern schadeten. Denn mit dem Einsatz modernen Geräts veränderte sich die Art und Weise des Pflügens. Die Verwendung von Traktoren als Zugmaschinen, die sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchsetzte, ermöglichte ein weit tieferes Umbrechen des Bodens, als es bis dato mit von Rindvieh oder Pferden gezogenen Pflügen möglich war. Das schädigte das Wurzelwerk der Obstbäume. Dicht stehende Obstbäume auf den Baumfeldern und das herabhängende Astwerk wurden für Mähdrescher zu Störfaktoren bei der Getreideernte. In der Konsequenz wurden die Baumfelder nach und nach aufgelichtet bzw. der Obstbaumbestand gerodet. Zahlreiche Baumfelder wurden in Streuobstwiesen umgewandelt. Mit dem Rückgang der Baumfelder ist auch ein für die Population des Ortolans (Gartenammer) bevorzugter Lebensraum im Fortbestand bedroht.
Vermarktung des Passagiers
Waren die Hutzeln einst ein wichtiger Bestandteil der Ernährung und Notvorrat für schlechte Zeiten, werden sie inzwischen zunehmend von Kennern und Feinschmeckern als Delikatesse und gesunde Alternative für Süßigkeiten geschätzt. Ein Teil von ihnen versorgt sich mit Hutzeln über Online-Bestellungen bei Franz Hümmer (nur saisonal im November und Dezember verfügbar). Ab Mitte 2018 sind Hutzeln und ihre weiterverarbeiteten Produkte im Hofladen des Hutzel-Kulturzentrums auf dem Hof des Erzeugers Franz Hümmer in Fatschenbrunn erhältlich. Die Fatschenbrunner Hutzeln werden außerdem nach wie vor in München auf dem Viktualienmarkt verkauft. Die Gastronomie hat die Hutzel als Beilage zu Braten und als Dessert wiederentdeckt. Sogar Kochklubs beginnen mit ihnen zu experimentieren.
Ausdauersportler und Wanderer schätzen sie als schnellen Energielieferanten – Reinhold Messner hatte bei seiner Everest-Besteigung angeblich welche in seiner Hosentasche.
Regionale Bedeutung des Passagiers
Die Baumfelder als „Rohstofflieferanten“ für die Herstellung der Hutzeln sind ursprünglich aus einer wirtschaftlichen Notwendigkeit heraus entstanden. Sie sind eine Reaktion auf die starke Flächenknappheit, welche sich insbesondere in Realerbteilungsgebieten und reichsritterschaftlich (vom reichsunmittelbaren Niederadel) geprägten Räumen im 18. und 19. Jahrhundert abzeichnete. So ermöglichten Baumfelder die Intensivierung des landwirtschaftlichen Anbaus in Regionen wie dem Steigerwald, in denen der einzelne Bauer oft nur sehr begrenzte Anbauflächen zur Verfügung hatte.
In Fatschenbrunn begann die Blütezeit der Baumfelderwirtschaft im 19. und reichte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aufgrund der Höhenlage des Dorfes wurden von Beginn an vor allem robuste Obstsorten wie zum Beispiel die „Pastorenbirne“ verwendet. Auf nahezu allen Ackerflächen fanden sich Obstbäume, so dass sich der Ort im Frühjahr in ein weißes Kleid hüllte. „Ein einziges Blütenmeer war das […]“, erinnert sich der Fatschenbrunner Gottfried Niesner an seine Schulzeit.
Für die zu dieser Zeit stark wachsende Fatschenbrunner Bevölkerung (vor 1800: 180 Einwohner, 1855: 355 Einwohner) waren Trockenobst und Früchte nicht nur ein wichtiger Bestandteil der täglichen Ernährung, sondern auch des bäuerlichen Einkommens. Sie boten ihre Fatschenbrunner Hutzeln auf Märkten in Bamberg oder Nürnberg an. Über den Main wurde das vitaminreiche Dörrobst in die Niederlande verschifft, um es dort als Schiffsproviant zu verkaufen.
Die meisten Bauernhöfe in Fatschenbrunn hatten damals ihre eigenen Hutzeldärren. 1849 gab es davon acht, 1968 waren es 32 . Heute gibt es im Ort noch zehn Anlagen, neun davon liegen jedoch seit Jahrzehnten still. Lediglich die Familie Hümmer übt das Handwerk des traditionellen Obstdörrens noch aus.
Nichtsdestotrotz zählt Fatschenbrunn zu den wenigen Orten im Steigerwald, in denen die Baumfeldwirtschaft überleben konnte. Über 30 verschiedene Birnensorten mit mehr als 300 alten Bäumen mit einem Stammumfang von mehr als 60 cm sind bis heute erhalten. Diese verteilen sich über die Fatschenbrunner Feldflur und prägen auf besondere Weise das Landschaftsbild. Sie bieten ein großes Potenzial für den Natur- und Kulturtourismus und haben eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für den Schutz biokultureller Vielfalt.
Hutzelrezepte
Auch kulinarisch hat die Fatschenbrunner Hutzel großes Potenzial und wird von Kennern wertgeschätzt. Im Rahmen der Kirchweih gehören der Hutzelbraten bzw. mit Hutzeln gefüllte Gänse zum klassischen Festtagsessen. Das Hutzelbrot ist als traditionelles Lebensmittel allseits beliebt. Inzwischen gibt es eine ganze Bandbreite weiterer Produkte, die aus Hutzeln hergestellt und angeboten werden, so z. B. Müsli, Desserts und Pesto, Hutzellikör und -schnaps. Die alten ebenso wie die neu kreierten Rezepte werden aktuell in einem Hutzelkochbuch zusammengetragen. Die Fatschenbrunner Hutzel wird zudem jährlich auf der "Kulinea", der Genussmesse in Zeil am Main vorgestellt.
Geschmack des Passagiers
Die hocharomatischen Geschmäcker der verschiedenen Birnensorten finden sich konzentriert in den Hutzeln wieder. Das Spektrum reicht von fruchtig-süß, über herb-sauer bis hin zu Vanille-, Schokoladen-, Karamell- und Kakaonoten sowie Bitteraromen. Die Konsistenz ist ebenfalls abhängig von Sorte sowie Trocknungsgrad und reicht von fruchtig-fleischig bis fest-trocken. Die charakteristischen Geschmäcker der Fatschenbrunner Hutzeln sind geprägt von den Relikten einer einzigartigen Kulturlandschaft und ihren besonderen Birnbäumen.
Spezielles Know-how zur Erzeugung des Passagiers
Alle Produktionsschritte der Hutzeln erfolgen in Handarbeit. Die Früchte werden zunächst gewaschen und auf spezielle Gitter („Därrhärrli“) aufgeschüttet. Dabei wird das Obst kontrolliert und aussortiert. Denn nur die qualitativ hochwertigen Birnen werden verwendet. Anschließend werden die „Därrhärrli“ mit den Birnen in die Holzofendärre geschoben. Diese besteht aus einer gemauerten Feuerung und einer Trockenkammer. Die Birnen werden hier bei max. 60°C über drei bis fünf Tage getrocknet.
Die Beheizung erfolgt regenerativ mit Durchforstungsholz aus dem eigenen Wald. Die Trockenkammer wird durch die gemauerte Feuerung (200 x 50 x 50 cm) beheizt. Die Rauchgase werden über Nachheizrohre durch den Trockenraum zum Kamin geführt, um die Hitze effektiv zu nutzen. Die Birnen sind dem Rauch nicht ausgesetzt. Ca. 80 Prozent der Vitamine bleiben so konzentriert (4:1) erhalten.
Alle sechs Stunden muss Holz nachgelegt werden. Um eine perfekte Konsistenz zu erzielen, werden die bereits fertigen Hutzeln regelmäßig aussortiert und die restlichen zur weiteren Trocknung auf höher gelegene Gitter gelegt, um die unterschiedlichen Temperaturschichten im Ofen gezielt zum Trocknen der Früchte auszunutzen. Unten wird mit frischen Birnen nachgefüllt. Die trocknenden Birnen wandern in der Kammer langsam von unten nach oben.
Der Betrieb einer Obst-Darre im traditionellen Verfahren erfordert sehr viel Fingerspitzengefühl und Wissen über die zu dörrenden Früchte und das Dörren an sich.
Züchter*innen, Erzeuger*innen und Bezugsquellen
Franz Hümmer
Rieneckstr. 7
97514 Fatschenbrunn
Tel. (0 95 29) 3 73
franz_huemmer@web.de
www.hutzeln.net
Links und Aktivitäten rund um den Passagier
>>Slow Food Magazin: Hutzeln von den Baumfeldern in Flatschenbrunn
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Bannerbild: © Hannah Hümmer, weitere Bilder © Gerhard Schneider-Rose