Vorwort
Persönliche Anmerkungen
Als eingefleischter Nordhesse – trotz Studium und einiger Wohnortwechsel bin ich nie auf Dauer aus der Region herausgekommen – und Genüssling in Sachen Essen frage ich mich schon lange, was eigentlich die Nordhessische Küche ausmacht. Während andere Regionalküchen einen gewissen Flair haben und eine Menge Gerichte damit verbunden werden, ist es in kulinarischer Hinsicht seltsam still um unsere Region.
Auch der von mir hochverehrte Rolf Schwendter, lange Zeit Soziologie-Professor in Kassel und Verfasser eines spannenden Kochbuches und einer „neuen Sozialgeschichte der zentraleuropäischen Gastronomie“ hat für die (nord)hessische Küche nicht viel übrig. „Schwarzwurzeln mit Gehacktesklößchen zählten zu den wenigen nordhessischen Spezialitäten, derer ich innerhalb von zwei Jahrzehnten gewahr werden konnte“ – so sein vernichtendes Urteil. Auch die neue gehobene Küche, die sich gerne regional verbunden gibt, tut sich schwer in unserer Region. Viel mehr als ein etwas schwer verdauliches „Hessisches Schmandschnitzel“ und allerlei mit (südhessischer) Apfelweinsoße ist mir bisher noch nicht über den Weg gelaufen.
Dabei habe ich aus meiner Kindheit – vor allem von den vielen Aufenthalten bei meinen Großeltern in Seifertshausen und bei meiner Mutter, solange sie sich noch nicht so sehr von ihrer dörflichen Vergangenheit gelöst hatte – eine Reihe von Gerichten in Erinnerung, die mir sonst nirgends so begegnet gelaufen sind: Eisenkuchen („Iesekuchen“), Pellkartoffeln mit Duckefett, Gewürzkuchen, Schmandplätzchen, Weckewerk, „Quer durch den Garten“ mit Schwemmklößchen, Kartoffelpfannkuchen mit Apfelbrei oder eingekochten Heidelbeeren, „Lumpen und Flöh“ (eine für meinen Kindergeschmack ziemlich eklige Kohlsuppe), Schnippelbohnensuppe, Heringssalat mit Äpfeln, Gurken, Zwiebeln, Schmand, Kartoffelklöße halb und halb mit Kochbrühe, Milch, Speck und Zwiebeln, kleine Kräbbel ohne Füllung, und – nicht zu vergessen – die von Schwendter erwähnten Schwarzwurzeln („Storzenieren“) mit Gehacktesklößchen, die lange Zeit eines meiner Lieblingsessen waren und die meine Mutter wegen der vielen Arbeit und den braunen Händen gar nicht gerne gemacht hat.
Auch wenn ich diese Gerichte mit meiner dörflichen und kleinstädtischen Kindheit in Nordhessen verbinde, weiß ich nicht, ob sie „typisch“ für die Region sind. Gab es sie vielleicht sehr verbreitet in Deutschland? Sind diese Gerichte überall im Zuge der „Modernisierung“ der Küche im Sinne von Rationalisierung, Industrialisierung und Internationalisierung der Küche verdrängt worden?
Welche Kriterien müssen Rezepte erfüllen, damit sie als typisch für die Region Nordhessen gelten können? Müssen sie hier erfunden sein? Dürfen sie nicht in allgemeinen deutschen Kochbüchern auftauchen? Welchen historischen Zeitraum wollen wir erfassen? – Eine klare Linie ist noch nicht gefunden, weil sich vieles nicht oder nur sehr schwer prüfen lässt. Aber tendenziell habe ich Rezepte ausgewählt, die mit in erster Linie regionalen Produkten und Kochtechniken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorstellbar sind und die von den Autoren der Quellen Nordhessen zugeordnet werden. Allgemein als „hessisch“ ausgewiesene Produkte habe ich dann aufgenommen, wenn ich sie so oder in sehr ähnlicher Form aus meiner Kindheit kenne.
Gerhard Schneider-Rose