Corona: Von der Fragilität in die Stabilität
Als wir bei Slow Food in den vergangenen Monaten unsere Position zur gesunden Ernährung erarbeiteten und dabei über das Pflegen von Mahlzeiten diskutierten, für die Rückkehr des Selberkochens plädierten, habe ich mir nicht ausmalen können, dass schon kurze Zeit später die tägliche Versorgung für uns alle wieder in den Mittelpunkt unserer Tagesabläufe rücken wird. Das Coronavirus hat unser aller Leben unerwartet in den letzten Monaten radikal verändert – in fast allen seinen Lebensbereichen.
Die Veränderungen treffen uns privat und gesellschaftlich, in Deutschland, Europa, in der Welt. Sie treffen uns in unserem alltäglichen Tun und im Kern unseres Seins, unserem sozialen Miteinander. Dass und wie wir uns ernähren, trägt zum Sein und Miteinander maßgeblich bei. Durch Corona ist Essen wieder spürbar existenziell geworden – es ist, wie Slow Food das nennt: Ins Zentrum unseres Lebens gerückt, dahin, wohin es eigentlich gehört.
Und doch stellt das für viele eine Herausforderung dar. Während einige um ihre Versorgungssicherheit bangen, wirft bei anderen das tägliche Zubereiten von Speisen in den eigenen vier Wänden Fragen auf. Beiden gemeinsam ist: Satt werden fordert in Zeiten von Corona wieder einen gewissen »Arbeitseinsatz«. Die Ernährungskultur vieler hat sich radikal auf den Kopf gestellt, vor allem in den urbanen Räumen. Wir haben zwangsentschleunigt und das (gemeinsame) Essen hat sich seinen Raum zurückerobert. Wir nehmen uns Zeit fürs Mahl und diese Mahlzeit hilft uns dabei, unseren Tagesablauf zu strukturieren – zuhause, im Home Office, mit Familie, Partnern, Mitbewohnern, mit uns selbst.
Dabei nehmen wir verstärkt das Ausgangsprodukt, das Nahrungsmittel, wieder wahr. Wir kosten Verschiedenes, werden uns der unterschiedlichen Anbieter, Preise und Qualitäten bewusst und hinterfragen das, was uns angeboten wird. Sei es aufgrund der Sorge beim Anblick leerer Supermarktregale oder ob der Debatten um Personalnotstände auf deutschen Äckern. Immer mehr von uns setzen sich (teils zum ersten Mal) mit der Frage auseinander, wo ihr Essen eigentlich herkommt, wie es verarbeitet wird. Sie fordern darauf eine transparente Antwort.
Die Corona-Pandemie ist wie für das öffentliche Gesundheitssystem auch für unser Lebensmittelsystem zum Testlauf geworden. Es steht im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit und somit teils auf dem Prüfstand. Lieferketten sind blockiert, In- und Export stocken, Häfen sind geschlossen, Arbeitskräfte fehlen. Zahlreiche Menschen denken über dieses System also genauer nach als sonst, ihnen wird deutlich, wie fragil und teils menschenunwürdig es ist – allein der Umgang mit den Arbeitsmigranten und dass auch jetzt wieder die Menschen, die eh schon Not leiden, besonders unter den Shutdowns leiden – abgeschnitten von existenziell wichtigen Versorgungswegen und Absatzmärkten.
Unser Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit wächst in Zeiten sozialer Distanz und in der Krise, und es betrifft auch unsere Lebensmittel. Vielen ist und wird durch die Folgen der Corona-Pandemie deutlich, worauf es ankommt, damit unsere Lebensmittel verfügbar sind und bleiben, unsere Versorgung und damit unser Miteinander gesichert ist. Es sind in erster Linie verlässliche und kleingliedrige Strukturen, eine resiliente Wertschöpfung für Anbau, Weiterverarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln. All das ist systemrelevant; gleichermaßen sind es die Menschen, die entlang dieser Wertschöpfung arbeiten, uns versorgen.
Dieses neu gewonnene Bewusstsein ist eine Riesenchance. Statt es beim Krisenmanagement zu belassen, müssen wir alles tun, unser System in ein besseres zu überführen. Das bedeutet keinesfalls, dass wir uns ganz aus der globalisierten Welt zurückziehen sollten. Corona zeigt uns einmal mehr, wie sehr alles längst miteinander verwoben ist – im Schlechten, im Guten. Viele Themen lassen sich nur im globalen Austausch lösen, auch im Bereich der Ernährung. Doch müssen wir unser globalisiertes Miteinander neu aufsetzen. Lebensmittel vorrangig unter Kostendruck und für den globalen Handel zu erzeugen und sie dabei in großen Teilen als Ramschprodukte zu betrachten, ist unverantwortlich.
Fundamente unserer Ernährungssysteme müssen allerorts eine agroökologische Anbauweise mit einer starken regionalen und saisonalen Lebensmittelversorgung sein, solidarische Modelle der Direktvermarktung, fairer Handel und vor allem der Respekt vor unseren Ökosystemen als Lebens- und Schutzräume. Die Bewahrung natürlicher ökologischer Grenzen sowie das Achten von Tier- und Menschrecht sind nicht verhandelbar. Die Coronakrise ist ein Weckruf, der uns unmissverständlich daran erinnert, was passiert, wenn wir die Auswirkungen unseres menschlichen Verhaltens auf die Ökosysteme nicht begrenzen. Sie zeigt uns, dass unsere bisherigen Konzepte überholt sind. Diese Krise hat die Debatte über unsere Ernährung verändert und hat das Potenzial, dies nachhaltig zu tun. Und ich wünsche mir, dass uns das neben der vielerorts gewachsenen Solidarität bleibt. Daraus können wir ganz viel Wertvolles ziehen: Die Kreativität, die Vernunft und das Durchsetzungsvermögen sowie die Kraft, die wir brauchen, um uns für dieses bessere und gerechtere, auch menschlichere Lebensmittelsystem zu engagieren. Lassen Sie uns das Positive aus der Krise mitnehmen, lassen Sie uns gestalten und klug handeln.
Bleiben Sie weiterhin engagiert, kritisch und genussfreudig,
Ihre Ursula Hudson
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Quelle: Slow Food Magazin 03/2020