„Ich kann es gut vermeiden, einen Fuß in einen Supermarkt zu setzen.“

Dr. Ursula Hudson ist Vorstandsvorsitzende von Slow Food Deutschland e.V.. Gemeinsam mit MISEREOR veröffentlichte der Verein im letzten Jahr passend zum Reformationsjubiläum die „95 Thesen für Kopf und Bauch“ – eine Reformation des Ernährungssystems. Nun sprach Sie mit uns darüber, was aktuell schief läuft beim Thema „Ernährung“, ihr eigenes Konsumverhalten, Verbesserungsideen und die Zusammenarbeit mit MISEREOR.
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Dr. Ursula Hudson, Vorstandsvorsitzende von Slow Food Deutschland e.V. Foto: Würzberger/MISEREOR.

Was genau ist Slow Food und welches Ziel verfolgt ihr?

Slow Food ist eine weltweit agierende Bewegung von Menschen, die sich besonders stark für Essen und Essenszusammenhänge interessieren und einsetzen. Unser Ziel ist, das Lebensmittelsystem durch unsere Aktionen, aber auch durch unser eigenes Verhalten, dahingehend zu verändern, dass es aus unserer Sicht zukunftsfähiger und gerechter wird. Das heißt zum Beispiel, wir wollen qualitativ hochwertige, gesunde und saubere Lebensmittel ohne Chemikalien oder Antibiotikarückstände für alle Menschen weltweit. Wir wollen, dass mit Tieren respektvoll umgegangen wird. Wir wollen, dass die Erzeuger und Erzeugerinnen faire Preise für ihre Produkte erhalten. Wir wollen, dass sie zukunftsfähig, saisonal, regional und vielfältig anbauen, ohne die Umwelt und ihre Ressourcen auszubeuten. Diese Ziele setzen wir einerseits um, indem wir jung und alt durch Bildungsprojekte und Bewusstseinsbildung einbeziehen und zu mündigen Verbraucherinnen und Verbrauchern machen. Andererseits indem wir gemeinsam mit den Akteuren entlang der Lebensmittelwertschöpfungskette arbeiten, um die Prozesse zu verändern.

Wir sind in 160 Ländern in unterschiedlichen Stärken und Größen vertreten. Je nachdem, um welches Land es sich handelt, sei es im postindustriellen Norden oder im globalen Süden, sieht Slow Food dort anders aus. Eines steht aber fest: Slow Food wird immer auch von den Menschen vor Ort mitgestaltet, basisdemokratisch und auf der Graswurzelebene.

Was heißt das denn heruntergebrochen? Was kann jeder und jede tun?

Selbst kochen ist schon einmal der allerbeste Ansatz. Denn dann beginnt die Beschäftigung mit dem Thema und man übernimmt Verantwortung für das eigene Essen und mit allem, was damit zusammenhängt. Deswegen ist selbst kochen großartig. Der zweite große Schritt danach ist, dass man regional und saisonal einkauft.

Gleichzeitig ist eine 1:1-Umstellung auf Bio noch keine vollständige Lösung. Das macht eine Ernährungsumstellung auch schnell sehr teuer. Das Essverhalten sollte ebenfalls umgestellt werden, denn damit leistet man auch einen Klimabeitrag und einen Gesundheitsbeitrag für sich selbst. Das heißt, weniger Fleisch und Milchprodukte, mehr Gemüse, mehr Hülsenfrüchte. Dadurch kocht man vielfältiger. Und wenn man saisonale Produkte aus der Region kauft, die dann auch nach etwas schmecken, ist es gar nicht mehr so teuer.

Zudem hilft es, wenn man die Ansicht vertritt, dass Essen politisch ist. Zwar kann man auch im Privaten viel machen und sollte auch, wenn man das möchte, einen Beitrag durch sein eigenes Verhalten leisten. Man darf dabei aber nicht vergessen, für diese faire, gute Lebensmittelwelt die Stimme zu erheben und dafür zu kämpfen. Das ist nicht für jede oder jeden etwas, aber wenn man einen Hang dazu hat, dann sollte man das nutzen. Denn allein der Druck der Zivilgesellschaft auf unsere politischen Entscheidungsträger wird helfen, eine Lebensmittelwende herbeizuführen.

Wie und woher beziehen Sie Ihre Lebensmittel?

Da mein Mann Engländer ist, lebe ich sowohl in Südengland als auch in Süddeutschland. In beiden Ländern habe ich mir meine Bezugsquellen erarbeitet, in Südengland sogar noch etwas besser. Da sind es zwei biodynamische, genossenschaftlich organisierte Bauernhöfe in meiner Nähe. Allerdings muss ich sie trotzdem mit dem Auto anfahren, was vom ökologischen Fußabdruck betrachtet natürlich nicht ideal ist. Aber die Lebensmittelqualität und die Art und Weise, wie mit den Tieren umgegangen wird, ist so gut, dass es mir Wert ist, dort alle zehn bis vierzehn Tage hinzufahren. Meistens bringe ich dann auch für andere Menschen noch Einkäufe mit. Und dort gibt es einen tollen Bioladen, die Mutter der Bio-Bewegung.

Früher hatte ich auch einen großen Garten, der vor allem im Sommer mein Hauptlebensmittellieferant war. Aktuell ist das aber schwierig, weil ich sehr viel reise. Wenn ich also nicht wegen solchen Dingen wie Toilettenpapier oder Schuhcreme doch einmal einen Fuß in einen Supermarkt setze, kann ich es eigentlich gut vermeiden.

Ist in Deutschland unser Umgang mit Essen pervertiert?

Ja, bis zu einem gewissen Grad bestimmt. Aber ich möchte da eigentlich gar nicht in eine Konsumentenschelte verfallen. Das ist zu einfach. Ich würde sagen, es ist pervertiert, weil wir das Beste wollen und das Beste zum günstigsten Preis. In Deutschland schielt man mehr als in anderen europäischen Ländern auf den Preis. Gleichzeitig haben wir aber die höchsten Ansprüche. Und das ist pervers. Dessen ist sich aber kaum jemand bewusst und deshalb kann man es eigentlich auch niemandem vorwerfen. Es ist zu einer unguten Gewohnheit geworden, aus der man glaubt eine Berechtigung ableiten zu können, dass es weiterhin so bleiben muss.

Ursprung dessen ist die politische Entwicklung, die nach dem Krieg landwirtschaftlich natürlich erst einmal in die Breite gegangen ist und das Ziel hatte: Satt machen! Dann ist aber auch die europäische, landwirtschaftliche Politik auf diesen Zug aufgesprungen: Satt machen! Produzieren, produzieren, produzieren. Und Überproduktion drückt den Preis. So ist man schnell in einem System wie dem unseren: Es wird zu viel produziert, alles ist immer und überall verfügbar und es wird zu viel Weggeworfen. Niedrige Preise drücken jedoch die Erzeugerinnen und Erzeuger an die Wand. Die verborgenen Kosten dieser Lebensmittelproduktion geben wir an die nächsten Generationen weiter, denn diese vermeintlich günstige Produktion hat enorme Kosten und Folgen für Umwelt und Gesundheit. Statt Lebensmittel als Nahrung werden Lebensmittel in Monokulturen als Rohstoff für Kunst- und Kraftstoff angebaut. Oder als Tierfutter.

Diese Monokulturen brauchen jedoch hochgradig spezialisiertes Saatgut, das braucht wiederum hochgradig spezialisierte externe Inputs, also Pestizide und Düngemittel. Wir haben davon zu viel und nutzen es ineffizient, so dass es in die Böden gelangt. Unsere Böden werden immer unfruchtbarer, das kann man messen. Unser Grundwasser ist nicht sauber genug, wie auch die EU erst vor kurzem festgestellt hat und Deutschland eine Strafe aufgebrummt hat. In der Fleischproduktion gehen wir hoch unethisch mit Tieren um. Mit allen Konsequenzen von Antibiotikarückständen bis zur Belastung von Böden, Wasser und Luft. Und dann haben wir noch die Problematik mit der Lebensmittelindustrie, die für Fertigprodukte großzügige Mengen von Fetten, Zucker und Salz verwendet. Das ist dann natürlich nicht mehr gesund und steht im Zusammenhang mit der Zunahme von sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Diabetes. Das was der menschliche Organismus in seiner Komplexität an Mineralstoffen braucht, bekommt er eigentlich gar nicht mehr.

Wie kam es zur Kooperation mit MISEREOR?

Ich glaube, dass wir am Ende sehr ähnliche Ziele verfolgen. Wenn es um Gerechtigkeit geht und auch um die Qualität der Versorgung mit Lebensmitteln weltweit, dann haben wir durchaus gemeinsame Vorstellungen. Wir kommen nur von unterschiedlichen Standpunkten. Ich fand die Zusammenarbeit aus diesem Grund auch sehr schön. Ob man nun wie wir Slow Foodies sagen „Wir wollen den nächsten Generationen den Planet Erde als einen lebenswerten und auch einen sie noch ernährenden Planeten überlassen“ oder ob man sagt „Wir möchten die Schöpfung bewahren“, da ist dann nicht mehr allzu viel Unterschied.

Und es geht um eine gerechte Welt, eine Welt, in der alle ein gutes Leben haben. Dazu müssen wir hier, in Deutschland, auch viel tun. Der Zusammenhang muss gedacht werden. Was das Essen betrifft, sind wir ja furchtbar entfremdet. Nicht allein, was die Frage betrifft, woher kommt denn mein Essen, wer hat es denn gemacht oder dafür gesorgt, dass es da ist? Wir sind, was das Essen betrifft, völlig bezugslos geworden. Das finde ich ganz schlimm, denn Essen und Lebensmittel sind das, was uns wie nichts anderes zueinander in Beziehung setzt, also zu uns selbst, zu anderen, zu unserer Umwelt. Damit ist uns auch die Beziehung verloren gegangen, die uns aufzeigt, dass unser Ernährungshandeln sehr wohl etwas zu tun hat mit Menschen in anderen Teilen der Welt. Erst wenn man das wieder zusammenbringt, dann kann so etwas wie eine gerechte Ernährungswelt für uns alle entstehen.

Was ist Ihr Resümee der Zusammenarbeit?

Ich glaube nicht, dass wir jetzt ein Resümee ziehen wollen, denn wir wollen die Zusammenarbeit ja fortsetzen. Die Kooperation war dazu gedacht, um eine öffentliche Diskussion anzustoßen und diese in eine gewisse Richtung zu lenken. Somit war es nun ein wohlgelungener Anfang, aber ich bin davon überzeugt, dass es weitergehen muss! Denn wir haben in dem Jahr des Diskutierens noch keine Probleme gelöst (lacht), nur angestoßen und das ist ja schon einmal sehr gut.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Corinna Würzberger.


Sie finden die Quelle des Interviews >>hier.

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