Ursula Hudson im Eins zu Eins-Talk mit Bayern: Essen ist hochpolitisch
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Ursula Heller (UHe): Frau Hudson, wann haben Sie zuletzt einen Burger gegessen?
Ursula Hudson (UH): Das ist unglaublich lange her. Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht mehr. Es müssen bestimmt 15 Jahre her sein oder mehr.
UHe: Burger und Pommes, wenn das schon 15 Jahre her ist, kommt Ihnen so etwas kategorisch nicht auf den Tisch? Ist das der Sündenfall für Sie?
UH: Nein, eigentlich nicht. Den Burger kann man sich ja zuhause machen. Da nenne ich ihn dann nicht so. Da heißt er dann eben in gut Bayrisch ein Fleischplfanzl oder so etwas ähnliches zumindest. Das kann man sich selber sehr gut zubereiten. Damit kann das ein wunderbares Gericht ausmachen. Und genauso wenn man die Pommes doch wirklich aus den Kartoffeln selber macht. Und bei mir geht das eben zurück in die Zeit als die Kinder noch kleiner waren, oder die englischen Kinder zumindest noch kleiner waren. Da haben wir das zuhause öfters gemacht. Aber in einen Burgerladen oder so bin ich wirklich schon sehr sehr lange nicht mehr gegangen. Das finde ich ist, wenn man sich mit dem Essen beschäftigt und das ernst nimmt, schon ein bisschen ein Sündenfall.
UHe: Sie haben gerade die Kinder angesprochen. Sie selber haben einen Sohn und noch zwei Bonus- bzw. Beutekinder von Ihrem englischen Mann. Da kommen wir gleich noch drauf zu sprechen. Sind Sie eine Feinschmeckerin?
UH: Ich habe einen sehr guten Geschmackssinn, so würde ich das sagen und ich liebe es, wenn Essen gut, oft auch komplex schmeckt. Das kann man aber auch aus ganz einfachen, normalen Zutaten haben. Da geht es dann eigentlich um die Qualität des Ausgangsprodukts.
UHe: Wenn man den guten Geschmackssinn hat, dann frage ich mich, ist das antrainiert oder kann man den programmieren in gewisser Weise? Wenn ich jetzt an Kinder denke, viele sagen ja, meine Lieblingsessen sind Pizza, Pasta und noch mal wieder Burger. Was anderes schmeckt denen erstmal so gar nicht. Wie trainiere ich die um oder wie begeistere ich die, für das, was vielleicht gesünder ist?
UH: Durch Vielfalt auf dem Tisch. Es ist ja gegen Pasta oder den selbsgemachten Burger oder so etwas gar nichts einzuwenden. Aber wenn Vielfalt auf dem Tisch ist, dann beginnen die durchaus von selbst diese Vielfalt auszuprobieren. Da sind dann Dinge dabei, die ihnen schmecken, und Dinge, die ihnen nicht schmecken. Aber die lernen auch ihren Geschmackssinn zu verfeinern, zu sensibilisieren; haben, wenn das nicht alles unter Druck statt findet, „Du musst jetzt“, auch einen gewissen Spaß daran. Und über Jahre entwickeln die wirklich einen guten Geschmackssinn. Die englischen Beutekinder, die haben sich entwickelt von vorgefertigten Chicken Nuggets in Dinosaurierform hin zu wirklich jungen Erwachsenen, die ausgezeichnet selber kochen und selber schmecken können. Der Weg ist niemandem verstellt. Das geht, da wäre ich immer positiv.
UHe: In Corona Zeiten, Frau Hudson, was stellen Sie fest, ändert sich gerade was an unserer Einstellung zum Essen? Die Leute kochen wieder mehr, zwangsläufig.
UH: Zwangsläufig, also das Kochen und gemeinsame Essen ist offensichtlich wieder zu etwas sehr wichtigem geworden. Ich finde, das ist es ja außerhalb von Corona auch, aber das ist was anderes. Ja, es muss so sein, denn wenn man merkt, dass Mehl und Hefe ausgehen, und dann jetzt wochenlang sehe ich in bestimmten Supermärkten oder Biomärkten keine Eier, dann muss da schon eine große Nachfrage herrschen. Und es bleibt den Leuten ja gar nichts anderes übrig. Es sei denn sie unterstützen durch Abhol- oder Lieferservice die lokale Gastronomie. Man muss wieder selber kochen; und das ist vielleicht für viele eine positive Erfahrung.
UHe: Sie sind die Vorsitzende von Slow Food Deutschland. Ihre Organisation gibt es schon lang. Seit 30 Jahren. In drei Sätzen mal vorgestellt und erklärt, was wollen Sie erreichen?
UH: Wir wollen erreichen, dass das Lebensmittelsystem, aus dem wir uns ja schließlich ernähren und gesund erhalten, ein weltweit gerechtes, gutes und auch sauberes ist. Das heißt wir wollen uns nicht unbedingt von der Lebensmittelindustrie ein X für ein U vormachen lassen und wollen, das jeder Mensch Zugang zu guten Nahrungsmitteln hat. Das wirkt sich dann auf den Geschmack, auf den Teller aus und auch in die Politik hinein. Was uns wichtig ist, ist der Erhalt einer kulinarischen Vielfalt; das kann man auch als kulinarische Traditionen benennen, meint aber im Grunde nur, dass jeder Ort, jede Lokalität der Welt ihre eigene Kulinarik hat, ihre eigenen kulinarischen Traditionen. Dass ist das, was wir lieben, wenn wir wegfahren und gerne vergessen, wenn wir bei uns sind.
UHe: Wir wissen inzwischen, spätestens seit dem letzten Weltklimabericht, dass unsere Ernährung Auswirkung auf das Klima hat. Aber das ganze Thema, Sie haben es auch schon angesprochen, ist hochpolitisch. Es gibt sehr viel Kontroversen und es gibt sehr emotionale Diskussion zwischen den Politikern, zwischen den Lebensmittelherstellern, zwischen den Lebensmittelhändlern und den Bauern. Mit wem ist für Sie das Reden am schwierigsten?
UH: Das Reden ist eigentlich am Schwierigsten mit den Entscheidungsträgern auf höchster Ebene, also EU und Bundespolitik in dem Fall, weil dort bereits so viele Interessen eingeflossen sind, dass es für so eine kleine Organisation wie Slow Food, die zwar mit vielen guten Ideen auf den unteren Ebenen der Politik gut ankommt und auch dort, würde ich sagen, durchaus Einfluss hat aber nicht mithalten kann mit den großen Lobbyorganisationen, die seit Jahrzehnten da stehen und auf ihre Rechte, oder vermeintlichen Rechte pochen.
UHe: Haben unsere Politiker und andere Entscheidungsträger gar keine Zeit, sich um gesundes Essen zu kümmern? Wenn man sich da umschaut, dann stellt man fest, das soll jetzt kein Bashing sein, aber das einige ganz schön dick geworden sind.
UH: Ja, also ich frage mich das oft, wie Politiker sich eigentlich ernähren. Es ist ja, ich glaube immer noch nicht überall, so, dass in den Gemeinschaftsverpflegungseinrichtungen des Bundes oder auch der Länder, also das ist nicht in allen so, aber in ganz vielen Ministerien, dass das Essen dort wirklich grauenvoll ist, ja. Also man müsste mal vor der eigenen Tür erst kehren und vielleicht dort auch bewerkstelligen, was Gemeinschaftsverpflegung bewerkstelligen kann, nämlich direkte Erzeugerbeziehungen, eine gute, frische Küche und damit eine Vorbildfunktion erfüllen, die eine Gemeinschaftsverpflegung egal ob sie im Krankenhaus ist oder eine Ministerienkantine ja doch durchaus hat. Das finde ich schon sehr schwierig, warum es sonst so schwerfällt, wie Slow Food eben meint, den richtigen Weg zu gehen. Das verstehe ich auch nicht, denn die Fakten liegen ja auf dem Tisch zur Ernährung – der Einfluss auf Klima, auf Böden, Wasser, Biodiversitätsbverlust. Wir hatten es gerade in den letzten achtzehn Monaten ganz dicke mit den neuen Berichten. Das ist ja alles alarmierend. Und nicht zuletzt das, was wir jetzt haben, Corona. Das hat mit Verlust von Artenvielfalt und Eindringen des Menschen in Tierhabitate zu tun, in die der Mensch einfach nicht hineingehört. Und all dieses liegt auf dem Tisch und man könnte doch eigentlich denken, dass wir in aller Ruhe mal mit allen gemeinschaftlich einen besseren Weg finden als den der industriellen Produktion, die diese Probleme verursacht.
UHe: Frau Hudson, hatten Sie als Kind ein Lieblingsessen?
UH: Ich mochte immer gerne Mehlspeisen, und zwar so diese bayerischen Mehlspeisen, die Dampfnudeln meiner Mutter oder auch die Rohrnudeln sofern sie mit Zwetschge gefüllt war. Das waren großartige Dinge oder dieser Kartoffelschmarn, den kein Mensch mehr kennt. Ein Restevertungsgericht aus alten Kartoffeln. All so diese Dinge mochte ich wahnsinnig gerne und dann hatten wir immer viel Gemüse aus dem Garten oder anfangs war es der Schrebergarten, später irgendmal der Garten der Eltern. Das fand ich immer ziemlich gut.
UHe: Haben Sie da mitgepflanzt und mitgeerntet?
UH: Ja, ich hatte sogar so mini Beetstreifen, das war auch fein und ich kann mich immer an Lust und Frust beim Versuch, Karotten wachsen zu lassen, gelbe Rüben, erinnern. Das war nicht immer sehr erfolgreich. Und manchmal fand ich die Nachmittage im Garten ziemlich langweilig und trollte da so auf dem Weg herum in meiner Erinnerung. Aber irgendwann war das interessant und spannend.
UHe: Wenn Sie uns mal mitnehmen in ihre Kindheit zuhause in Garmisch-Partenkirchen. Wonach hat es in der Küche gerochen?
UH: Eigentlich hat es in der Küche immer nach einer Fleischsuppe gerochen. Meine Mutter hatte irgendwo immer so was wie eine Fleischbrühe stehen. Das war oft auch nur eine ganz einfache Knochenbrühe, die halt für alles dann zur Verfügung stand. Ob es das mit etwas Mehrschwitze angekochte Petersiliengemüse mit Kartoffeln war, ob das der Braten am Sonntag war, der aufgegossen werden musste. Die war einfach immer da und es roch immer so ein bisschen nach dieser – wie ich heut aber auch noch finde – guten Brühe.
UHe: Also das ist ein angenehmer Geruch, der Ihnen noch in der Nase steckt, oder?
UH: Ja, das ist für mich ein angenehmer Geruch. Und der andere Geruch war dann der Backgeruch. Also wurde dann auch viel gebacken, diese Mehrlspeisen sowieso schon und dann aber auch die Kuchen für den Sonntag oder der Zopf, der auch immer gebacken wurde fürs Sonntagfrühstück, am Samstag und all so diese Dinge. Und das ist der andere Geruch.
UHe: Klasse, also gab es zuhause dann schon so eine Prägung was Essen betrifft oder was die Sensibilität für gute Essen, den Appetit darauf angeht.
UH: Ja, das war eine sehr einfache Küche. Also weil man auch nicht viel Materielles zur Verfügung hatte, um die Küche irgendwie mit fancy Dingen oder irgendwelchen modischen Einflüssen oder Trend-Einflüssen aufzupeppen.
UHe: Fancy Dinge, das ist ihr britischer Einfluss, oder?
UH: Ja, genau. Es war eine sehr einfache, bodenständige Küche mit tendenziell wenig Fleisch. Der Sonntagsbraten, das Nachessen des Sonntagbratens am Montag. Irgednwann gab es dann mal eine Innerei, und am Samstag ging es dann wieder los mit der Brühe, die sich dann als Kochmittel durch die Woche zog.
UHe: Frau Hudson, Sie haben gerade Gerichte angesprochen, die heute keiner mehr kennt. Also dieser Kartoffelschmarn. Wie war das noch mal das Wort?
UH: Der heißt Howa.
UHe: Sorgen Sie als Slow Food auch dafür, also als Organisation, dass so in Vergessenheit geraten, gute alte Rezepte nicht verloren gehen? Sondern, dass sie wieder aufleben? Haben Sie ein Faible für alte Kochbücher?
UH: Ja, für alte Kochbücher, aber eigentlich würde mich selber noch mehr interessieren, das was als einfache Hausküche, also in Italien gibt es die Cucina povera - die Armenküche bei uns; im Grunde ist das ja nichts anderes was so von Mund zu Mund überliefert ist oder eigentlich nur in so Hausrezepten festgehalten ist. Das ist noch mal anders als die Kochbuch-Küche. Die geht schon durch so eigentlich so was kleines gefiltertes durch und da erfährt man schon gar nicht mehr ganz richtig, wie es eigentlich gemacht war. Das Problem ist, dass das meistens gar nicht aufgeschrieben wurde, sondern eben von Mutter zu Tochter und weiter durch das, was ich immer das Handgefühl nenne, vermittelt wird, weil diese Hausfrauen ja auch gar keine Kochbücher benutzten, oft überhaupt keine Waagen. Die wussten einfach wie es geht. Und wenn man es oft genug macht, dann weiss man es selber auch. Das erfahre ich auch gerade und das ist sehr interessant. Wenn man immer die gleiche Schüssel nimmt, immer das gleiche macht, dann braucht man überhaupt keine Waage mehr, weil man weiss, dass es stimmt.
UHe: gab es für Sie ein Schlüsselerlebnis? Sie Sind Kulturwissenschaftlicher, wann Sie begonnen haben, sich so wirklich brennend für dieses Thema zu interessieren und einzusetzen?
UH: Also das Kochen im Haushalt war normal für mich. Ich hatte ja sehr früh meinen Sohn, da war ich noch Studentin, da musste ich dann sozusagen anfangen, die Alltagsversorgung zu übernehmen und das lief parallel. Und als ich dann nach meiner Promotion in München an die Universität Bayreuth ging, das war 1992 oder 1993, da hatte der Lehrstuhlinhaber, dem ich dann zugeordnet war, an dessen Lehrstuhl ich arbeiten durfte, mir sofort die Aufgabe gegeben – es war wie ein Aprilscherz, ich hab dort am 1. April angefangen, und mir kam das so schräg vor. Er sagte „Und jetzt übernehmen Sie mal die Ausstellung mit den Studenten in der Universitätsbibliothek zum Essen und dem Buch“. Da hab ich mich dann aber erstmal lange gedreht und gewendet und mit den Studenten gesprochen, die da schon ein bisschen gearbeitet hatten, weil diese Kombination die war mir noch ganz fremd war. Da hatte ich damals wirklich sehr sehr wenig Vorstellung von. Natürlich hatten wir Filme gesehen, wie Babettes Fest und solche Sachen, wo schon klar war, es gibt einen starken Bezug zwischen Essen und Kunst. Aber das Essen und das Buch, das war damals neu aufgeschlagen und da begann eigentlich die Phase der kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema Essen. Ich fand es dann ein großartiges Thema, denn an diesem Lehrstuhl waren Deutschlehrende aus verschiedenen Ländern in Sommeruniversitäten zusammengefasst und wenn man dort unterrichtet hat, also Weiterbildung für diese bereits fertigen Dozenten, dann war immer das Thema Essen das eigentlich beste Thema, um mit Studenten aller Kulturen der Welt sprechen zu können überhaupt. Denn es ist in der Tat ein Universalthema des Menschlichen, da gibt es dann noch ein paar andere wie das Geboren werden, das Sterben und vielleicht auch noch die Sexualität und Fortpflanzung. Das sind aber alles Themen über die man verschieden kulturell gar nicht sprechen kann. Entweder gibt es keine Erfahrungen, weder vom Sterben noch vom Geboren werden, auch daran kann sich kaum jemand erinnern. Und das mit der Sexualität ist divers kulturell natürlich sehr schwierig. Da ist das Thema Essen durchaus das allerbeste Thema. Ich fand das hinreißend.
UHe: Seitdem ist das Ihre Leibspeise geworden?
UH: Richtig.
UHe: Frau Hudson, nennen Sie doch mal die drei Attribute, die Sie als Person, als Mensch beschreiben.
UH: Ich bin immer sehr zuversichtlich, ich bin sehr menschenbezogen und immer furchtbar selbstkritisch.
UHe: Ist das positiv?
UH: Ja und nein. Diese Selbstkritik ist sehr janusköpfig. Die ist sicherlich sehr gut und sehr regulierend. Aber manchmal auch sehr hinderlich.
UhE: Auch so ein bisschen typisch Frau, oder?
UH: Ja, ich finde das ist typisch Frau und ich frage mich immer, welche Wege finde ich noch, um das auf eine positive Art und Weise loszuwerden. Aber macht nichst. Es begleitet mich, gehört zu mir und das ist auch gut so.
UHe: Es ist ja auch die Frage, ob man so etwas überhaupt raus kriegt aus dem System oder ob das nicht ein Lebensmuster ist.
UH: Ja ich glaube es ist ein Lebensmuster wie so einiges.
UHe: Da werde ich natürlich neugierig. Was ist sonst so ihr Lebensmuster, außer dem Essen?
UH: Ich bin wirklich ein Menschen-Mensch. Das habe ich auch sehr spät festgestellt. Ich dachte immer ich sei ein Bücher-Mensch aber ich bin eigentlich ein Menschen-Mensch und finde in Slow Food oder in der Tätigkeit, die mir Slow Food bietet oder schenkt, würde ich fast sagen, eigentlich die ideale Verwirklichung beider, weil ich mich mit Büchern, Wissen, klugen Menschen, einzigartigen Menschen, sehr individuellen Menschen täglich eigentlich befassen darf und das ist was ganz großartiges. Sodass ich das, was ich früher als meine etwas krumme, krummfällige, schräge Frauenberufslaufbahn, ich würde es jetzt gar nicht mal mehr Karriere nennen, durchaus darin sehr persönlich und positiv einbetten kann.
Uhe: Was war denn krumm an Ihrer Laufbahn?
UH: Na ja, wenn man mit 20 ein Kind kriegt oder knapp 21, dann ist es erst einmal sehr krumm, wenn man gerade ein Studium begonnen hat. Dann hatte ich immer Pläne, wenn man so etwas macht wie Deutsch als Fremdsprache oder interkulturelle Germanistik, man eigentlich ja auch ins Ausland will, ins Ausland soll. Das hat das Kind aber dann sozusagen eigentlich nicht in dem Maße zugelassen, weil ich dann auch sehr schnell mich von meinem Ehemann getrennt habe. Ich war dann sehr früh eine alleinerziehende Studentin, die durch die Uni München zog.
UHe: Wahrscheinlich ziemlich exotisch damals, oder?
UH: Es war wahnsinnig exotisch und es wurde noch viel exotischer dadurch, dass ich eine sehr enge Freundin hatte, die ein Mädchen zur ungefähr selben Zeit zur Welt gebracht hat wie ich meinen Sohn, dann sehr schnell noch ein zweites Kind danach und dann in eine Postschwangerschaftsdepression verfiel, sodass ich mich um diese zwei Kinder gekümmert habe. Und ich kann mich erinnern, dass ich dann so Anfang der Achtziger mit drei kleinen Kindern durch die Uni zog. Das war schon sehr, sehr schräg, aber ich habe dann auch irgendwann endlich meinen Weg gefunden zurück eigentlich in die Germanistik. Ich habe irgendwie so viele Fächer studiert, das durfte man damals ja alles, was ganz großartig war oder in viele Fächer hineingeschnuppert und irgendwann den Weg zurückgefunden in die Fächer, in denen ich schon am meisten Scheine hatte, um irgendwann dann doch auch mal den Abschluss zuwege zu bringen und in diesem Moment bin ich dann auf einen Dozenten gestoßen, der dann auch gesehen hat, was sozusagen an mir alles dranhängt, also diese sechs Kinder bei mir da in den Kinderwägen und mir auch die Möglichkeit geboten hat, mich da irgendwie anzudocken, um studentische Hilfskraft zu werden und dann kam so manches in relativ geregelte Bahnen damals. Das hat mir dann auch ermöglicht, das Studium abzuschließen und irgendwann dann auch noch zu promovieren. Das wäre sonst nicht möglich gewesen. Man muss auch Glück haben und auf die richtigen Menschen stoßen.
UHe: Und man muss, wie Sie eben sagten, zuversichtlich sein, also eine Ihrer Kernkompetenzen. Haben Sie nie damit gehadert mit dieser Situation, wenn Sie dann im Vergleich gesehen haben, wie leicht es andere haben?
UH: Ach doch, unglaublich. Ich habe da schwer gehadert damit und die Zuversicht habe ich, glaube ich, auch erst in mehreren Lebensjahrzehnten errungen. Es war nicht immer so. Ich habe sehr damit gehadert und ich habe Studenten einfach beneidet, die sich hinsetzen konnten und in die Bibliothek gehen und einfach da sitzen. Aber ehrlich gesagt, ich bin die gar nicht. Also ich mag das eben schon beides, das Tohuwabohu auch der drei kleinen Kinder und das Studieren und das nebenher und das dann irgendwie auch zusammenbringen müssen und irgendwann dann auch können. Das mag ich schon sehr gern und das gehört auch zu mir.
UHe: Aber so eine wilde Zeit, wie manche Studenten das haben, so einen auch mal draufmachen und die Nacht durchfeiern, das gab es praktisch gar nicht bei Ihnen, oder?
UH: Es gab es schon und das gab es dann wenig. Ich hatte Gott sei Dank sehr junge Großeltern für das Kind, also meine Eltern und dadurch das alles so zeitlich nach vorne gezogen war und diese jungen Großeltern, die haben sich sehr um diesen Sohnemann gekümmert und haben den immer mit in die Berge genommen und da hatte ich dann auch mal Ferien, richtig. Und das Kind hat sehr früh Zugfahren gelernt und fuhr nach Partenkirchen und ich hatte dann doch mal eine Woche oder zwei zum Draufhauen. Ging schon. Nur anders.
UHe: Hat das Kind auch einen Namen?
UH: Der heißt Johannes.
UHe: Und von Ihren Eltern hatten Sie volle Rückendeckung? Klingt da so durch.
UH: Ja, doch. Also für das Kind immer, nicht immer für mich, glaube ich, aber für das Kind immer. Ja, ist ja auch nicht so einfach, wenn man in so, ich würde das ja immer positiv archaische katholische Verhältnisse nennen, aufwächst, wenn dann die Tochter mit 20 schwanger ist und das ist ja Dorf hier, trotzdem noch, und das ist ja zurück in den späten Siebzigern, das war da auch noch nicht so ganz lustig für alle Beteiligten und deswegen fürs Kind immer und für mich nicht immer, aber das hat sich irgendwann dann auch auf eine sehr positive Art und Weise entwickelt und ist seit Jahrzehnten ein grandioses Verhältnis zu meinen Eltern.
UHe: Toll. Dorf heißt? Wo haben Ihre Eltern damals gelebt?
UH: Na ja, ich bin geboren in Garmisch-Partenkirchen. Meine Eltern wohnten dann ein paar Jahre am Rande von Garmisch und dann sind wir ein bisschen umher gezogen, bis wir uns dann, da war ich dann sechs, nein, dann war ich schon ein bisschen älter, zehn, 66 in Garmisch-Partenkirchen endgültig wieder niedergelassen haben. Ich wohnte dann in Grainau. Kennt man wegen der Zugspitze und dann in Linderhof und Linderhof war für mich das aller Großartigste. Das war fantastisch. Das ist so Bullerbükindheit. Drei Jahre Bullerbü hatte ich.
UHe: Also das war noch nicht die Überschwemmung mit Touristen, sondern noch eher so?
UH: Nein, da war nichts, da war gar nichts. Mein Vater arbeitete damals als Zollbeamter und hatte einen großen Hund, weil er immer Streife gehen durfte. Ich glaube, das war sein großes Glück. Als der Streifendienst wegen der politischen Veränderungen, die ja sehr positiv waren, nicht mehr stattfanden, war mein Vater ein unglücklicher Grenzbeamter, aber bis dahin war er ein Glücklicher, weil er in die Berge durfte. Deswegen sind wir nach Linderhof gezogen und dort war die Grenze nach Österreich ein halbes Jahr gesperrt, von Oktober bis März war da nichts, weil es da so viel Schnee hatte. Da war auch im Sommer nicht viel los und wir waren so eine Kinderrasselbande von, ich weiß nicht, zwischen uns Kindern immer, zehn wenn es viele waren oder 12, gingen alle gemeinsam in eine Schule, in ein Klassenzimmer. Das war himmlisch. Der Schlosspark war unser Spielplatz und wenn da mal Touristen kamen, vor allem im Sommer, waren es dann auch relativ viele. Also für heutige Verhältnisse leer. Für uns war das damals viel, weil da haben viele Menschen dann unseren Spielplatz besetzt, mit denen trieben wir dann etwas Schabernack. Aber es war himmlisch.
UHe: Also so eine richtige Zwergerlschule.
UH: Ja, das war eine Zwergerlschule. Wir waren da irgendwie alle Jahrgangsstufen in einem Klassenzimmer und die drei Erstklässler, die machten den stärksten Jahrgang aus.
UHe: Frau Hudson, Sie waren lange alleinerziehend mit ihrem Sohn Johannes, haben dann aber, was wir jetzt schon wissen, doch geheiratet, nämlich einen Engländer und die Geschichte, die klingt wie aus dem Roman. Die erzählen Sie uns bitte nach der nächsten Musik, nach einer Musik von Sting, und zwar „All Four Seasons“.
UHe: Ursula Hudson ist bei uns, sie kommt aus Oberbayern. Hat uns gerade erzählt von ihrer Kindheit in Linderhof, ist Kulturwissenschaftlerin, promoviert und leitet die Organisation Slow Food Deutschland, die sich um faires, besseres Essen kümmert. Der Song, den wir gerade gehört haben, Frau Hudson, ist aus dem Jahr 1996. Das ist ein Schlüsseljahr für Sie, denn da sind Sie nach England gezogen. Ihr Mann ist Brite, Mister Hudson nämlich. Ist das Liebe auf den ersten Blick mit Ihrem Mann?
UH: Ja, das war unglaublich. Wir haben uns kennengelernt auf einem Flug zwischen London und München. Ich war auf einer Konferenz in London und er war damals zuständig als IT-Sachverständiger für die Engführungen von BMW und Rover. Der Flieger war schon voll und ich saß auf einem Mittelplatz. Neben mir am Gang war noch frei. Es kam dann so ein Menschenwesen, völlig hektisch, abgehetzt in allerletzter Minute und setzte sich dahin und ich war vorhin in China gewesen und hatte in den chinesischen Flügen auch immer so beobachtet, was so um mich rum ist und los ist. Und was ich mir aus China so mitgenommen hatte als wirklich Negativerfahrungen beim Fliegen ist chinesische Männer, die ihre getrockneten Fische auspacken und sie dann essen. Also olfaktorisch einfach Hölle und ich dachte mir: „Gott sei Dank kein chinesischer Fisch ausgepackt“. Und ich war am Abend vorher im Theater gewesen und mein Englisch war beim Lesen passiv ein sehr Gutes, sprechend recht schlecht, weil ich hatte ja seit Abitur, das war dann schon ein Weilchen her, es eigentlich nie mehr so richtig brauchen müssen. Und dann, ich war im Theater gewesen, hatte Oscar Wilde, „An Ideal Husband“ mir angeschaut und fand das Stück fantastisch, ging am nächsten Tag in die Buchhandlung, kaufte mir drei Stücke von Oscar Wilde in einem Band und fing an nachzulesen, weil mir war natürlich auf der Geschwindigkeit des Bühnensprechens einiges entgangen, auch an Witz. Und dann saß ich da und las meinen „An Ideal Husband“ und dann schielte ich, wie ich das immer mache, muss ich sagen, eine schlechte Eigenschaft, auf das Buch, das mein Nachbar las und mein Nachbar las irgendetwas Interessantes über diese Kornkreise in England, die damals wirklich überall war und dachte mir: „So etwas Interessantes“. Und das Menschenwesen fing dann an, mit mir zu sprechen. Das war natürlich ein bisschen mühsam, weil ich ja so schlecht sprach, aber es hat irgendwie gefunkt und funktioniert und wir landeten in München bevor wir uns überhaupt umsehen konnten oder ich mich. Eigenartig fand ich schon das am Ende, das war alles so spannungsgeladen. Am Ende dachte ich mir noch: „Nein, das kannst du jetzt nicht ziehen lassen. Wenn du jetzt da nicht noch den Kontakt zuknüpfst, dass man da nochmal sich treffen kann oder nachschauen kann, dann entgeht dir etwas, was dich wahnsinnig ärgern wird.“ Also habe ich meinen Mut zusammengefasst und offensichtlich ging es meinem männlichen Gegenüber, der Guy heißt, genauso und wir haben dann Visitenkarten ausgetauscht, haben uns am Tag danach in München getroffen und ich glaube, beim ersten Treffen danach haben wir beschlossen, innerhalb von 24 Stunden, dass wir das jetzt gemeinsam machen, den Rest des Lebens. Das haben wir gemacht.
UHe: Da kriegt man richtig eine Gänsehaut. Also als Romanstoff würde das wahrscheinlich abgelehnt, als zu kitschig.
UH: Ja, das ist viel zu kitschig. Ich habe mir auch immer gedacht, das Leben ist viel kitschiger als die Literatur.
UHe: Frau Hudson, Sie sind dann mit Ihrem Sohn nach England gezogen.
UH: Bin ich gar nicht. Ich habe mich in Bayreuth auf ein Jahr beurlauben lassen, habe die Wohnung abgepackt und mit meinem Sohn lange überlegt, was wir jetzt machen, denn der war damals 16 und er war eigentlich zu alt für das englische System. Das hat eigentlich überhaupt nicht gepasst. Das ist eigentlich die schlechteste Zeit, um in Gänze in die Schule nach England zu gehen. Da hätte unter Umständen nochmal ein Jahr verloren. Das wäre nicht so gut gewesen und wir haben dann überlegt, außerdem, um ehrlich zu sein, da war auch ein gewisses, zumindest rational betrachtet, Risiko dabei, dass ich auch wiederkomme. Und dann haben wir überlegt, was er wohl macht und was er machen möchte und da gab es dann verschiedene Optionen zum Vater nach München, zu dem er immer einen engen Kontakt hatte an seine alte Münchner Schule zurück, das war das Pestalozzi-Gymnasium, nach Garmisch-Partenkirchen zu den Großeltern eine enge Beziehungen, nach Ettal, um Tagesschüler zu sein. Und mein Sohn hat dann mit 16 selber beschlossen, dass er nach Ettal als Internatzüglin gehen möchte. Das fanden wir alle sehr erstaunlich. Er hat das sehr gut begründet. Er hat gesagt, er war so lange allein. Er möchte eigentlich jetzt nicht nochmal in so eine Alleinsituation, also ohne Geschwister und er möchte gerne in Ettal ins Internat und das erste Jahr war furchtbar hart für uns beide. Am Telefon haben wir immer nur geheult, aber es war das Beste, was er je machen konnte für sich und das sagt er heute auch noch. Es war wirklich für ihn eine Welteröffnung. Er hatte dort auch ganz großes Glück natürlich mit großartigen Menschen, die seine Betreuer wurden, die ihm auch irgendwie angesehen haben, dass er ein sehr, sehr entwicklungsfähiger, netter junger Mann ist und das ist er auch geworden.
UHe: Toll. Und sie sind aber doch dann auf die Insel gezogen?
UH: Genau, ich bin 96 Ende August auf die Insel gezogen.
UHe: Als Misses Hudson dann schon?
UH: Nein, noch nicht als Misses Hudson. Da war ich immer noch Misses Wiedenmann und Misses Wiedenmann hatte sich im Laufe dieses Sommers eine Stelle an der University of Warwick gesucht, hatte auch einen kleinen Lehrvertrag gleichzeitig in Cambridge und mit dieser Jahresvertretung einer Dozentin, die auf ihrem jährlichen Studienaufenthalt vom Unterricht befreit war, kam auch ein Häuslein in den sogenannten Cotswolds, das ist im Westen von Oxford, in der Nähe von Oxford und das war ein Beginn in England, landschaftlich und auch vom Wohnen her und arbeitsmäßig, wie ich ihn mir nicht besser hätte erträumen können. Da hatte ich einfach wieder Glück.
Uhe: Bis wann haben Sie in England gelebt, Frau Hudson?
UH: Eigentlich offiziell lebe ich immer noch dort. Ich bin nur in den letzten Jahren sehr viel mehr in Deutschland gewesen, weil ich einfach in Deutschland angebunden bin durch verschiedene andere Entwicklungen der letzten Jahre und jetzt bin ich fast ein ganzes Jahr in Partenkirchen gewesen, um meine Eltern zu versorgen, die jetzt beide fast 90 sind. Sie sind nicht mehr so fit.
Uhe: Sie pflegen ihre Eltern, Sie kümmern sich um Slow Food und es gibt noch einen dritten Grund, einen sehr persönlichen, warum Sie viel in Oberbayern sind. Sie werden an der Uniklinik, an der LMU gut betreut. Erzählen Sie uns davon?
UH: Ja, ich bin im Spätsommer 2017 völlig überraschend nach Rückenbeschwerden, die den ganzen Sommer andauert, mit einem kleinen Lungenkarzinom diagnostiziert worden. Das kleine Lungenkarzinom wäre gar nicht das Problem, aber eben diese vielen kleinen Metastasen, die sich bereits in meinem Rücken entwickelt haben, also in meinem Torsoskelett, die sind das Problem und da bin ich auch durch viele glückliche Telefonate, Hände, Menschen in München an der Universitätsklinik gelandet und bin seither dort in, würde ich sagen, ganz fantastischer Betreuung.
Übergang zum Thema Schnippeldisko.
UHe: Was bitte ist eine Schnippeldisko?
UH: Eine Schnippeldisko ist ein Zusammenkommen von vielen jungen Leuten, aber Nichtjunge dürfen auch dabei sein, die Lebensmittel gemeinsam aufschneiden, herrichten, zubereitet werden unter den Klängen von entsprechender Discomusik und das ist was Großartiges. Das hat unsere Slow Food Jugend relativ bald für die große Demo in Berlin entwickelt. Im Januar findet ja aus Anlass der Grünen Woche und der Agrarministerkonferenz immer eine große Demonstration seit zehn Jahren statt, von Bauern und Essern gemeinsam für ein besseres Lebensmittelsystem. Da ist Slow Food Mitträger dieser Veranstaltung und weil es im Januar auch oft kalt ist und Slow Food sich in den Jahren davor schon seit 2010 mit dem Thema Lebensmittelverschwendung beschäftigt, das heute ja in aller Munde ist, hat die Slow-Food-Jugend, die damals noch ganz klein und unscheinbar war sozusagen, als Gruppe dieses Format erfunden und hat gesagt: „Warum fahren wir nicht zu den Bauern da draußen in Brandenburg und holen das ab, was bei denen jetzt noch rumliegt und nicht mehr verkauft werden kann oder was eben nicht marktkonform ist, der Schönheit nicht entspricht. Holen uns das, schnippeln das gemeinsam eben mit einem DJ und kochen das dann in so eine große vegane Suppe und teilen das aus für die durchfrorenen Demonstrationsteilnehmer? Das war die erste Schnippeldisko, denn mittlerweile kommen da irgendwelche Redner, es kommt Slow-Food-Jungvolk und Slow-Food-nahes Jungvolk aus europäischen Ländern dazu, weil ja auch diese Demonstration in Berlin was ganz Besonderes ist und dieses Format ist in allen Länder. Heute kann man ja „viral“ nicht mehr sagen, so etwas geht viral, aber diese Schnippeldisko hat sich in alle Länder sofort hinausgetragen und es gibt mittlerweile, der war jetzt letztes Wochenende, eine World Disco Soup Day seit zwei, drei Jahren und dann schnippeln die jungen und alten Menschen in aller Welt und machen auf Lebensmittelverschwendung auf diese Art aufmerksam und vergnügen sich dabei und dieses Jahr war das Online, also ich war auch mit dabei in so einem großen Zoom-Meeting, das wir ja alle andauernd machen, aber das hat gut funktioniert und die jungen Menschen haben in ihren Küchen geschnippelt und DJs spielten Musik ein und das war auch so ein zumindest interessanter und heiterer Event.
UHe: Klasse. Also Sie kümmern sich und krumme Gurken, schiefe Karotten und machen dazu peppige Musik mit der Paprika. Haben Sie grundsätzlich ein Herz für Außenseiter, nicht nur was Gemüse betrifft?
UH: Ja, wahrscheinlich schon, aber das kommt aus der Umwelt, Gerechtigkeitsgefühlen heraus, also Frauen, Indigene, von der Gesellschaft ausgegrenzt. Ich finde, da haben wir alle sehr viel zu tun und ich finde, Corona lehrt uns da auch gerade sehr viel, dass wir eigentlich als Gesellschaft ganz schnell bereit sind, sehr eng zusammenzustehen und zusammenzurücken, auch in einer Zeit, in der man das nicht kann, aber Solidargemeinschaften, die sich da gebildet haben, ganz neu, ganz spontan, furchtbar und wunderbar kreativ; das zeigt, dass die Gesellschaft durchaus fähig ist, eigentlich anders zu agieren und andere Schwerpunkte zumindest zu setzen. Im Großen und Allgemeinen Handeln, als das die letzten Jahre so der Fall war.
UHe: Also Corona in der Tat auch eine Chance zum Innehalten, sich neu finden, ein Stresstest für die Gesellschaft. Sie haben uns eben erzählt, dass auch durch Ihre Krankheit, jetzt mal abgesehen von der Tatsache, dass Sie ohnehin ein sehr zuversichtlicher Mensch sind, jeder Tag für Sie noch kostbarer geworden ist. Schaffen Sie es denn grundsätzlich, jetzt so ein bisschen vom Gas zu gehen und weniger zu machen? Oder sind Sie dafür zu begeistert?
UH: Ja, die Gefahr der Begeisterung und ich sehe immer, wo Handeln nottut oder wo man jetzt handeln muss, damit es dann bereits etabliert ist und nicht verloren geht. Also ich bin schon sehr getrieben von Begeisterung und Bewegenwollen. Ich habe auch das Glück, dass ich von Leuten umgeben bin, ob das Berlin, die Geschäftsstelle ist oder im Grunde das Slow-Food-Netzwerk, doch zu einem ganz großen Teil, die mitbewegen wollen und das ist natürlich was sehr Schönes und das ist für mich sehr gefährlich, weil ich dann schon sehr begeisterungs- und handelnwollend getrieben bin.
UHe: Gibt es ein tägliches Ritual, das Ihnen gut tut?
UH: Ich mache ein bisschen Tai Chi. Ich lerne es gerade neu. Habe das schon mal vor 100 Jahren in meinem Leben gemacht, aber damals nie so, wie ich es eigentlich gewollt hätte oder wie ich es mir vorgestellt habe, dass es sein könnte und jetzt habe ich jemanden gefunden, lustigerweise hier in diesem kleinen Garmisch-Partenkirchen, der mir das oder die mir das so beibringen kann, wo es auch sehr um den, spirituell ist zu hochgegriffen, aber wo es so um das Feingliedrige, das eher Geistige auch geht und nicht nur um das Bewegungslernen und leider bin ich da jetzt gestoppt in meinen wöchentlichen Klassen. Die können jetzt nicht stattfinden oder mein Unterricht. Aber das, was ich bisher gelernt habe in einem halben Jahr, das mache ich dann ab und zu und das andere ist, dass ich versuche jeden Tag wirklich rauszugehen. Rauszugehen für mich, also nicht nur einkaufen oder Radel nehmen, sondern für mich rausgehen und einen Spaziergang machen.
UHe: Schön. Können Sie sich vorstellen, wieder in England zu leben in Zeiten des Brexits?
UH: Nein, das ist ja das Traurige. Ich glaube, das ist die ganz große Traurigkeit in mir, wenn ich eine habe. Das ist wirklich die des Brexits und der Entwicklung, die das Land im Moment nimmt unter dieser Regierung Johnson. Das ist einfach nur zum Verzweifeln, zum Haareraufen, zum Weinen und insofern tun mein Mann und ich uns gerade wirklich schwer, eben herauszufinden, wie wir denn die letzten Jahre unseres Lebens noch gestalten und wo wir sie gestalten. Ich liebe unser Zuhause in England, ich liebe unser Dorf, ich liebe die Umgebung, die Landschaft. Hatte dort mal einen sehr schönen Garten, einen sehr schönen Gemüsegarten. Ich würde wahnsinnig gerne dort einfach wieder leben, aber unter Zeiten des Brexit weiß ich gar nicht, ob das geht, also ob das rechtlich überhaupt noch geht, also ob ich dort nicht jetzt als Touristin eingestuft werde, weil ich so lange nicht in England war und damit mein Recht auf dauerhaften Aufenthalt verliere. Das kann durchaus sein. Die Zeichen stehen danach. Eine Staatsbürgerschaft erhalte ich sowieso keine, weil ich nicht zuletzt wegen Slow Food, aber auch der anderen Dinge mehr als 150 Tage außer Landes bin. Das kann sein, dass ich trotz 23 Jahre England, Kindergroßziehen, Steuernzahlen, Arbeiten, am Ende nur noch den Status einer Touristin in meiner zweiten Heimat habe und das ist eigentlich unerträglich.
UHe: Da wünschen wir viel Glück, dass das irgendwie gut ausgeht für Sie. Darf ich Sie als Letztes noch fragen? Am Sonntag ist Muttertag. Hat es eine Bedeutung für Sie?
UH: Nein. Nein, hat es keine. Hat es auch schon seit meiner Kindheit nicht. Meine Mutter hat immer schon gesagt: „Es ist doch einfach nur Blödsinn und die Blumen könnt ihr euch sparen. Entweder ist immer Muttertag oder nie.“
UHe: Ich danke Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch. Wir wünschen Ihnen alles Gute, Gesundheit und Glück, was den Lebensort der nächsten 30 Jahre betrifft. Dankeschön für das Gespräch, Ursula Hudson, die Vorsitzende von Slow Food Deutschland.