Bruderkalb: Oberrot, Baden-Württemberg (2020)

07.02.2020 - Viele ökologisch wirtschaftende Milchviehbäuer*innen geben den männlichen Nachwuchs ihrer Milchkühe nur mit Unbehagen in konventionelle Mastbetriebe ab. Bislang aber fehlt es an wirtschaftlich tragfähigen Alternativen. Einige Milchviehbetriebe in der Bio-Musterregion Hohenlohe testen mit der „Bruderkalb-Initiative“ neue Wege der Aufzucht und Direktvermarktung. Slow Food unterstützt das Projekt und lud im Rahmen des SFD-Jahresthemas #GuteMilch zu einer Wurzeltour nach Hohenlohe ein. Hier gab es für die rund 70 Gäste mehr Informationen und eine Verkostung des Fleischs.

„Schade, es ist ein Junge“, denkt so manche*r Landwirt*in, wenn ein Bullenkalb zur Welt kommt. Für reine Milchviehbetriebe hat der männliche Nachwuchs keinen Nutzen, schließlich geben die Tiere keine Milch. Was also tun mit den Kälbern? Normalerweise werden sie im Alter von zwei Wochen an Mastbetriebe abgegeben. Doch schon dem Transport in die oft im europäischen Ausland gelegenen Betriebe überleben viele Kälbchen nicht. Und auch die nächsten Wochen sind kritisch, denn in diesem jungen Alter ist das Immunsystem der Tiere schwach. Damit möglichst wenige Kälber erkranken, wenn sie in den Mastanlagen mit fremden Artgenossen zu großen Gruppen zusammengeführt werden, bekommen die Tiere vorbeugend regelmäßig Antibiotika. Auch die meisten ökologisch wirtschaftenden Milchbetriebe geben ihre männlichen Kälber mangels Alternativen in konventionelle Mastanlagen ab – mit all den bekannten Nachteilen wie Antibiotika-Gabe, der Fütterung mit Milchaustauschern und nicht artgerechter Haltung.

Betroffen von dieser Praxis sind viele Tiere: In Deutschland gibt es etwas mehr als 4 Millionen Milchkühe, die jedes Jahr Nachwuchs bekommen (müssen), allein damit sie weiter Milch geben und die viel zu hohe Nachfrage an Milch- und Milcherzeugnissen sättigen können. Etwa die Hälfte der geborenen Kälber ist männlich. Für sie gibt es im industriellen System keine Verwendung. Auf ökologisch wirtschaftenden Betrieben stehen etwa 225.000 Milchkühe. Nur ein sehr kleiner Teil von deren rund 110.000 männlichen Kälbern wird auf Biobetrieben weiter gemästet.

Die Bruderkalb-Initiative geht neue Wege

Völkleswaldhof 3 (c) Anja Frey.JPGMit dieser Situation sind etliche Milchviehhalter*innen äußerst unzufrieden. Einige Bio-Landwirt*innen wollen nun zumindest im kleinen Rahmen etwas daran ändern und neue Wege ausprobieren. Die „Bruderkalb-Initiative“ in der Region Hohenlohe, an der bislang zehn Demeter- und Bioland-Milchviehbetriebe teilnehmen, hat zum Ziel, dass auch die männlichen Kälber zumindest die ersten drei Monate auf dem Biohof bleiben und wie ihre Schwestern artgerecht aufwachsen. Sie dürfen am Euter säugen, Gras und Heu fressen. Wenn die Stillzeit bei Mutter oder Amme nach etwa zwölf Wochen vorbei ist, kommen die Bullenkälber entweder auf Bio-Mastbetriebe oder sie werden in der Nähe geschlachtet und verarbeitet.

Anja Frey vom Völkleswaldhof, der im Landkreis Schwäbisch-Hall südöstlich von Heilbronn liegt, ist die Initiatorin des Projekts Bruderkalb. Schon seit etwa 20 Jahren dürfen die (weiblichen) Kälber auf ihrem Demeter-Hof in den ersten Monaten bei der Mutter bleiben und dort am Euter trinken – in den meisten Biobetrieben werden dagegen auch heute noch die Kühe vom Nachwuchs getrennt und die Kälber bekommen Milch aus dem Eimer. Ein Teil der männlichen Kälber aber wurden auch auf dem Völkleswaldhof früher in die konventionelle Mast verkauft, da nicht für alle genug Futter oder Platz da war. Diese auch für sie persönlich unbefriedigende Situation hat die Landwirtschaftsmeisterin vor etwa fünf Jahren geändert: Seitdem dürfen auch die Bullenkälber die ersten Monate bei der Mutter bleiben und werden anschließend entweder an einen nicht weit entfernt liegenden Bio-Mastbetrieb verkauft oder direkt geschlachtet.

Auf der Suche nach interessierten Metzger*innen und Gastwirt*innen

„Die Vermarktung von solchem Bio-Kalbfleisch ist eine große Herausforderung“, weiß Frey. Zum einen hat das Fleisch seinen Preis. „Ein Kalb, das am Euter saugt, trinkt in den ersten drei Monaten etwa 1.200 Liter Milch. Wird es mit dem Eimer gefüttert, ist es weniger als die Hälfte.“ Die Milch, die den Landwirt*innen im Verkauf fehlt, muss sowohl über den Milch- als auch über den Fleischpreis verrechnet werden. Zum anderen sieht das Schnitzel oder der Braten anders aus: Die Verbraucher*innen sind helles, fast weißliches Kalbfleisch gewohnt, das bei der umstrittenen Milchmast entsteht. Hier wird den Kälbern – teilweise auch unter Zwang – nur Milch eingeflößt. Wächst das Kalb aber bei der Mutter oder Amme auf, ahmt es sie schon früh nach, frisst auch ein bisschen Gras oder Heu und trinkt Wasser. Entsprechend bekommt das Fleisch eine kräftigere rosa Farbe.

In der Region Hohenlohe sind inzwischen nicht nur Milchviehbetriebe an der Bruderkalb-Initiative interessiert, sondern auch einige Metzger*innen, Gastwirt*innen und Köch*innen. Einer von ihnen ist Max Korschinsky, gastronomischer Leiter des Restaurants „Mohrenköpfle“ und Mitglied der Slow Food Chef Alliance. „Als ich mich mit der Thematik befasst habe, ist mir klar geworden, dass die Gastronomie hier ihren Beitrag leisten muss. Wenn einem das Tierwohl wichtig ist, geht es nicht an, zwar Milch und Käse zu verwenden, aber den Rest nicht.“

Verbraucher*innen honorieren die Bemühungen ums Tierwohl

Korschinsky hat bislang schon fünf Bruderkälber in seiner Restaurantküche zerlegt und verarbeitet. Er ist vor allem ein Fan der Schmorstücke, denn das zarte Kalbfleisch nimmt beim längeren Schmoren die Aromen gut auf. Auch die Gäste sind begeistert: „Das erste Tier hatte ich innerhalb von zehn Tagen fast komplett verkauft“, erzählt der Koch. Im seinem Restaurant gibt es zum Kalbfleisch eine eigene Speisekarte, auf der neben den Gerichten auch Informationen über die Bruderkalb-Initiative steht. „Wird die Geschichte dazu präsentiert, honoriert das der Verbraucher auch“, ist sich Korschinsky sicher. Und fügt hinzu: „Nur wenn wir eine dauerhafte Abnahme der Tiere garantieren können, wird das Projekt erfolgreich sein. Und nur dann können vielleicht bald noch mehr männliche Kälber artgerecht groß werden.“

Den Wurzeln auf der Spur

Bruderkalb (c) Sander Pitl.jpgMit der Wurzeltour am 31. Januar konnte Slow Food die Gäste auch auf weitreichende Folgen der industriellen Milch- und Fleischwirtschaft aufmerksam machen: Denn „Brüder“ sind im System der Überproduktion zunehmend zum Problem geworden. Während das bei den Bruderhähnen durchaus bekannt ist, wird es bei den Kälbern noch viel zu wenig diskutiert. Das möchte Slow Food ändern. Dazu Ursula Hudson, Vorsitzende von Slow Food: „Mit der Bruderkalb-Initiative machen wir auf eine Haltungsform von Kälbern aufmerksam, die noch neu und unendlich viel besser ist, als die weit verbreitete Kälbermast. Aber selbst ein solch artgerecht gehaltenes Kalb sollten wir nur selten und als etwas besonderes genießen. Und natürlich ist unser Wunsch, dass wir entsprechend auch mit Milch- und Milcherzeugnissen umgehen“.

Echte Vielfalt (c) Sander Pitl.jpgAndrea Lenkert-Hörrmann, Projektbeauftragte von Slow Food und Organisatorin des Abends ergänzt: „Es war uns auch sehr wichtig, sämtliche Teile des Bruderkalbs zu verarbeiten. Das setzt natürlich ein bestimmtes Können der Küchenchefs voraus. Es ist eine dringend notwendige Inwertsetzung der Bullenkälber, die im Schatten unserer Wahrnehmung vielerorts als ‚Abfallprodukt‘ der Milchwirtschaft zu Schleuderpreisen verkauft werden oder als Hundenahrung enden. Dies ist für Erzeuger*innen, die eine artgerechte mutter- oder ammengebundene Kälberaufzucht betreiben, ein unhaltbarer Zustand. Umso mehr, wenn es sich bei ihren Tieren um alte Rassen oder Zweinutzungsrassen handelt. Als regionale Initiative sind erfreuliche Effekte des ‚Bruderkalbs‘ zudem kurze Transportwege für die Tiere, kurze Lieferwege und die Wertschöpfung und Wertschätzung der Erzeuger*innen in der Region“.

Mehr über das Slow Food Deutschland Jahresthema: #GuteMilch

Mehr über die: Slow Food Wurzeltouren.

Text: Birgit Schumacher





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