Neue Gentechnik
Funktionsweise neuer GVO
Moderne Technologien ermöglichen Anpassungen am Erbgut, welche dazu führen, dass bei Pflanzen, Tieren, Bakterien und Pilzen neuartige Merkmale erzeugt werden können. Der Einsatz richtete sich besonders darauf, bei Kulturpflanzen zur Steigerung der Insektenresistenz und Herbizidtoleranz beizutragen. Außerdem findet er bei Mikroorganismen zur Erzeugung von Enzymen statt. Organismen mit auf auf diese Weise verändertem Erbgut werden als genetisch veränderte Organismen (GVO ) bezeichnet. Wenn Lebens- und Futtermittel GVO enthalten, daraus bestehen oder durch sie hergestellt werden, werden sie als genetisch veränderte (GV-) Nahrungs- bzw. Futtermittel ausgewiesen (efsa.europa.eu).
Neue Gentechniken, Gentechnik 2.0 oder Genome Editing fassen begrifflich neue gentechnische Verfahren zusammen. Darunter können CRISPR/Cas, ODM (Oligonukleotid-gesteuerte Mutagenese) oder Zinkfinger-Nuklease zählen. Im Vergleich zu 'alten' Gentechniken, welche fremdes Erbgut durch Bakterien oder Gen-Kanonen in die Zelle gebracht haben, wobei zufällig blieb, wo im Erbgut die eingefügte DNA landete (die Pflanzen mit erfolgreichem Ergebnis mussten mühsam festgestellt werden), gelangt bei den neuen Techniken die erwünschte DNA-Anpassung zwar in ähnlicher Weise in die Zelle, dort übernimmt dann aber ein Bote, um die gewünschte Stelle im Erbgut zu erreichen. Dort wird der Reparaturmechanismus der Zelle, welcher die eingebrachte DNA-Änderung einbauen soll, dadurch ausgelöst, dass Enzyme in den DNA-Strang schneiden. Tatsächlich sind die neuen Gentechniken weniger zielgenau und nebenwirksamsarm, als oft behauptet wird. Richtigerweise stellen sie neue Möglichkeiten der Erbgutänderung dar und beschleunigen die Entwicklung gentechnischer Veränderungen. Hierdurch steigert sich allerdings die Gefahr, dass keine rechtzeitige und strenge Regulierung stattfindet und die so erzeugten Produkte ohne ausreichende Risikoüberprüfung auf den freien Markt eingebracht werden (keine-gentechnik.de). Ohne ausreichende Risikoüberprüfung würde aber das in der EU geltende Vorsorgeprinzip ausgehebelt und es bestünde die Gefahr, dass mögliche unvorhergesehene Auswirkungen auf die Umwelt entstehen und die GVO, wenn erstmal aus der Regelung herausgelassen, nicht zurückgeholt werden könnten.
In den Rechtsordnungen der Europäische Union wird zwischen rechtlich zugelassenen und nicht zugelassenen GVO unterschieden. Vor der Zulassung verlangt das europäische Gentechnikrecht ereignisspezifische Methoden zum Nachweis, zur Identifizierung und zur Quantifizierung von Gentechniken/GVO und den auf diesem Wege erzeugten Lebens- und Futtermitteln (Richtlinie 2001/18/EG und Verordnung (EG) Nr. 1829/2003) (food.r-biopharm).
Grundlegende Informationen zu neuen GVO
Am 25. Juli 2018 entschied der Europäische Gerichtshof, dass Lebewesen, die durch neue Züchtungstechniken wie die Genschere CRISPR/Cas entstanden sind, wie bisherige gentechnisch veränderte Organismen behandelt werden sollen und somit unter das EU-Gentechnikrecht fallen. Aktuell setzen Industrievertreter und mehrere EU-Mitgliedsstaaten EU-Entscheidungsträger unter Druck, neue Gentechnikverfahren aus dem EU-Gentechnikrecht auszuschließen.
Die neue Gentechnik gefährdet die biologische Vielfalt und Ernährungssicherheit
Der Vorschlag der EU-Kommission zur Deregulierung neuer GVO wurde zusammen mit Maßnahmen zur Überprüfung der Bodengesundheit vorgelegt. Die Kommission bringt vor, dass neue GVO dazu beitragen werden, den Einsatz von Pestiziden und chemischen Düngemitteln zu verringern. Die Degradierung der Böden ist jedoch nicht nur auf den Einsatz chemischer Pestizide und Düngemittel zurückzuführen, sondern zu einem großen Teil auf Monokulturen und den Verlust biologischer Vielfalt, den der aktuelle GVO-Vorschlag nur noch verstärken würde.
Genau wie die alte Generation von GVO greifen auch die neuen GVO, u. a. die CRISPR-Technologie, in die Biodiversität und die Gesundheit der Böden auf den europäischen Feldern ein. Ihr ungeprüfter Einsatz würde zu mehr Monokulturen industrieller Landwirtschaft mit patentiertem Saatgut führen und die Vielfalt von Arten und Sorten weiter reduzieren. Diese biologische Vielfalt aber ist Grundlage unserer Ernährung und sichert sie. Der Vorschlag der EU-Kommission, neue GV-Pflanzen Sicherheitsprüfungen zu entziehen, alarmiert nicht nur Slow Food. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die neuen GVO weit weniger präzise sind als behauptet und genetische Fehler verursachen können. Forscher*innen fordern, diese unbeabsichtigten Mutationen (DNA-Schäden) wissenschaftlich zu untersuchen. Wenn die neue Gentechnik erst einmal im Umlauf ist, sei es unmöglich, die Kontaminierung von Kulturen in der Umgebung und ihre weitere Verbreitung zu verhindern.
Mehr Konzernmacht durch Deregulierung neuer GVO
Während die großen Bauernverbände sowie konservative Politiker*innen den Zuspruch europäischer Landwirt*innen gegenüber der neuen Gentechnik betonen, kritisiert Slow Food die damit weiter wachsende Macht großer Agrochemiekonzerne über unser Lebensmittelsystem sowie die Abhängigkeit der Landwirtschaft von Patenten auf Saatgut. Für Bäuerinnen und Bauern, die nicht gentechnisch veränderte Organismen anbauen, wird es schwieriger und kostspieliger, ihre Lebensmittel gentechnikfrei zu erzeugen und Verunreinigung auszuschließen. Selbst wenn neue GVO im ökologischen Landbau nicht zugelassen werden sollen, besteht ein weiteres Problem des Kommissionsvorschlags darin, dass es für gentechnikfrei und ökologisch arbeitende Landwirt*innen sehr schwierig und kostspielig werden wird, zu gewährleisten, dass ihre Lebensmittel frei von GVO sind, da ein ernsthaftes Kontaminationsrisiko besteht, während die Rückverfolgbarkeit durch diesen Vorschlag ausgehöhlt wird.
Aus dem eigenen Netzwerk weiß Slow Food um den Wert agrarökologischer Lösungen. „Slow Food arbeitet jeden Tag daran, agrarökologische Lebensmittelsysteme zu fördern, die der Umwelt und der Landwirtschaft zugute kommen. Wir brauchen eine Politik, die die Landwirt*innen bei der Umstellung auf umweltfreundliche Praktiken begleitet und unterstützt, anstatt unbewiesene Patentlösungen zu fördern," so Madeleine Coste. Diesen Forderungen konträr gegenüber stehen Konzerninteressen sowie Stimmen aus der Landwirtschaft, die nicht bereit sind, durch das System verursachte Klimaschäden zu reduzieren.
Eine neue Untersuchung von Lighthouse Reports zeigt, dass hinter dem Zuspruch für Biotechnologie vor allem die europäische Lobbygruppe Copa-Cogeca steht. Copa-Gogeca behauptet, die Stimme der Landwirt*innen zu sein und 22 Millionen europäische Bäuerinnen und Bauern zu vertreten. Interviews mit 120 Landwirtinnen und Insidern, Politikerinnen, Akademikern und Aktivistinnen lassen Zweifel daran aufkommen, inwieweit der Verband kleine und mittlere Betriebe vertritt; der Verband steht eher für die großen industrialisierten Betriebe.
Die Haltung von Slow Food zu neuen GVO
Gentechnisch veränderte Organismen stellen weltweit eine Bedrohung für die Ernährungssouveränität, den Lebensunterhalt der Landwirt*innen sowie für die Umwelt und die biologische Vielfalt dar. GVO werden oft als Lösung für den Hunger und die Ernährungssicherheit dargestellt, aber bisher haben sie nicht den Nachweis erbracht, dass sie tatsächlich den Hunger verringern können. Ihre Entwicklung und Produktion dienen vielmehr den wirtschaftlichen Interessen multinationaler Konzerne und tragen dazu bei, die Kontrolle der Unternehmen zu stärken, statt die wachsende Bevölkerung zu ernähren. Dies hat zur Folge, dass die Existenzgrundlage der Kleinbäuer*innen und ihre Freiheit, zu wählen, was sie produzieren, bedroht ist. Darüber hinaus tragen GVO zu einem Landwirtschaftssystem bei, das auf Monokulturen und einem hohen Einsatz von Pestiziden basiert, was sowohl die biologische Vielfalt als auch die Gesundheit der Landwirt*innen gefährdet.
Obwohl es in der EU nur wenige Genehmigungen für den Anbau von GVO gibt, ist Europa nicht "GVO-frei". Die Einfuhr von GVO-Mais und -Soja zur Fütterung von Tieren, die in der EU gezüchtet werden, sowie den Einsatz neuer Techniken des Gen-Editings (neue GVO) sind Themen, gegen die Slow Food weiterhin unermüdlich kämpft. Slow Food setzt sich für pestizid- und gentechnikfreie Lebens- und Futtermittel ein. Wir stehen für eine Zukunft ohne Pestizide und neue GVO ein, und stellen den Wert von Lebensmitteln und die Würde der Erzeuger in den Mittelpunkt. Slow Food warnt vor jeglicher Aufweichung der EU-Vorschriften über die obligatorischen Sicherheitsbewertungen und die Kennzeichnung neuer GVOs und fordert die Einhaltung strikter Zulassungsverfahren und eine Risikobewertung auch bei neuen Gentechnik-Pflanzen. Aktuell drängt die Agrar- und Lebensmittellobby die Europäische Union dazu, neue Gentechnikverfahren zu deregulieren, um deren Herstellung zu erleichtern. Ein solcher Schritt würde die Wahlfreiheit von Verbraucher*innen, sich gentechnikfrei zu ernähren, aushebeln. Lebensmittel, die durch neue Gentechnikverfahren entstanden sind, könnten so über die Hintertür auf europäische Teller gelangen und die Regulierungen, die für GVO in der EU normalerweise gilt, umgehen. Das würde dazu führen, dass Gentechnisch veränderte Organismen (GVO) ohne unabhängige Risikoprüfung und Kennzeichnungspflicht auf den Saatgut- und Lebensmittelmarkt kommen. Eine gentechnisch veränderte Tomate könnte dann nicht mehr von herkömmlich gezüchteten unterschieden werden. Seit Jahren wird die Zulassung und Kennzeichnung von GVO in der Europäischen Union nach dem Vorsorgeprinzip geregelt: Nur zugelassene GVOs dürfen auf den Markt, nachdem sie auf ihre Risiken geprüft wurden. Sie müssen gekennzeichnet und rückverfolgbar sein. Das will die Europäische Kommission jetzt für neue Gentechniken aufweichen.
Nicht mit uns! Über 80 Prozent der Bürger*innen der EU wollen auch in Zukunft wissen, ob in ihrem Essen Gentechnik ist und sie wollen eine Risikoprüfung von GVO-Produkten. Bäuer*innen fordern das Recht, weiterhin selbstbestimmt gentechnikfrei erzeugen zu können. Eine Deregulierung neuer Gentechniken wäre ein Frontalangriff auf unsere Wahlfreiheit und demokratische Selbstbestimmung darüber, was wir züchten, anbauen und essen. Neue Gentechnik-Methoden, insbesondere die CRISPR/Cas Technologie, zur Veränderung von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen bergen auch neue und unabschätzbare Risiken. Der oberste Gerichtshof der EU hat deshalb 2018 festgestellt: Auch neue Gentechnik ist Gentechnik und ist als solche zu regulieren. Jetzt werden in Brüssel die Weichen gestellt. Deshalb fordern wir die Verantwortlichen in der Politik, insbesondere Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir und Bundesumweltministerin Steffi Lemke auf, sich für die Beibehaltung der Regulierung auch der neuen Gentechniken einzusetzen. Das umfasst: Kennzeichnung, Risikoprüfung, Zulassung, Rückverfolgbarkeit, Transparenz, Monitoring und Haftung.
Unsere Forderungen:
- Auch neue gentechnisch veränderte Organismen (GVO) müssen so gekennzeichnet werden, dass Verbraucher*innen, Bäuer*innen, Züchtung, Handel und Verarbeitung sie jederzeit erkennen und vermeiden können.
- Auch neue GVO müssen weiterhin entsprechend dem EU-Vorsorgeprinzip einer Risikoprüfung und -bewertung unterzogen werden.
- Rückverfolgbarkeit und Nachweisverfahren müssen eine Zulassungsvoraussetzung für GVO bleiben, ebenso die Rückholbarkeit. Wer GVO auf den Markt bringt, muss für Risiken und Folgeschäden haften.
- EU, Bund und Länder müssen mehr Forschung zu Umwelt-, Biodiversitäts- und Gesundheitsrisiken neuer GVO, zu ihren sozio-ökonomischen Auswirkungen sowie zur Entwicklung genereller Nachweisverfahren fördern.
- Um eine vielfältige, klimafreundliche und sozial gerechte ökologische und bäuerliche Landwirtschaft voranzubringen, sollten vor allem Forschung und Weiterentwicklung von bewährten und wirksamen gentechnikfreien agrarökologischen Methoden gefördert werden.
Madeleine Coste, Slow-Food-Direktorin für Advocacy, kritisiert das aktuelle EU-Vorhaben: „Der vorliegende Vorschlag zur Deregulierung neuer Gentechnik opfert die Rechte von Landwirt*innen, Verbraucher*innen sowie der Umwelt. Ein solches Vorhaben kommt einzig der Agrarindustrie entgegen. Die Risiken für Mensch und Planet werden dabei völlig außer Acht gelassen. Er ist ein echter Rückschlag für den Übergang zur Agrarökologie, den wir dringend brauchen.“
Dr. Nina Wolff, Vorsitzende von Slow Food Deutschland zum aktuellen Vorschlag der EU-Kommission: „Für Slow Food steht fest: Die neue Gentechnik steht im Widerspruch zu den Zielen des Green Deal der EU. Neue genomische Techniken bieten keine umfassende Lösung für Probleme wie Klimawandel und Biodiversitätsverlust. Vielmehr behindern sie Lösungen, indem sie die gesellschaftlich und politisch gewollte ökologische Erzeugung von Lebensmitteln erschweren.“
Slow Food fordert das Europäische Parlament und die nationalen Umweltminister*innen auf, das Recht der Verbraucher*innen und Landwirt*innen auf Wahlfreiheit zu schützen und den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Freisetzung ungeprüfter GVO abzulehnen.
Aktueller Stand in der Europäischen Union
Am 05. Juli 2023 hat die Europäische Kommission einen aus Sicht von Slow Food besorgniserregenden Vorschlag für einen EU-Rechtsrahmen zur Deregulierung neuer GVO (neuer gentechnisch veränderter Organismen/neuer genomischer Techniken) veröffentlicht: Die Mehrheit der neuen Gentechnik wäre damit von den aktuell bestehenden GVO-Anforderungen ausgenommen, einschließlich ihrer Risikobewertung für die menschliche Gesundheit und die Umwelt sowie der Rückverfolgbarkeit über die gesamte Lebensmittelwertschöpfung und der Kennzeichnung von Produkten, die neue GVO enthalten. Dieses Vorhaben hätte einschneidende und mutmaßlich negative Auswirkungen auf die biologische Vielfalt, unsere Lebensmittelerzeugung und entsprechend auf die Landwirt*innen und Verbraucher*innen.
Transparenzverlust durch neue Vorschriften für neue GVO
Bislang ist die Kennzeichnung von Obst und Gemüse, das mit Gentechniken hergestellt wurde, obligatorisch. Umfragen zeigen, dass Bürger*innen dies auch weiterhin wünschen. Mit dem Vorhaben der Europäischen Kommission jedoch würde die obligatorische GVO-Kennzeichnung für die meisten neuen gentechnisch veränderten Pflanzen abgeschafft. Für Verbraucher*innen wäre nicht mehr ersichtlich, ob ihre Lebensmittel GVO enthalten oder nicht. Die Deregulierung widerspräche nicht nur dem Wunsch der EU-Bürger*innen, sondern auch dem Recht der Verbraucher*innen auf Information, das im Vertrag über die Europäische Union verankert ist. Anfang 2023 übergab eine Koalition von über 50 Organisationen aus sieben EU-Ländern der Europäischen Kommission eine von 420.000 Menschen in der EU unterzeichnete Petition, die die Beibehaltung von Regulierung und Kennzeichnung neuer GVO fordert.